Der US Supreme Court untergräbt mit seiner Entscheidung vom 1. Juni 2023 das Streikrecht in den USA. Im Fall Glacier Northwest, Inc. v. Teamsters (No. 21-1449) entschied das Gericht, dass streikende Arbeitnehmer:innen für Schäden am Eigentum des Unternehmens haftbar gemacht werden können. Dem Gesetz folgend haben Arbeitnehmer:innen „angemessene Vorsichtsmaßnahmen“ zu treffen, um solche Schäden abzuwenden. Dieser Begriff wurde nun so weit ausgedehnt, dass potenziell jeder entstandene Schaden übertragen werden kann.
Gestreikt hatten Lastwagenfahrer:innen des Betonherstellers Glacier Northwest, nachdem ihr Tarifvertrag ausgelaufen war. Sie verweigerten den Auftrag, bereits beladene Lastwagen auszufahren und durchbrachen damit die Lieferkette, in der Beton durchgängig vorbereitet und ausgeliefert wird. Der Beton trocknete aus und Glacier Northwest machte geltend, er sei unbrauchbar und sie sei dadurch geschädigt worden. Daraufhin reichte das Unternehmen Klage in Washington ein, die Gewerkschaft legte ihrerseits Beschwerde beim National Labor Relations Board (NLRB) ein. 1935 wurde das NLRB eingerichtet, um in einem außergerichtlichen Verfahren Tarifstreitigkeiten zu lösen; Klagen gegen Streiks sollten demnach explizit nicht vor Gericht verhandelt werden. Die NLRB sprach sich für die Gewerkschaft aus; auf diese Entscheidung verweisend wies der Washington Supreme Court die Klage ab, da die Entscheidung des NLRB Vorrang habe und ein nachträgliches Gerichtsverfahren ausschließe. Der US Supreme Court bezog sich nun darauf, dass sich anerkanntermaßen nur dann Schutz für Gewerkschaften entfalte, sollten die Arbeitnehmer:innen ihrerseits „angemessene Vorsichtsmaßnahmen“ (reasonable precautions) getroffen haben, um Schaden von ihren Arbeitgeber:innen abzuwenden. Diese auslegungsbedürftige Formulierung deutete der Supreme Court nun so, dass Arbeitnehmer:innen jeden vorhersehbaren Schaden abzuwenden haben, bevor sie mit dem Streik beginnen. Den Sinn des Streikrechts, Arbeitgeber:innen durch wirtschaftliche Schäden unter Druck zu setzen und damit die natürlich schwächere Verhandlungsposition der Arbeitnehmer:innen zu stärken, lässt der Supreme Court dabei außer acht – und untergräbt das Streikrecht damit so erheblich, dass es letztlich ins Leere läuft.
Beachtlich ist dabei insbesondere, dass die Entscheidung mit einer Mehrheit von 8:1 getroffen wurde – in dem Bekenntnis zu einem die demokratische Teilhabe untergrabenden Kapitalismus findet das politisch gespaltene Amerika somit erschreckende Einigkeit.
Jonas Heilemann, Münster