Als 2010 in Frankreich das Rentensystem reformiert und das reguläre Renteneintrittsalter von 60 auf 62 Jahre angehoben werden sollten, liefen große Teile der Bevölkerung Sturm. Wie in Frankreich üblich, wenn es um Beschränkungen des Sozialstaats geht, kam es bei den folgenden Demonstrationen immer wieder zu Ausschreitungen. Als am 21. Oktober in Lyon erneut eine große Demonstration stattfand, entschied sich die Polizei, eine größere Menschenmenge zu Beginn der Demo am Place Bellecour zu kesseln. Sie vermutete auf dem Platz diverse potenziell gewaltsame Störer:innen und wollte diese daran hindern, sich der Demonstration anzuschließen.
Mehrere Betroffene klagten gegen die Maßnahme, hatten allerdings vor französischen Gerichten keinen Erfolg. Doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ihnen nunmehr recht gegeben: Der französische Staat habe sie in ihrem Recht auf Bewegungsfreiheit (Art. 2 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK) und ihrer Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK) im Lichte der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) verletzt (Auray et autres c. France, no. 1162/22, 8. Februar 2024).
In seinem Urteil stellt der EGMR fest, zum damaligen Zeitpunkt habe in Frankreich keine ausreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für den Polizeikessel bestanden. Ohne gesetzliche Präzisierung der Grenzen und Voraussetzungen eines Polizeikessels bestehe jedoch kein ausreichender Schutz vor willkürlichen Eingriffen in die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit der gekesselten Personen.
Dieses Problem wurde in Frankreich mittlerweile behoben. Das französische Innenministerium hat 2021 eine aktualisierte Version ihres „schéma national du maintien de l’ordre“ (SNMO) herausgebracht, das in Reaktion auf die Gelbwesten-Proteste entstanden war. Dort sind Polizeikessel explizit vorgesehen. Zum Zeitpunkt des vor dem EGMR verhandelten Falles gab es das SNMO jedoch noch nicht.
Was das Urteil für die Durchführung von Polizeikesseln in anderen Ländern bedeutet, wird sich erst zeigen müssen. In Deutschland werden Polizeikessel auf unterschiedliche rechtliche Grundlagen gestützt. Häufig muss hierfür das Strafrecht herhalten (so etwa im Blockupy-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 2. November 2016, 1 BvR 289/15). Ein Rückgriff auf das Polizeirecht kommt hingegen wegen der sogenannten „Polizeifestigkeit“ des spezielleren Versammlungsrechts nur infrage, wenn die Versammlung von der Polizei bereits aufgelöst wurde (klassisch hierzu VG Hamburg, Urt. v. 30.10.1986, 12 VG 2442/86).