Heft 3 / 2001:
Datenspuren
Überwachung in der digitalen Welt
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"Der Heinrichplatz war grün, so viele Bullen waren da"
Auszüge aus den Protokollen der PolizeibeobachterInnen vom 1. Mai 2001 in Berlin
 

Großräumige Versammlungsverbote und oft unverhältnismäßige Gewalteinsätze der Polizei stellen das Demonstrationsrecht immer wieder in Frage. Um nicht allein auf die Medien- und Polizeiberichterstattung angewiesen zu sein, organisiert das Komitee für Grundrechte und Demokratie seit 1981 die Beobachtung von Demonstrationen. Gut zu erkennen an ihren gelben Schals und grünen Ausweisen waren am 1. Mai 2001 etwa siebzig Frauen und Männer in Berlin-Kreuzberg unterwegs. Aus ihren Protokollen dokumentieren wir hier einige Auszüge.

Protokoll von C. V. und F. K.

17.32 Uhr
Ankunft Mariannenplatz: Es befindet sich keine sichtbare Polizeipräsenz auf dem Platz, vielmehr herrscht friedliche Feststimmung ohne jegliche Aggressivität. Eine Band spielt vor der Kirche; das Publikum besteht aus einer "bunten Mischung" (Familien mit Kindern, viele Jugendliche, Kiezbewohner, einige Punks...).

18.07 Uhr
Es erfolgt eine Durchsage der Band: "Die Bullen haben gerade den Heinrichplatz mit Wasserwerfern geräumt". Das Publikum wird unruhig, einige Leute gehen. Es ist weiterhin keine Polizeipräsenz sichtbar.

18.10 Uhr
Die Band sagt gerade die Nachfolgeband an, als der Veranstalter des Festes (?) das Mikro übernimmt und die Veranstaltung für beendet erklärt. Das Publikum habe die Möglichkeit, den Platz zu verlassen (in Richtung Norden, auf beiden Seiten der Kirche vorbei).

18.12 Uhr
Es entsteht Panik, die Menschen rennen in Richtung Kirche. Polizeikräfte (233) stürmen auf den Platz und verfolgen einzelne Personen. Die Polizisten sind nur mit Helm ausgestattet, ohne Schlagstöcke und Schilder, greifen aber relativ brutal einzelne Personen an, die in Richtung Kirche zu flüchten versuchen. Es kommt zu mindestens drei Festnahmen, dabei werden zwei Demonstranten halb entkleidet (Hosen). Vereinzelte Flaschen und Dosenwürfe auf die Polizei, Festteilnehmer versuchen die meist jugendlichen Werfer davon abzuhalten ("Hey, spinnt Ihr, hört auf!"). Dabei entstehen kurze Rangeleien. Die Festbuden werden abgebaut. Der Platz zwischen Bühne und Technikhäuschen ist bis auf den Pulk von Polizisten, die Personen festnehmen, und Fotografen leer.

18.25 Uhr
Die Situation eskaliert zusehends: Hinter die Bühne geflüchtete Menschen werden von einer weiteren Einheit (231) mit Schlagstöcken attackiert. Gegen einzelne Demonstranten wird ohne einen uns ersichtlichen Grund recht wahllos vorgegangen, es kommt zu weiteren Festnahmen.

Protokoll von J. E.

17.39 Uhr
Auf Flaschenwürfe am Heineplatz rückt EH 232 Richtung Mariannenplatz vor. D3, D6, D62 auf Heineplatz postiert. 11 Wannen Richtung M-Platz sowie EH 111+232 Richtung Heineplatz. EH 231 auf Heineplatz. Genaueren Tatvorgang wie die Steinwürfe begannen, konnte ich nun leider nicht verfolgen. aber m. E. auszuschließen, daß agents provocateurs mit Steinwürfen anfingen, weil Autonome meist sehr jung, wenig vermummt und z. T. als Pärchen.

17.46 Uhr
Feuerwehr Richtung Naunynstr. Richtung Schlesisches Tor. Naunystr. / Mariannenstr. Massive Stein- und Flaschenwürfe auf Bullen, die sich zurückziehen. Ansturm d. Autonomen auf Bullen, Rückzug der Bullen Richtung Naunystr. 2. Ansturm (äußerst heftig kann ich nur sagen, ich stand nämlich mit der Presse mitten im Scherben und Steinhagel), ca. zwei Leuchtraketen.

17.52 Uhr
25 Wannen rücken an Richtung M. Platz, Wasserwerfer (WW) EH 222, 221, 253, Räumfahrzeug 22. Ein verletzter Bulle wird von seinen Kollegen in Wanne getragen.

17.58 Uhr
WW erreichen Waldemarstr. EH 221 / 223 Abzug d. Bullen Richtung Heineplatz u. Abzug d. WW Richtung Waldemarstr.

17.59 Uhr
Ansturm d. Autonomen Richtung Heineplatz, schlagen Bulen 2mal zurück Richtung Heineplatz.

18.00 Uhr
Ständige Steinwürfe 3 Wannen in Stellung (Kriegsatmosphäre, Autonome beglückwünschen sich zu ihren gelungenen Angriffen). WW rückt an, setzt ein, weiter Steine.

18.08 Uhr
WWeinsatz direkt an Waldemarstr. In drei Richtungen, ein Auto wird umgekippt, EH stürmen M.Platz (20erEH zu sehen)

18.23 Uhr
1 Festnahme Ecke Muskauer, mehrere Beamte schleifen einen auf dem Boden, sein Oberkörper wird dabei entblößt, obwohl Straße mit Scherben übersät.

18.25 Uhr
Stürmung des M-Platzes aus Richtung Mariannenstr.

18.33 Uhr
Beginnt aus Richtung Muskauerstr. Ein einstündiger völlig sinnloser WWeinsatz. Die Leute machen keine Anstalten zu gehen, Steinwürfe auf WW halten an. WW pausieren nur kurz, um ausgetauscht zu werden. Den Ständebetreibern bleibt keine Zeit die Stände aufzuräumen, sie werden durch den starken Wasserstrahl zuerst beschädigt und dann z. T. als Barrikaden benutzt von Demonstranten

Protokoll von S. S.

Kurz vor 18.00 Uhr
Die Beamten haben aus der Oranienstr. kommend alle zwischen Heinrichplatz und Mariannenplatz befindlichen Personen auf den Mariannenplatz getrieben und dann im Laufschritt versucht, den Mariannenplatz zu stürmen - auf dem immer noch völlig friedlich das Straßenfest ablief. Mittlerweile sind dort durch die Aufforderungen der Polizei und durch das Hintreiben der Leute, die am Heinrichplatz waren, sehr viele Menschen dichtgedrängt. Dort gab es auch nicht die "200 Autonomen", die die Polizei angeblich vergeblich eingekesselt hat und die dann geflüchtet seien. Es ist definitiv nicht so, daß das "Teilnehmer einer verbotenen Versammlung" waren (wie Polizei, SFB und Spiegel Online berichteten), es war ganz normales Straßenfestpublikum.
Daraufhin, und erst daraufhin, kam es zu Steinwürfen, denen durch Einsatz von Wasserwerfern begegnet wurde, woraufhin die Situation eskalierte. Am Mariannenplatz wird die Polizei daraufhin massiv mit Steinen und Flaschen beworfen, zieht sich zurück - und kommt mit 4-6 Wasserwerfern wieder - während das Straßenfest noch in vollem Gange ist. Daraufhin kommt es zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei: Brennende Autos, CS-Gas-Einsatz, willkürliche Festnahmen und Räumung des Mariannenplatzes (inklusive Volksfest), Einkesselung.
Was danach u. a. noch so passierte: Brennende Autos wurden 20 Minuten lang nicht gelöscht, obwohl Wasserwerfer genau davor stehen - Bilder, die die Stimmung anheizen. Neben dem brennenden weißen Golf, der von der Polizei in Richtung Mariannenplatz geschoben worden ist mit einem Räumpanzer, standen teilweise 4 Wasserwerfer, die nicht gelöscht haben. Im Gegenteil: Die Feuerwehr wurde von Demonstranten durchgelassen und von der Polizei am Einsatz gehindert und zurückgeschickt - stattdessen kam dann der nächste Wasserwerfer.

18.39 Uhr
Eine Gruppe von Polizisten nimmt in einem Hinterhof Waldemarstr/Mariannenstr. zwei Personen in Gewahrsam, läßt eine Person sofort wieder gehen. Als ich (Presseausweis deutlich sichtbar) fotografieren will, werde ich aus dem Hof vertrieben. Die zweite Person wird von zwei Polizisten in die Mangel genommen, muß sich nach vorne beugen und die Polizisten stützen sich auf dem Festgenommenen ab (mehrere Minuten). Als ich Polizisten aus der Gruppe anspreche, bekomme ich von einem die Antwort: "Wenn Dir das nicht paßt, bekommst Du meine Dienstnummer, dann kannst Du Dich beim Polpräs beschweren." Gab sie mir und sagte: "Paß auf, was Du schreibst, sonst zeige ich Dich an wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Behinderung eines Polizeieinsatzes".

Protokoll von C. S.

19.34 Uhr
Standort: Mariannen/Waldemarstr., direkt vor der Eckkneipe. Geschehen: ca. fünf Beamte nehmen einen Mann (etwa Mitte 20) brutalst fest. Neben einem Straßenschild "Waldemarstr.", an das ein Fahrrad gekettet ist, werfen sie ihn auf den Boden. Die Beamten kamen aus einer Berliner "Wanne", die mit E6 gekennzeichnet war. Die BeamtInnen von der 25. (?) versuchen, die Festnahme abzuschirmen, trotzdem sind überall Menschen. Ich spreche eine Beamtin an, daß sie dafür sorgen solle, daß der Mann nicht weiter gewürgt wird. Der Festgenommene liegt auf dem Boden, ein Beamter rammt ihm den Knüppel in den Nacken und drückt den Festgenommenen mit zwei weiteren Beamten zu Boden. Er würgt ihn. Der Festgenommene hat Plastikhandschellen angelegt bekommen. Er wehrt sich zu keinem Zeitpunkt. Ich sage der Beamtin, die nicht reagiert und mich nicht durchlassen will, daß sie sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig macht, wenn sie nicht dafür sorgt, daß der Festgenommene ordnungsgemäß behandelt wird. Sie dreht sich kurz um, macht aber sonst nichts. Der Festgenommene wird hochgerissen und abgeführt.

Protokoll von M. E.

20. 54 Uhr
Kleines Sträßchen an der Thomaskirche mit Bauwagen. Versteckter Riegel zwischen den Bauwagen. Hier nimmt die Polizei selektiv überraschend zwei Leute fest bzw. läßt zwei andere nach Rucksackkontrolle durch. Die Festgenommenen sitzen mit Kabelbinder gefesselt links um die Ecke auf der Straße. Auf Nachfrage erklärt ein P.: "Hier werden nach Augenschein die Radikalen von den Friedlichen getrennt." Hier werde ich als Demobeobachter nicht akzeptiert, will nicht auf meinen Presseausweis zurückgreifen, den er akzeptieren würde. Platz/Weg westlich entlang der Thomaskirche (nördlicher Mariannenplatz). EHU 23. Bilden einen Kessel, in dem viele Menschen (Zahl in der Dunkelheit und bei der extrem unfreundlichen Absperrung kaum exakt schätzbar) festgehalten werden.

21.01 Uhr
233er, 13er, BGS. Grobe Festnahme. Mann (K.) wälzt sich am Boden schreit Hilfe, Hilfe. Kamera da und ein dutzend Menschen. Kleiner Tumult. K. kommt in den Kessel. Maßnahme direkt geleitet durch den Zugchef (mit dem schwarzen Balken auf dem Helm).
Presse und Beobachter werden jetzt abgedrängt von einem einzelnen (später meint der P., dies sei ein Platzverweis gewesen; davon ist hier allerdings nicht die Rede). 13er ziehen auf und beginnen einen zweiten dichten Riegel zu bilden. BGS besetzt den Fußweg an der Kirche.

21.14 Uhr
Der zweite Riegel (BGS) akzeptiert die Demobeobachter nicht und wird so zur Sichtbarriere und Zugangssperre ca. 15 Meter vor der Polizeikette, die den eigentlichen Gefangenenkessel bildet. Der Kessel ist von außen jetzt nicht mehr beobachtbar. Drei weitere BeobachterInnen sitzen aber nach wie vor im Kessel und werden nicht als Beobachter respektiert, geschweige denn hinausgelassen. Der Kessel selbst wird hell erleuchtet, sowohl durch Strahler vom Boden wie durch Licht vom Helikopter. Den Leuten wird per Lautsprecher verkündet, daß sie alle wegen Landfriedensbruch dran sind. Es wird viel gefilmt von der Polizei. Abtransporte sind von unserer Seite nicht sichtbar.

21.15 Uhr
Platz/Weg nordöstlich entlang der Thomaskirche. Weiterer Kessel, die Polizei kommunikativ, gibt Auskunft über die Situation und wo die erkennungsdienstlichen Maßnahmen und der Abtransport laufen. Auch kann ich hier über den Riegel mit Leuten im Kessel sprechen.

ca. 21.40 Uhr
Kessel westlich der Kirche. Wir schauen noch einmal an den anderen Kessel. Dort erkennt mich ein P. wieder und erklärt mir, ich habe bereits einen Platzverweis bekommen und sollte mich verziehen. Ein erbärmlich heulender Hund wird nicht zu seinem Herrchen im Kessel durchgelassen. Herrchen ist angeblich sehr betrunken. Eine kräftige Mutter wird nicht an den Kessel gelassen, um nach ihrem Sohn zu sehen.

22.00 Uhr
25er strömen von Süd-West über den Mariannenplatz und scheinen zunächst nur die kleine Wagenburg im Sinn zu haben, dann aber auch uns südlich des westlichen Kessels. Wir werden ziemlich grob abgedrängt in Richtung Mariannenstr., wo wir uns durch die Wrangelstr. entfernen sollen.

Weiterführende Literatur:

Arbeitsgemeinschaft "Gegen Polizeigewalt" / Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Dokumentation der Demonstrationsbeobachtung am 1. Mai 2001 in Berlin (zu bestellen beim Komitee für Grundrechte und Demokratie, Aquinostr. 7-11, 50670 Köln, email: Grundrechtekomitee@t-online.de)
Griebenow, Olaf / Mundt, Alain, 1. Mai 2000, Berlin-Kreuzberg: Von Deeskalationstaktik keine Spur, in: Müller-Heidelberg, Till / Finck, Ulrich / Steven, Elke / Rogalla, Bela (Hrsg.), Grundrechte-Report 2001, Reinbek 2001