|
Joseph Arpaio kann zufrieden sein: Rund um den Globus kennt man den geltungshungrigen
Siebzigjährigen, der sich selbst "Amerikas härtester Sheriff" nennt. Wiederholt
haben auch deutsche Medien über seinen Strafvollzug nach Cowboy-Art berichtet:
ein ausgefeiltes System von Demütigungen, zu dessen erklärten Zielen es
gehört, die Kosten für den Steuerzahler möglichst gering zu halten. "Der
Gulag von Arizona", überschrieb der Spiegel einen Artikel, in dem er ein
stacheldrahtumzäuntes Gefangenenlager aus Zelten vorstellte, das Arpaio
in der Wüste errichten ließ. 1 2000
Häftlinge, brüstet sich der Sheriff, könne er hier unterbringen, ohne
kostspielige Gebäude bauen zu müssen. Und auch an anderer Stelle sei es
ihm gelungen, die Ausgaben zu senken: Die Verpflegungskosten habe er auf
täglich 40 US-Cent pro Häftling gedrückt. Das ist ein Drittel der Futterkosten
für einen Polizeihund - möglich macht es Arpaios Entscheidung, abgelaufene
und teilweise verdorbene Nahrung auszugeben.
Das böse Wort vom Gulag geistert immer häufiger auch durch US-amerikanische
Veröffentlichungen. Meist zielt es gar nicht speziell auf Arpaios Redneck-Knäste:
Gemeint ist das gesamte Strafvollzugssystem der Vereinigten Staaten. Sieht
man sich die Entwicklung des US-Gefängniswesens an, erscheint das Reich
des Wüstensheriffs wie ein Destillat allgemeiner Tendenzen. Exorbitante
Gefangenenzahlen, systematische Misshandlung, die Verweigerung jeder Resozialisierungsperspektive
und das Bemühen, zu Lasten der Häftlinge Geld zu sparen: All das ist Alltag
hinter den Mauern US-amerikanischer Strafanstalten. Schon die offiziellen
Statistiken lassen aufhorchen. Ein Viertel aller weltweit Inhaftierten
sitzen im "land of the free" hinter Gittern - insgesamt 2,1 Millionen
Menschen. 1995 waren es noch 1,5 Millionen, fünfzehn Jahre zuvor erst
0,5 Millionen: ein wahrhaft explosionsartiger Anstieg. Jede Woche müssen
die USA für tausend neu Verurteilte Platz in ihren Haftanstalten schaffen.
2 Und wenig deutet derzeit darauf hin, dass die unglaublich
hohe Zahl von Inhaftierten in absehbarer Zeit wieder sinken könnte. Zu
viele wirtschaftliche Interessen sind mit dem Gefängniswesen verbunden.
Das Gefängniswesen als Industriezweig
Der Anfang dieser Entwicklung reicht in die achtziger Jahre zurück, als
die einsetzende Wirtschaftsglobalisierung auch in den USA zu erheblichen
sozialen Verwerfungen führte. Die Abwanderung großer Industrien in die
Freihandelszonen der Dritten Welt ließ Hunderttausende gering oder gar
nicht qualifizierte ArbeiterInnen ohne Job zurück. Während Ronald Reagans
neoliberale Umbaupolitik Sozialleistungen und Ausbildungsmöglichkeiten
in großem Maßstab abschaffte, dehnte sie die Privatisierung bis in die
Strafverfolgung hinein aus. 1984 ging in Houston das erste Gefängnis in
Betrieb, das vollständig privat errichtet und betrieben wurde; zugleich
wurde der Bau staatlicher Haftanstalten forciert vorangetrieben - eine
alternative Form der Sozialpolitik, landeten in den überall neu errichteten
Gefängnissen doch vornehmlich die gering oder gar nicht qualifizierten
Teile der Bevölkerung.
Seitdem hat sich eine regelrechte Bestrafungsindustrie entwickelt, die
zu einem der bedeutendsten Sektoren der US-Wirtschaft geworden ist und
mit ihren jährlichen Umsätzen von 40 Milliarden Dollar die der US-Tabakindustrie
in den Schatten stellt. 3 Die rein privat
betriebenen Gefängnisse mit ihren insgesamt etwa 100.000 InsassInnen sind
da nur ein kleines Stück vom Kuchen. 4
Privatwirtschaftliche Profite werden im gesamten Gefängniswesen erwirtschaftet:
vom Bau der Anlagen über ihre Ausstattung mit Sicherheitstechnologie,
sanitären Anlagen und Möbeln, die Lieferung von Nahrung und Medikamenten,
das Reinigen der Wäsche bis hin zur Bekleidung, Verpflegung und Unterbringung
der SchließerInnen.
Amerikas Unternehmen tun einiges, um einen Fuß in die Gefängnistür zu
bekommen. So bieten Telekommunikationskonzerne an, ein Drittel ihrer Gewinne
an diejenige Behörde weiterzureichen, die sie mit einer Haftanstalt ins
Geschäft bringt. 5
Bei solchen Aussichten ist es kein Wunder, dass die Börsenkurse der Bestrafungsindustrie
zeitweilig in den Himmel schossen. Die Aktien der mit Kapital von Kentucky
Fried Chicken gegründeten Corrections Corporation of America, die die
ersten Privatknäste eröffnete, gewannen Anfang der Neunziger zeitweise
um 1000 Prozent an Wert. 6 Große Investmentfirmen
wie Goldman Sachs und Merrill Lynch stiegen mit jährlichen Summen zwischen
zwei und drei Milliarden Dollar ins Geschäft ein, American Express und
General Electric beteiligten sich am Bau privater Gefängnisse. Mittlerweile
hat die Rezession der US-Wirtschaft zwar die hochfliegenden Erwartungen
der Anfangsjahre gedämpft, doch dürfte sich die Branche mittelfristig
als so krisenfest zeigen, wie ihre Werbeprospekte es behaupten - der Dollar
rollt, so lange die Bestrafungsindustrie ihren Rohstoff bekommt: Gefangene.
Häftlingsarbeit
Nicht nur die Absatzmärkte, die mit jedem neuen Gefängnis geschaffen
werden, lassen die Kassen klingeln. Schon im 19. Jahrhundert wusste man
in den USA Profit aus Strafgefangenen zu schlagen - im wahrsten Sinne
des Wortes. Mit Peitschen bewaffnete Aufseher überwachten Häftlinge, die
auf Plantagen schufteten. Heute rühmen sich US-Bundesstaaten, mit ihren
Strafanstalten Produktionsstätten anzubieten, die profitabler wirtschaften
als vergleichbare in der Dritten Welt. Eine Werbebroschüre des Staats
Virginia lockt Unternehmen mit "willigen und erfahrenen Arbeitern, die
weder Betriebsrenten noch Gesundheitsversicherungen oder Urlaub beanspruchen".
7 Diese Produktionsorte liegen vor der
Tür, und anders als in der Dritten Welt sprechen die ArbeiterInnen Englisch.
Die Bezahlung liegt nicht selten unter dem Mindestlohn. Doch auch wenn
die Unternehmen höhere Löhne zahlten, würden sie Profit machen, sparen
sie doch die Versicherungskosten und brauchen nicht für Betriebsunfälle
einzustehen. 8
Die Liste der Unternehmen, die diese Chance ergreifen, ist lang und führt
prominente Namen, darunter Microsoft, IBM, Boeing, TWA und Chevron. Neue
Knäste werden oft gleich mitsamt Produktionshallen geplant und errichtet.
"Prison-industrial Complex"
Industrieunternehmen, Politik und staatliche Repressionsorgane sind so
stark miteinander verfilzt, dass die US-Presse vom "prison-industrial
complex" spricht: dem knastindustriellen Komplex. Die begriffliche Anlehnung
an den vielbeschworenen militärisch-industriellen Komplex kommt nicht
von ungefähr, ist doch die neue Bestrafungsindustrie zu beträchtlichen
Teilen von der Rüstungsindustrie und Angehörigen des US-Militärs mit aufgebaut
worden. Nach dem Ende des Kalten Krieges verkauften Waffenschmieden solche
Unmengen an Sicherheitstechnologie auf dem Gefängnismarkt, dass KritikerInnen
argwöhnten, die US-Regierung verteile ihre frei gewordenen Rüstungsdollar
um und investiere sie nun in die so genannte innere Sicherheit.
Doch nicht nur die großen Konzerne haben ein Interesse am Anhalten des
Gefängnisbooms. Für viele ländliche Gemeinden sind Haftanstalten zum begehrten
Entwicklungsmotor geworden, der Millionen zusätzliche Steuereinnahmen,
Bundeszuschüsse und Gewerbeansiedlungen bringt. Insgesamt 26,4 Milliarden
Dollar gaben die US-Bundesstaaten im vergangenen Jahrzehnt aus, um Gefängnisse
zu errichten. Hinzu kommen Betriebskosten von jährlich etwa 30 Milliarden
Dollar. 9
Vor diesem Hintergrund ist auch der Einfluss zu sehen, den die Gewerkschaften
der Vollzugsangestellten heute haben. So hat die mächtige California Correctional
Peace Officers Association durchgesetzt, dass der Staat Kalifornien ein
Gesetz erhält, mit dem die Gefängnisse stets gut gefüllt bleiben: Wer
zum dritten Mal straffällig wird, wandert automatisch für 25 Jahre bis
lebenslänglich hinter Gitter. 10 Auch
bundesweite Gesetze, die unter dem Label "tough on crime" verabschiedet
wurden, versorgen die Gefängnisindustrie zuverlässig mit Strafgefangenen.
Die Mehrzahl der US-amerikanischen Häftlinge ist verurteilt wegen Taten
ohne Opfer, in der Regel Rauschgiftdelikte. Die Haftstrafen für diese
Gesetzesverstöße betragen in zwischen zehn und 15 Jahren.
11
Kostendruck senkt Standards
Die Lobbypolitik der SchließerInnen zeigt ein Grundproblem der Knastindustrie:
Sie braucht hohe Häftlingszahlen. "Wir haben eine Gefängnis-Infrastruktur
geschaffen, die sich selbst erhält, auch wenn die Kriminalitätsrate fällt",
kommentiert der New Yorker Kriminologe Justin Hansen.
12 Besonderen Druck üben die Betreiber privater Strafanstalten
aus: Wie Hotels rechnen sie mit einer "Auslastung". Marktexperten schätzen,
dass erst ab einer Belegungsrate von 90 bis 95 Prozent Gewinne garantiert
werden können. 13
Um kostengünstig zu arbeiten, sparen die privaten Betreiberfirmen, wo
sie nur können. "New Mexicos privat geführte Gefängnisse sind voll mit
Amerikas verarmten, gewalttätigen Outcasts - und das sind die Wärter",
höhnte eine Zeitung. 14 Die Zeche
zahlen die Häftlinge, die sich überlasteten, schlecht ausgebildeten und
gering bezahlten Wärtern gegenübersehen. Zu den Sparmaßnahmen gehört es
zudem, die Sträflinge in kleinen, käfigartigen Zellen unterzubringen und
die Zeiten des Umschlusses so weit wie möglich zu reduzieren. Auch Ausbildungs-
oder sonstige Unterrichtsangebote gibt es kaum oder gar nicht in den Billigknästen.
Die Zustände in diesen Anstalten sind oft genug haarsträubend. In Lousiana
etwa musste ein privates Jugendgefängnis schließen, nachdem bekannt wurde,
dass die Häftlinge Misshandlungen durch die Wärter ausgesetzt waren und
ihnen ausreichende Nahrung und Kleidung verweigert worden waren.
15 In einer Klage gegen die Betreiberfirma bezeichnete
das US-Justizministerium die Zustände in dem Gefängnis als "lebensbedrohlich".
16
Indes sieht es auch in den staatlich betriebenen Haftanstalten der USA
alles andere als rosig aus. "Grausamkeit gegen Häftlinge beginnt sich
in den gesamten Vereinigten Staaten zu institutionalisieren", warnte Amnesty
International vor zwei Jahren 17,
und auch das UN-Komitee gegen Folter fand deutliche Worte. Der Reporter
des Wall Street Journal Joseph T. Hallinan berichtet von "menschlichen
Hahnenkämpfen", bei denen Wärter Häftlinge aufeinanderhetzen, um auf den
Sieger zu setzen. In Alabama müssten Sträflinge, die beim Onanieren überrascht
würden, Uniformen in Flamingo-Pink tragen. 18
Der Buchautor Ted Conover, der ein Jahr als Schließer in Sing Sing gearbeitet
hat, berichtet sogar von Gefangenen, "die den Tag über mit Fäkalien im
Mund am Sehschlitz ihrer Zelle warten, bis ein Wächter vorbeikommt, den
sie anspeien können". 19
Hinter solchen Auswüchsen steht ein Strafvollzugssystem, das aus wirtschaftlichen
Gründen gigantische Gefangenenzahlen produziert, die die Staatskasse möglichst
wenig belasten sollen. Dabei schraubt die Konkurrenz der kostengünstiger
wirtschaftenden Privatknäste auch in den staatlichen Anstalten alle Standards
auf ein Minimum herunter. Der Häftling als möglichst billig aufzubewahrender
Gegenstand: Diese Perspektive der PrivatisiererInnen ist längst zum Allgemeingut
geworden und hat zu einem reinen Verwahrvollzug geführt, in dem Gewalt
geradezu gezüchtet wird. Joseph Arpaios vormoderne Ideen von Strafe mögen
die Situation in den Wüstenknästen von Arizona besonders unerträglich
machen - die desaströsen Zustände im gesamten US-Gefängnissystem sind
das Produkt einer ganzen Industrie.
Sven Barske lebt in Hamburg
Anmerkungen:
1 Carlos Widmann: Der Gulag von Arizona,
in: Der Spiegel 29/2001 (16.07.2001).
2 Süddeutsche Zeitung v. 24.4.2001,
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 06.06.2001.
3 Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 06.06.2001.
4 US Department of Justice, Bureau of
Justice Statistics Bulletin: Prison and Jail Inmates at Midyear 2001,
4.
5 Goldberg/Evans; Eric Schlosser: The
Prison-industrial Complex, in: The Atlantic Monthly, December 1998.
6 Christian Parenti: Lockdown America,
in: Süddeutsche Zeitung v. 24.04.2001.
7 Junge Welt, v. 09.02.2000.
8 ebenda.
9 Nicola Liebert: US-Gefängnisse entlassen
Personal, in: Financial Times Deutschland v. 05.09.2001.
10 ebenda.
11 Fritz Wirth: Arbeitssuche hinter
Gittern. in: Die Welt v. 16.08.1999.
12 zit. n. ebenda.
13 Gerhard Klas: Knastgeschäfte, in:
Junge Welt v. 09.02.2000.
14 Gregory Palast: Wackenhut's Free
Market in Human Misery, in: The Observer (London) v. 26.09.1999;
auch im folgenden.
15 Fox Butterfield: Company to Stop
Operating Troubled Prison. In: The New York Times v. 27.04.2000.
16 Fox Butterfield: Justice Dept.
Sues to Alter Conditions At a Prison, in: The New York Times, v.
31.03.2000.
17 Amnesty International: UN Committee
against Torture must condemn increasing institutionalized cruelty in USA.
Amnesty International Public document , AI Index AMR 51/68/2000, News
Service Nr. 84.
18 Joseph T. Hallinan: Going Up The
River; vgl. Michael Massing: Everybody Wants One. in: The New York Times
Book Review v. 22.04.2001.
19 Süddeutsche Zeitung v. 24.04.2001;
vgl. auch Ted Conover: Guarding Sing Sing, in: The New Yorker v. 03.04.2000;
www.tedconover.com.
|
|