Heft 3 / 2002: Auf eigenes Risiko Folgen der Privatisierung |
Jens Neubert | |
Staat oder Entstaatlichung - ist das hier die Frage? | |
Wer statt Privatisierung mehr Staat fordert, kommt vom Regen in die Traufe |
Wer gegen Entstaatlichung ist, ist für den Staat. So ließe sich mittels
einfachen Umkehrschlusses eine Aussage formulieren, die viele PrivatisierungsgegnerInnen
trotz ihrer logischen Konsequenz sicher weit von sich weisen. Dies ist angesichts düsterer Aussichten im Gesundheitsbereich, wie auch in anderen von Privatisierungsbestrebungen erfassten Feldern sehr verständlich. Schließlich geht es den verantwortlichen AkteurInnen hier meist um die Option, mit einem Schlag Massenentlassungen und marktkonforme Preispolitik ohne soziale Bindungen zu ermöglichen und gleichzeitig zukünftige politische Verantwortung loszuwerden. Derartig radikale Einschnitte werden in staatlich organisierten Bereichen zumindest bisher eher nicht erwartet, weswegen darin mindestens das kleinere Übel gesehen wird. Kleineres Übel Staat Gerade dies aber gibt Anlass zur Frage, ob es sich lohnt, nur für das "kleinere Übel Staat" als Alternative zur Privatisierung zu kämpfen oder ob dieser Diskurs nicht wesentlich erweitert werden müsste. Und es gehen dem noch Fragen zum Zustand des Staates, mithin seiner Brauchbarkeit als kleineres Übel, voraus: Sind der Staat und seine Einrichtungen nicht schon selbst soweit von Rationalisierungs- und Rationierungsbestrebungen erfasst, dass Privatisierung nur noch ein weiterer konsequenter Schritt eines neoliberalen Durchmarsches ist? Macht es tatsächlich etwas aus, wenn Entscheidungen letztverantwortlich von staatlichen oder privaten Organen gefällt werden? Im Detail mag die Antwort auf diese Fragen schwer fallen. In ihrem Ziel aber - und das ist die diesem Text zugrundegelegte These - kann gesetzliche, also typisch hoheitliche Regelung dem der Privatisierung sehr ähnlich sein und insofern keine wirkliche Alternative darstellen. Deleuze drückt dies in seinem "Postskriptum über die Kontrollgesellschaft" umfassender aus, indem er die heutige Gesellschaft insgesamt von einem Unternehmensgeist erfasst sieht, der "ständig eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt," verbreitet. Unterschiedliche Milieus wie Schule, Krankenhaus oder Fabrik streben nach Deleuze deswegen nicht mehr auf Staat oder private Macht als Eigentümer zu, sondern sind vielmehr "Figuren ein und des selben Unternehmens, das nur noch Geschäftsführer kennt." 2 Eine Analyse, in deren Konsequenz der Staat keine Alternative zur Privatisierung darstellen kann, die sich anhand des Beispiels der Privatisierungsvorhaben im Gesundheitsbereich aber durchaus bestätigen lässt. Krankt die Gesundheitspolitik an Privatisierung ... Aktuell protestiert nicht nur Attac-Deutschland gegen mögliche Privatisierungsmaßnahmen im Gesundheitsbereich. Insbesondere Gewerkschaften wie ver.di, die IG-Metall und ihr Dachverband DGB positionierten sich in eigenen Kampagnen gegen Privatisierung und Entsolidarisierung in der Gesundheitspolitik. 3 Privatisierung, dass heißt in diesem Zusammenhang vor allem die Begrenzung des Aufgabenkatalogs der gesetzlichen Krankenversicherungen und die Überführung öffentlicher Gesundheitseinrichtungen in private Unternehmen. Was die CDU/CSU in ihrem gerade vorgestellten Wahlprogramm euphemistisch als größere "Wahlfreiheit des Versicherten" 4 bezeichnet, soll auf eine immer dürftiger werdende Grundversorgung hinauslaufen, die von Besserverdienenden durch Privatvorsorge beliebig ergänzt werden kann - ähnlich wie bei der Rentenreform. Beispielhaft wird bezüglich der Folgen solcher Maßnahmen auf Chile verwiesen, wo ein solches System weitgehend durchgesetzt ist: Für untere Einkommensgruppen bietet der private Versicherungsmarkt dort gar keine Verträge und "Risikogruppen" wie Alte und Frauen - Stichwort "Schwangerschaftsrisiko" - zahlen erheblich mehr. 5 Die Quintessenz ist also eine extrem marktkonforme Ausrichtung des Gesundheitswesens. Solche Entwicklungen verstärken zweifellos die Tendenz zu weiterer Entsolidarisierung und sind für Einzelne unter Umständen existenzbedrohend. Es stellt sich hier wie in anderen Bereichen aber die bereits angesprochene Frage, ob diese Entwicklungen erst mit der zur Zeit hauptsächlich kritisierten Privatisierung einsetzen, hierin nur gipfeln oder nicht mal auf sie angewiesen sind. ... oder an allgemeiner Ökonomisierung? Die marktkonforme Ausrichtung des Gesundheitswesens wurde jedenfalls spätestens mit dem von Norbert Blüm eingebrachten Gesundheitsreformgesetz vom 20. Dezember 1988, welches das bis dahin geltende Krankenversicherungsrecht in das Sozialgesetzbuch (SGB V) eingliederte, zum Leitbild der Gesetzgebung. Die Stichwörter Rationalisierung und Kostendämpfung waren noch beschönigende Umschreibungen für die eindeutig auf Einsparungen gerichteten Gesetzesänderungen. Mit Blüms "Reformgesetz" sollten ca. 14 Millarden Mark, mit einer weiteren Änderung des SGB V Ende 1992 ca. 11 Millarden Mark eingespart werden. Ein Trend, der mit der 1994 in Kraft tretenden Bundespflegesatzverordnung (BPflV), 1997 mit zwei Gesetzen zur Neuordnung der gesetzlichen Krankenversicherung (1. und 2. GKV-NOG) und dem "Gesetz zur GKV-Gesundheitsreform 2000" fortgesetzt wurde. Die Instrumente zur Einsparung sind auf der einen Seite leistungsbezogene Vergütung in den Krankenhäusern und Fallpauschalen, wodurch der Rationalisierungsdruck auf die Kliniken verstärkt werden soll. Auf der anderen Seite werden die Krankenversicherten zwar nicht direkt auf private Zusatzvorsorge verwiesen, ihre Selbstbeteiligungen aber allmählich angehoben. Begründet wurden solche Maßnahmen von Anfang an mit der vermeintlichen "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen, 6 die auch heute als Hauptargument für Privatisierung angeführt wird. Es lässt sich also schon lange eine sukzessive Entwicklung in Richtung des von Attac-Deutschland und den Gewerkschaften befürchteten Szenarios feststellen. Insofern greift die Protestformel "gegen Privatisierung" zu kurz. Das was kritisiert werden soll, ist nicht unbedingt auf die Konkurrenz Privater angewiesen, sondern wurde und wird auch unter staatlicher Ägide möglich gemacht: Das Wirtschaftlichkeitsgebot bestimmt staatliches Handeln faktisch sehr viel mehr als das Sozialstaatsprinzip, wobei letzteres in der Praxis ohnehin unter Finanzierungsvorbehalt steht. Das Problem sind mithin weniger die konkreten Privatisierungsvorhaben, als vielmehr die allgemeine Ökonomisierung auch des staatlichen Handelns oder besser, an Deleuze angelehnt, die auch den Staat und seine Einrichtungen erfassende Verallgemeinerung von Unternehmensgrundsätzen. Im hier angesprochenen Gesundheitsbereich ist deswegen leicht vorstellbar, dass der Rationalisierungs- und Wettbewerbsdruck auch dann keinen Deut nachlässt, wenn die zur Zeit vor allem von Finanz- und WirtschaftspolitikerInnen skizzierten Privatisierungspläne im Gesundheitsbereich noch einmal zurückgenommen werden - was wohl schon optimistisch gedacht ist. Vielmehr würden dann diejenigen Möglichkeiten ausgeschöpft, die auch ohne Privatisierung zu weiteren Einsparungen führten. Wer in diesem Konflikt aber erst eindimensional gegen Privatisierung und damit implizit für staatliche "Lösungen" eingetreten ist, wird sich bei abgewendeter Privatisierung wohl oder übel positiv bzw. konstruktiv auf den Prozess staatlicher Lösungsfindung beziehen müssen. Wem ist die Gesetzgebung verpflichtet? Dieser Prozess wird meist durch Gesetzgebungsverfahren strukturiert. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass "die eigentlichen Entscheidungen nicht im parlamentarischen Verfahren fallen, sondern durch Abmachungen zwischen politisch relevanten Kräften außerhalb des förmlichen Verfahrens zustande kommen." 7 Nichtregierungsorganisationen oder andere außerparlamentarische Kritiker der Mehrheitspolitik, werden aus solchen Abmachungen aber regelmäßig auch dann herausgehalten, wenn sie sich konstruktiv auf den Gesetzgebungsprozess beziehen (z.B. durch konkrete Gegenvorschläge), es sei denn sie lassen sich einbinden ohne wirklichen oder nur minimalen Einfluss auf die Entscheidung zu nehmen. Partner solcher Abmachungen werden dagegen oftmals genau diejenigen Privaten sein, die auch an Privatisierungen Interesse haben. Für solche Mechanismen und Abspracheverfahren ließen sich wiederum zahlreiche Beispiele anführen. Das wohl eindrücklichste liegt nicht lange zurück: Anfang dieses Jahres wurde eine Atomgesetznovellierung beschlossen, deren Formulierungen in allen Details mit Vertretern der Energieversorgungsunternehmen abgestimmt war. Die Ergebnisse sind bekannt. 8 Der sogenannte "Atomkonsens", auf dessen Grundlage eine regelmäßige Laufzeit von 32 Jahren für alle bestehenden deutschen Kernkraftwerke festgeschrieben wurde, kam den Forderungen der Energieversorgungsunternehmen weitestgehend nach, während zahlreiche Umweltverbände trotz mehrfacher Versuche es nicht einmal vermochten, die Regierung zur Einrichtung von Arbeitsgruppen zu bewegen, in denen sie ihre Forderungen hätten darlegen können. Kein Wunder, denn die Konsensgespräche zwischen Regierung und Energieversorgungsunternehmen liefen nach Aussage der parlamentarischen Staatssekretärin Probst (Bundnis 90/Die Grünen) gerade da "hoch effizient", wo sie "sehr vertraulich" stattfanden. 9 Offiziell wurde bei alle dem immer wieder darauf hingewiesen, dass die Letztverantwortlichkeit für die Atomgesetznovellierung natürlich beim Parlament läge, es sich also um eine rein hoheitliche und demokratische Entscheidung handle. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Grimm stellte dagegen schon 1999 fest, dass der Bundestag bei einer solchen Vorabsprache zwar eine rechtliche aber keine faktische Chance habe, die Gesetzesänderung zu beeinflussen: "Der Versuch auch nur ein Detail zu ändern, bringt das ganze Werk zum Einsturz." 10 Auch solche Realitäten sind zu berücksichtigen, wenn staatliche Regelung als Alternative zur Privatisierung dargestellt wird. Staatstheoretiker mögen im Gesetz die "rationale Verwirklichung des Gemeinwohls" sehen 11 und staatstragende Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht können immer wieder darauf hinweisen, dass das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren "Publizität, Deliberation und Interessenausgleich" gewährleisten soll, 12 faktisch ist hier der Einfluss Privater enorm. Gleiches gilt wohl erst recht im Bereich der Exekutive: Kooperation zwischen Verwaltung und Privaten ist hier Prinzip, was nicht selten zur "Kungelei der Industrie mit dem Staat zu Lasten des Gemeinwohls" führt. 13 Die Gesetzeskonkretisierung, insbesondere im Umwelt- und Technikrecht, geschieht schon seit geraumer Zeit und zunehmend durch Inkorporation privater Standards in Rechtsnormen 14 und aus Verwaltungskreisen selbst wird kritisiert, dass sich Staatsorgane hier zum Teil selbst nur noch als Dienstleistungsbetrieb der Wirtschaft betrachten. 15 Zur Durchsetzung ihrer Interessen sind Private in vielen Bereichen mithin nicht unbedingt auf Privatisierung angewiesen. Alternativlosigkeit oder neue Alternativen? Angesichts dieser Kritik drängt sich zum Schluss vor allem eine Frage
auf: Wenn der Staat keine Alternative zur Privatisierung darstellt, worin
besteht die Alternative dann? Konkret könnte auf die Privatisierung im Energieversorgungsbereich z.B. mit der Gründung gesellschaftlich organisierter lokaler Energieversorgungsbetriebe und der Forderung nach Überlassung entsprechender Infrastruktur reagiert werden. Als weiteres Beispiel ließe sich auch die bereits erfolgte aber sicherlich ausbaufähige Gestaltung von selbstbestimmten freien Radio- und Fernsehprogrammen anführen, die Alternative zu bisherigen und weiteren Privatisierungsmaßnahmen im Rundfunk- und Fernsehbereich sein können. Liegenschaften, könnten - anstatt gewinnbringend verkauft - an Wohn- oder Sozialprojekte vergeben werden, um sie in die Lage zu versetzen, ohne staatliche Zuschüsse selbstbestimmt zu agieren. Andersrum müsste der Privatisierung gerade in Bereichen der Daseinsvorsorge
mit Forderungen nach echter Demokratisierung der Wirtschaft und der Betriebe
begegnet werden. Nicht die staatliche Kontrolle von Unternehmen oder Abfederungsmaßnahmen
unsozialer Standortpolitik sollten dabei im Mittelpunkt stehen, sondern
die unmittelbare Beteiligung der Menschen an den sie betreffenden Entscheidungen. Jens Neubert studiert Jura in Hamburg und ist Mitglied von Hamburgs Aktiven IurastudentInnen (HAI). Anmerkungen: 1 Alle Zitate aus der Attac-Beilage
zur tageszeitung v. 25.04.2002.
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