Ein Richter am Verwaltungsgericht Gießen hatte als Einzelrichter zu entscheiden, ob die Anordnung der Stadt Gießen gegen die NPD, gerichtet auf Entfernung von Europawahl-Plakaten mit der Aufschrift „Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand – jetzt“, rechtswidrig sei. Mit Urteil vom 09.08.2019 (4 K 2279/19) wurde dies bejaht: Das Plakat ist nicht volksverhetzend im Sinne des § 130 StGB. Folglich liegt keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor und damit sind die Voraussetzungen der polizeilichen Generalklausel nicht erfüllt und die Anordnung materiell rechtswidrig.
Die rechtspolitische Problematik eines strafrechtlich zu sichernden Menschenwürdeschutzes ist in Bezug auf die Unbestimmtheit des § 130 StGB hinlänglich bekannt. Daran gemessen ist das Urteil ein Paradebeispiel der Unwägbarkeit formaler Offenheit, unter deren Ägide die juristische Hermeneutik ihrem Handwerk nachgeht. Das Urteil zeigt, wie ein*e Richter*in kraft Entscheidungsgewalt politisch rechte Narrative und Anschauungen zur Wirklichkeit erklären darf.
Gleichwohl ist das Urteil kein Glanzstück juristischer Auslegung und Argumentation, denn die Frage nach Tatsachen und ihrer Wahrheit ist für den Fall irrelevant. In den Augen des Richters ist § 130 StGB nicht erfüllt, weil die streitgegenständliche Aussage tatsächlichen Gegebenheiten eben teilweise entspricht. Auf diese „Realität“ bezogen dürfe ihr objektiver Wortlaut nicht anders verstanden werden. Es ist die Konstruktion des Tatbestandes ebendieser „Realität“ durch den Richter, die es in sich hat: Migration erhält in Bezug auf „die Geschichte der Völkerwanderung“ ein Framing als ewiges Problem der ach so zivilisierten Welt. Diese Ausführungen ignorieren die Eigengeschichtlichkeit behandelter Perioden ebenso gekonnt, wie sie den aktuellen Forschungstand bezüglich der Transformationsprozesse der Spätantike beschämen. Die üblichen rechten Phantasmen bezüglich exzessiver migrantischer Kriminalität und Eroberungslust (Silvesternacht Köln, Salafismus, Scharia-Polizei) werden zusammenhangslos aufgezählt und durch Belege aus der rechten Ecke der Publizistik (NZZ, H. Münkler) untermauert. Alles in allem ergibt sich daraus die regressive „Realität“, in der eine mythische römisch-christliche Vergangenheit in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung quasiwiedergeboren ist, wobei diese tradierte ethnische und kulturelle Homogenität, die zunehmend gewaltsam zersetzt wurde, seit 2015 voll-ends „getötet“ wird. Wie die Revision an diese verstörende Tour de Force anknüpfen wird, bleibt abzuwarten.