Der Staat ist der zentrale Gegenstand des Interesses und der Auseinandersetzung im Öffentlichen Recht. Eine Lektüre gängiger Lehrbücher offenbart aber ein technokratisches Staatsverständnis der Rechtswissenschaft.
Wer Rechtswissenschaft studiert, kommt nicht umhin sich mit dem Staat zu beschäftigen. Im Strafrecht ergründen Jura-Student*innen warum und wie der Staat Menschen bestraft, die von Gesetzesnormen abweichen. Selbst im Zivilrecht ist der Staat trotz der dort geltenden Privatautonomie allgegenwärtig, denn die rechtlichen Regeln unter welchen Bedingungen ein Vertrag zwischen Privatpersonen geschlossen werden kann, sind durch staatliche Gesetze vorgegeben und Streitigkeiten werden im Zweifel vor staatlichen Gerichten ausgetragen. Schließlich ist das Öffentliche Recht der genuine Regelungsapparat des Staatlichen: Wie ist der Staat organisiert, wer handelt mit welchen Aufgaben und Befugnissen.“1
Für Jura-Student*innen ist es unerlässlich sich grundsätzlich mit dem Staat auseinander zu setzen. Hierzu zählen die historischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen, die Interessen, die sich im Staat widerspiegeln und die vielfältigen Probleme, die eine Gesellschaft hervorbringt, die sich auf staatlicher Herrschaft gründet. Das Jura-Studium schweigt aber in großen Teilen über diese Fragen. Symptomatisch hierfür ist eine Lektüre gängiger juristischer Lehrbücher.
Außer Jellinek nichts anzubieten?
Gemeinsam ist allen Lehrbüchern aus dem Staatsrecht, dass sie von der sogenannten Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek ausgehen, die dieser 1900 in seiner Allgemeinen Staatslehre vorgelegt hat. Demnach gründet sich ein Staat auf ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und die Staatsgewalt. Liegt ein Element nicht vor, so könne man laut Jellinek nicht von einem Staat sprechen. Aufgrund dieses Ansatzes ist beispielsweise in der heutigen Staatslehre hoch umstritten, ob die Europäische Union einen eigenen Staat oder lediglich einen Staatenverbund darstellt. Die Jellineksche Definition erschöpft sich in einer rein formellen Betrachtung des Staates. Hiermit kann keine Aussage darüber getroffen werden, ob ein Staat nun demokratisch oder autoritär strukturiert ist oder ob dieses Gegensatzpaar überhaupt geeignet ist, um komplexe Gesellschaftssysteme hinreichend zu analysieren. Umso erstaunlicher ist es, dass die meisten Staatsrechtslehrbücher bei dieser Definition stehen bleiben. Ipsen scheint es nicht für nötig zu halten grundsätzlichere Gedanken über sein Staatsverständnis auszubreiten und springt in seinem Standard-Werk sofort zur juristischen Dogmatik.2 Genauso belässt es Gröpl bei einer kurzen Diskussion der Drei-Elemente-Lehre, um sodann in aller Kürze die Wörter Demokratie und Republik zu erläutern.3 Bei Albrecht und Küchenhoff wird der Versuch unternommen eine historische Einführung in die Entwicklung des deutschen Staates der Dogmatik vorzuschalten. Es bleibt in ihrem Lehrbuch aber bei der kontextlosen Aneinanderreihung von historischen Daten. Warum es zu den historischen Ereignissen gekommen ist und wie diese bis in die Gegenwart hineinwirken, dazu werden keine Worte verloren.4
Schöbener gestaltet sein Buch über den Staat anders. Er will die philosophischen Debatten über den Staat in ihrer Gänze behandeln und es ist ihm zugute zu halten, alternative Ansätze und Kritiken des Staates mitaufzunehmen. Seine Ablehnung von anarchistischen und marxistischen Theorien gipfelt aber in kruden extremismustheoretischen Auslassungen, nach denen zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus kein Blatt Papier zu passen scheint:
„Beide Kollektivismustheorien eigneten sich daher in besonderer Weise zur ideologischen Verschleierung und Rechtfertigung diktatorisch-willkürlicher Machtausübung bis hin zur Vernichtung Andersdenkender und Nichtzugehöriger, wie die geschichtliche Entwicklung deutlich belegt. Dies ist nicht zuletzt darin begründet, dass ihnen ein ideologisch geprägtes, wenig reales Menschenbild zugrunde liegt. Das Individuum wird in seinen Fähigkeiten idealistisch überhöht als auch zugleich zum bloßen Objekt von Machtentfaltung degradiert. Nicht zu Unrecht sieht man in beiden Lehren einen radikalen Bruch mit der von humanistischen Vorstellungen geprägten christlich-abendländischen Tradition.“5
Schöbeners Lehrbuch leistet hier keine Aufklärung. Denn der alleinige Verweis auf die angeblich humanistisch geprägte christlich-abendländische Tradition erklärt nicht, wie aus dieser Tradition überhaupt ein System wie der Nationalsozialismus entstehen konnte, er verwischt die Kontinuitäten zwischen Demokratie und Diktatur. Die extremismustheoretische Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus verkennt die Spezifika beider Systeme und suspendiert zugleich das Hauptmerkmal des NS-Systems: den eliminatorischen Antisemitismus. Zuletzt behauptet Schöbener alleine der Nationalsozialismus und Kommunismus basierten auf einem ideologisch geprägten Menschenbild. Doch auch der heutige liberal-demokratisch verfasste Staat und das moderne Rechtssystem unterstellen einen bestimmten Menschentyp, der in den Naturzustandstheorien des Liberalismus von Hobbes, über Locke bis Kant und Rousseau entwickelt wurde, Marx spricht von der Verallgemeinerung des „egoistischen Menschen“.6 Diese Annahmen sind keinesfalls an empirische Realitäten rückgekoppelt. Bei Hobbes ist der Mensch ursprünglich böse, bei Rousseau ursprünglich gut. Diese idealtypischen wie willkürlichen Konstruktionen hat Ernst Bloch zutreffend als „Vergötzung einer angeblich unwandelbaren und normativen Gesamtnatur“ kritisiert.7 So verzichtet auch das Menschenbild im Recht auf einen Wirklichkeitsbezug und setzt den Menschen als autonom, dabei handelt es sich doch um „eben jenen Menschen, der nicht autonom sein kann und nicht autonom sein will.“8
Alternative Lesarten des Staates
Haben die gängigen Lehrbücher des Staatsrechts also keine gehaltvolle Auseinandersetzung mit dem Staatsbegriff vorzuweisen? Eine Ausnahme bildet alleine das Lehrbuch von Maurer, das den Student*innen, die vorrangig ihre Bücher nach der Klausurrelevanz aussuchen, zunächst auf über hundert Seiten die Herausbildung des modernen Staates vorexerziert. Er stellt dabei zu Recht fest: „Staatsrecht befasst sich nicht allgemein mit dem Staat, sondern ganz konkret mit unserem Staat, mit der Bundesrepublik Deutschland. Jeder Staat hat sein Staatsrecht, das von den jeweiligen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen, kulturellen und geistigen Verhältnissen und Vorstellungen seiner Zeit abhängig ist, andererseits aber wiederum den Staat in seiner konkreten Erscheinungsform bestimmt und prägt.“9 Maurer reflektiert darüber, dass sich Verständnisse des Staates wandeln und das Recht daher keinen immerwährenden Status Quo verfolgen darf.10 Der besondere Gewinn seines Lehrbuchs besteht aber in seiner konsequenten Rückkopplung der Rechtsgeschichte an die Dogmatik, die Genealogie des Staates wird zu einem festen Bestandteil heutiger Rechtsverständnisse und Auslegungen.
Doch auch Maurers Diskussion des Staatsbegriffs leidet an einer Herrschaftsblindheit. Obschon er die Konstitution des Staates von politischen und sozialen Bedingungen abhängig macht, erscheint der Staatsapparat selbst bei ihm als neutrale Instanz. Auch sein Lehrbuch geht nicht über einen technokratischen Begriff des Staates hinaus. Eine materialistische Staatstheorie im Anschluss an Marx setzt hier einen Kontrapunkt. Sie versteht den Staat als „materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt“.11 Der Staat ist also keine neutrale Instanz, sondern ein soziales Verhältnis, in dem sich gesellschaftliche Widersprüche ausdrücken, die aber zugleich vom Staat mit hervorgebracht werden. Damit ist der Staat von den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht entrückt, sondern in diesen verwoben. „Das Recht ist seiner Natur nach eine politische Erscheinung, die mit dem Staat verbunden ist, durch ihn vermittelt wird und auf ihn bezogen ist. Es ist in den Kampf der Klassen um die Macht, um den Staat sowie in die Beziehungen zum Staat und im Staat unabdingbar einbezogen. Gesetze und andere Rechtsakte verkörpern immer auch politische Zielsetzungen.“12 Eine kritische Theorie des Staates versucht also den „Staat als Inbegriff einer neutralen Mechanik der hoheitlichen Künste zu entzaubern.“13
Eine derartige Perspektive liefert nicht nur theoretische Einsichten, sondern ganz praktische Verständnisse des Rechts. Die Analysen von Foucault zur Disziplinargesellschaft erklären beispielsweise, warum mit der Abschaffung klassischer Strafen (wie der Strangulation am Galgen) dennoch keine Humanisierung des Strafsystems einhergegangen ist. Vielmehr äußern sich die Regierungstechnologien des Staates in Institutionen wie dem Gefängnis, den Psychiatrien, aber auch in Schulen und Fabriken.14 „Die Einrichtung der Demokratie, ihrem Selbstverständnis nach eine Zunahme an Freiheit und Selbstbestimmung, ist in Wirklichkeit durch die intensivierte Disziplinierung erkauft.“15
Auch eine feministische Kritik des Staates, die den Staat als „männliche“ Einrichtung charakterisiert, liefert profunde Erkenntnisse, warum trotz der in Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz (GG) getroffenen Feststellung über die Gleichheit der Geschlechter, Frauen in zahllosen gesellschaftlichen Bereichen weiterhin diskriminiert werden. Die liberale Aufspaltung in eine staatliche öffentliche Sphäre und eine staatsfreie private Sphäre manifestiert die Aufspaltung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit.
Keine paradiesischen Zustände
Die Etablierung des Rechtssystems verweist bereits darauf, dass mit der Entwicklung des modernen Staates keine „paradiesischen Zustände“ einhergegangen sind.16 Man bräuchte kein Polizeirecht und auch keine Grundrechte, wenn der Staat sich als neutraler Akteur stets rechtmäßig verhalten würde. Indem in weiten Teilen des Öffentlichen Rechts der Staat als von der Gesellschaft abgesonderte Institution verstanden wird oder schon keine grundsätzliche Auseinandersetzung über den Staat geführt wird, ist es für Jura-Student*innen schwer möglich eine kritische Distanz zum Staat zu entwickeln und juristische Argumentation fernab staatlicher Logiken zu entwickeln. Oliver Lepsius weist darauf hin, dass das Öffentliche Recht in Deutschland historisch eine Staatswissenschaft war, die alleine die Funktionsweise des Staates untersucht hat. Über die Auseinandersetzung mit dem Staatsbegriff versuchte die Rechtswissenschaft der Fragmentierung der deutschen Einzelstaaten entgegen zu wirken. Erst mit dem Grundgesetz entstand eine Gegenbewegung zu dieser staatsfixierten Rechtswissenschaft, indem das Öffentliche Recht immer stärker als Verfassungsrecht gedacht wurde. Lepsius selbst möchte das Öffentliche Recht als Demokratiewissenschaft verstanden wissen.17 Ein Blick in politikwissenschaftliche, soziologische oder philosophische Abhandlungen ist also aus der Perspektive der Jura-Student*innen nötig. Denn wie sollen Jurist*innen den Sinn hinter einer Verhältnismäßigkeitsprüfung staatlichen Handelns verstehen, wenn sie den legitimen Zweck des Staates nicht hinterfragen oder schon gar nicht verstehen, die Geeignetheit und Erforderlichkeit stets unterstellen und keine Ahnung von den gesellschaftlichen Konflikten haben, die in der Angemessenheit zur Abwägung gelangen?