Wer Jura studiert und sich als links oder alternativ versteht, hat es oft nicht leicht. Dabei ist die kritische Beschäftigung mit Recht eine ebenso spannende wie wichtige Angelegenheit.
Zugegeben: Das Jurastudium ist vor allem in der Phase der Vorbereitung auf das Staatsexamen anstrengend, weil eine riesige Menge an Stoff bewältigt werden muss. Die Konzentration auf Themen wie die Übertragung von Grundpfandrechten und die Zulässigkeitsvoraussetzungen verwaltungsgerichtlicher Klagearten bringt die wenigsten Menschen intellektuell oder charakterlich weiter. Dazu kommt, dass Notenvergabe und andere disziplinierende Mechanismen systematisch für Verunsicherung und Leistungskonkurrenz sorgen; die „Ausbildung zum Einheitsjuristen“, insbesondere der Stress der Examensvorbereitung, macht nicht wenige krank.[1] Unter den Kommiliton_innen, deren Interesse sich teilweise darauf beschränkt, mit ihrer Ausbildung später in einer Großkanzlei oder „in der Wirtschaft“ möglichst viel Geld zu verdienen, ist es nicht immer leicht, Gleichgesinnte zu finden.
Kritische Jurist_innen sind häufig dem Druck ausgesetzt, in Prüfungen detaillierte Antworten geben zu müssen auf Fragen, die sich in einer an menschlichen Bedürfnissen ausgerichteten Gesellschaft vielleicht gar nicht stellen würden. Empfehlen Professor_innen dann auch noch wohlmeinend, einen Fall im Zweifel mit der „herrschenden Meinung (h. M.)“ oder „einfach nach dem Gerechtigkeitsgefühl“ zu lösen, entstehen manchmal absurde Situationen für Menschen, die prinzipiell an der Legitimität von Gefängnisstrafen für Eigentumsdelikte oder am Menschenrecht auf Betrieb eines profitorientierten Industrieunternehmens zweifeln. Die juristische Ausbildung, die spannende Disziplinen wie Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie marginalisiert und sich fast komplett in scheinbar wertneutraler Dogmatik erschöpft, ist – jedenfalls überwiegend – eine Mühle, die „ein mittleres Maß an Technik und ganze Waschkörbe von Ideologie vermittelt“[2]. Da liegt es nicht fern, das Jurastudium zu schmeißen oder erst gar nicht damit anzufangen. Was spricht also noch dafür?
Teil der Lösung oder Teil des Problems?
Zunächst neigen Jurist_innen dazu, geistes- und sozialwissenschaftliche Studiengänge zu verklären: Aus der Distanz betrachtet, scheinen andere Fachbereiche paradiesische Orte selbstbestimmter Beschäftigung mit den wichtigen Fragen des Lebens zu sein. Die Realität sieht – nicht erst seit der unsäglichen Bachelorisierung – ganz anders aus. Und umgekehrt ist es auch in Jura zumindest während der ersten Jahre durchaus möglich, die Grundlagenfächer zu studieren. Auch kann man sich gemeinsam mit anderen, beispielsweise auf den BAKJ-Kongressen, mit Inhalten beschäftigen, die im Lehrplan zu kurz kommen. Zudem werden seit einigen Jahren Law Clinics angeboten, die sich in praktischer Weise dem Recht nähern wollen und dabei Rechtsgebiete beleuchten können, die das Studium aufgrund der Fixierung auf den Stoff für das 1. Examen nur anschneidet oder gar nicht anspricht, so zum Beispiel das Asyl- und Aufenthaltsrecht[3] oder das Antidiskriminierungsrecht. Zudem können durch Law Clinics Personen und Institutionen unterstützt werden, die sich eine Rechtsberatung sonst schlicht nicht leisten könnten.[4] Studierende werden durch diese Arbeit auch für wichtige rechtssoziologische Fragestellungen sensibilisiert: Wer hat eigentlich Zugang zum Recht?
Auch ist es unwahrscheinlich, dass die Rechtsordnung oder die juristische Ausbildung allein dadurch besser werden, dass man die konservative Mehrheit dort ungestört weiterwerkeln lässt. Sinnvoll könnte eine allgemeine „Flucht aus dem Recht“ also nur sein, wenn alle, die sich berufsmäßig der Mittel des Rechts bedienen, dadurch automatisch „Teil des Problems“ würden. Womit wir bei einer alten Fragestellung sind: Ist es nicht völlig perspektivlos, als kleine Minderheit die „Klassenjustiz“ progressiv wenden zu wollen? Lenkt nicht jede Mitarbeit am herrschenden Recht als dem Recht der Herrschenden von nötigen politischen Veränderungen ab? Hinter diesem strategisch klingenden Problem steckt letztlich die Frage nach dem Wesen, der Entstehung und dem Wirken von Recht.
Linke Jurist_innen in Deutschland haben über dieses Thema vermutlich am intensivsten in den Jahren nach 1968 diskutiert, nicht zuletzt in den Zeitschriften „Kritische Justiz“ und „Demokratie und Recht“.[5] Vereinfacht gesagt meinten dabei die Einen, das Recht sei in der bürgerlichen Gesellschaft streng von der kapitalistischen Basis determiniert. Zu versuchen, als Richter_in oder Anwält_in emanzipatorische Politik zu machen, hielten sie für einen „hilflosen Marsch in die Institutionen“, für fragwürdige Stellvertretung unterprivilegierter Gruppen, die diese bevormunde und entpolitisiere.[6] Fortschritt sei nur gegen das bürgerliche Recht möglich, nicht mit ihm. Echte Linke studierten also Ökonomie oder gingen direkt in die Fabriken! Für die eventuellen Gerichtsprozesse würden liberale Anwält_innen genügen, die ihr Handwerk ohnehin oft besser verstünden.
Linke, die so dachten, organisierten damals entsprechend Kampagnen, um Erstsemester_innen zu „politisieren“ und vom Jura-Studium abzuwerben. Auch wenn der Hinweis etwas unfair sein mag: So mancher Lebenslauf eines ultralinken Jura-Abbrechers führte ziemlich schnell ins Lager des einstigen „Klassenfeindes“.
Links im Recht
Andere Linke gaben zu, dass zwar die Einhaltung von Verfassung und bestehenden Gesetzen noch lange nicht die Überwindung aller existierenden Herrschaftsverhältnisse bedeutete, betonten aber dass das Recht vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für emanzipatorische Kämpfe liefere. Mit kritischen Rechtstheoretikern wie Franz L. Neumann hoben sie die Eigengesetzlichkeit der Rechtsform hervor, die eben auch Schutz gegenüber dem unvermittelten Durchbruch existierender Machtverhältnisse gewähre. In diesem Sinne empfahl der radikaldemokratische Verfassungsrechtler Helmut Ridder, „es mit der Norm als einer möglichen Waffe gegen demokratieverhindernde gesetz- und verfassungswidrige Wirklichkeiten ernst zu nehmen. Das ist freilich nur möglich, wenn man das Instrumentarium kennt“; die Einflussmöglichkeiten für Jurist_innen seien zwar bescheiden, aber sie könnten „sei es beratend, sei es in der Rechtsprechung, sei es rechtspolitisch, sei es akademisch, ein Bremsfaktor von nicht geringer Tragweite“ sein im Prozess „des Fortschreitens des Politikums nach rechts“.[7]
Vertreter_innen dieser Auffassung untersuchten die Wirkungsbereiche für fortschrittliche Jurist_innen auf ihre Möglichkeiten und Grenzen. Progressive Richter_innen hätten es zwar schwer in der konservativ geprägten Justiz, könnten aber „im Einzelfall helfen, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen, praktische Humanität zu üben“; in politischen Prozessen stellten sich linke Anwält_innen im Vergleich zu liberalen häufig als die besseren heraus: Arbeiteten sie mit ihren Mandant_innen zusammen, könnten sie hier und dort emanzipatorische Anliegen voranbringen.[8] Allerdings machten Linke, linke Frauen zumal, häufig die Erfahrung, dass sie für den gleichen Job „besser“ sein mussten als andere.[9]
Trotzdem war rechtliches Wissen mehr als nur ein Mittel zum Broterwerb, wie viele mit juristischen Argumenten und Mitteln geführte politische Auseinandersetzungen der 1970er Jahre deutlich machten. Kritische Jurist_innen gelangten dabei im Laufe der Zeit zu der Auffassung, dass ihr Einfluss vor allem „eine Frage der Zahl“ und des solidarischen Organisationszusammenhangs sei.[10] So entstanden unter anderem der „Republikanische Anwaltsverein“ (1979) oder die „Neue Richtervereinigung“ (1987), an den Universitäten bildeten sich Gruppen „Kritischer Juristen“ (die „kritischen Juristinnen“ wurden erst später mit benannt), heute organisiert im „Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen“ (BAKJ). Die Hochphase sichtbarerer Politisierung und konfrontativ geführter Gerichtsverfahren mag vorbei sein, aber der Einsatz zugunsten unterprivilegierter Interessen prägt noch immer das Selbstverständnis mancher Anwält*innen.[11]
Be the alternative!
Die Erwartung, ein paar mehr Linke in Justiz und Anwaltschaft könnten die Welt verändern, ist natürlich naiv. Aber völlig illusionär ist die Annahme, die rechtlichen Verhältnisse würden sich schon von alleine zum Besseren entwickeln.Wer heute auf die rechtspolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte in Deutschland und anderswo zurückblickt, wird zugeben müssen, dass im Kampf um Recht(e) auf ganz unterschiedlichen Ebenen doch Verbesserungen erzielt oder zumindest Rückschritte verhindert werden konnten. Ob mehr erreicht würde, wenn kritische Jurist_innen in andere Disziplinen abwanderten und Linke sich mit dem Recht allenfalls noch sozialwissenschaftlich beschäftigten, muss dagegen stark bezweifelt werden. Und das nicht nur, weil die großen Wirkungsmöglichkeiten für kritische Sozialwissenschaftler_innen auch nicht ersichtlich sind. Eine Rückkehr zur traditionellen „marxistische[n] Distanz zum Recht“[12] ist theoretisch so problematisch wie es politisch nur perspektivlos genannt werden kann, praktische Rechtsarbeit beim Bemühen um gesellschaftliche Emanzipation auszublenden. Wenn das andauernde Ringen um „globale soziale Rechte“ erfolgreich sein soll, sind dazu Jurist_innen in verschiedensten Funktionen nötig.
Also bildet Euch und bildet akj-Banden! Es lohnt sich, die häufig nur scheinbar unpolitischen Fragestellungen im Jurastudium kritisch zu durchleuchten. Oft genügt auch schon ein Praktikum in einer engagierten Kanzlei, um zu bemerken, dass man mit Jura nicht nur konkret Menschen helfen kann, sondern dass im Recht auch relevante politische Auseinandersetzungen geführt werden. Weswegen wir nicht weniger kritische Jurist_innen brauchen, sondern mehr!
[1] Vgl. Lena Dammann, Sozialisation durch Prüfungsangst und Leistungsdruck, Forum Recht 2006, 60; Sonja Buckel, Die Mechanik der Macht in der juristischen Ausbildung, Kritische Justiz (KJ) 2002, 111.
[2] Helmut Ridder, Verfassungsreformen und gesellschaftliche Aufgabe des Juristen, KJ 1971, 371 (373).
[3] Vgl. Laura Hilb/ Lisa vom Felde, Refugee Law Clinics in Deutschland – ein studentisches Modell für die Veränderung der juristischen Ausbildung?, Kritische Justiz (KJ) 2016, 220.
[4] Vgl. Nora Markard: Grund- und Menschenrechte verteidigen – schon im Studium: Die Humboldt Law Clinic, in: Stephan Barton et al., Hg., Praktische Jurisprudenz. Clinical Legal Education und Anwaltsorientierung im Studium, Bielefeld 2011, 133.
[5] Überblick zur Debatte Thomas Blanke, Dilemma der verfassungspolitischen Linken, in: Hubert Rottleuthner (Hrsg.), 1975, S. 419-483
[6] Ulrich K. Preuß, Zur Funktion eines Zusammenschlusses gesellschaftskritischer Juristen, KJ 1971, 378 (380).
[7] Ridder, KJ 1971, 371 (374 f.).
[8] Uwe Wesel, Vom Wirken des Juristen auf die Gesellschaft, Kursbuch 40 (1975), 77 (88).
[9] Vgl. Klaus Eschen, Vor den Schranken, Kursbuch 40 (1975), 103 (110).
[10] Wesel, Kursbuch 40 (1975), 77 (96).
[11] Dazu Ulrike Müller, Wartezimmerpolitik & Professionelle Direkte Aktion, das freischüßler 15 (2007), 31.
[12] Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, 1961, Kapitel 20.