Völkerrecht ist Teil einer globalen Fortschrittserzählung. Anstelle von Chaos, Gewalt und Macht verspricht es Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit. Aber wessen Stimmen erzählen da eigentlich? Und haben die Versprechen des Völkerrechts im Lichte seiner kolonialen Wurzeln und krasser globaler Ungleichheiten überhaupt noch Plausibilität?
Globale Verrechtlichung ist en vogue. Internationalisierung, Transnationalisierung und Globalisierung sind als geflügelte Schlagwörter heute nicht mehr aus dem Jurastudium hinwegzudenken. Dafür gibt es gute Gründe: Wo sich Krisen und Konflikte internationalisieren, muss auch das Recht die nationalen Grenzen überspringen; und wo die Ausübung von Hoheitsgewalt den staatlichen Rahmen verlässt, darf auch der Rechtsschutz nicht hinterherhinken. „Mehr Völkerrecht“ ist aber nicht nur eine empirische Beobachtung, sondern darüber hinaus Teil einer globalen Fortschrittserzählung, die kalte Interessenpolitik und ungezügelte Macht mit den Mitteln des Völkerrechts zu überwinden versucht.
Dennoch ist diese Geschichte vom globalen Fortschritt durch Recht nicht unwidersprochen geblieben: Aus unterschiedlichen Perspektiven wurden die Versprechen des Völkerrechts immer wieder bezweifelt. Dieser Beitrag möchte ein Schlaglicht auf eine kritische Perspektive werfen, die bislang nur wenig Widerhall erfahren hat und hier als postkoloniale Völkerrechtstheorie bezeichnet werden soll. Dabei handelt es sich um ein Sammelbecken verschiedener Strömungen, die sich kritisch mit der historischen Rolle des Kolonialismus und seinem Fortwirken im Völkerrecht der Gegenwart beschäftigen.
Ausgangspunkt postkolonialer Völkerrechtstheorien sind zweierlei Befunde: Zum einen kann die Ära des Kolonialismus nicht als bloße Abirrung in der Völkerrechtsordnung abgetan werden. Im Gegenteil ist koloniale Herrschaft im Wege völkerrechtlicher Argumente und Doktrinen legitimiert worden und hat ihrerseits das Völkerrecht geprägt. Zum anderen kamen koloniale Strukturen nicht mit der formellen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien zu einem Ende, sondern setzen sich auf verschiedenen Wegen fort.
Third World Approaches to International Law (TWAIL): Drei Motive
Eine der wichtigsten Bewegungen der postkolonialen Völkerrechtstheorie sind Third World Approaches to International Law (TWAIL). TWAIL analysiert das Völkerrecht nicht als ein neutrales Gebilde, sondern als Struktur, die zur Verfestigung erheblicher globaler Ungleichheiten beiträgt – insbesondere im Globalen Süden. Die theoretischen Zugriffe von TWAIL sind dabei immens vielfältig und reichen von marxistischen und postmodernen über feministische und literaturwissenschaftlich inspirierte Analysen.[1] Trotz dieser Vielfalt lassen sich aber drei Punkte herausgreifen, die als eine Art übergeordnetes Motiv TWAIL als Strömung durchziehen.
Universalismus und Partikularismus
Erstens beschäftigt sich TWAIL mit dem epistemischen Wechselspiel zwischen Universalismus und Partikularismus im Völkerrecht, also der Frage, welche Normen, Werte und Vorannahmen weltweit oder lediglich lokal anerkannt sind. Dabei geht es insbesondere um die Frage wessen Rechte universalisiert werden sollen und wie die Behauptung, ein Recht sei universell anerkannt, diskursiv konstruiert wird. Hierfür werden Einsichten aus postkolonialen Theorien fruchtbar gemacht, die uns lehren, dass die Konstruktion sozialer Kategorien mit universalem Geltungsanspruch erst in Abgrenzung zu einem „Anderen“ vollzogen wird. Als griffiges Beispiel lässt sich die internationale Rechtsstaatsförderung in der Entwicklungszusammenarbeit heranziehen. Während auf den ersten Blick gegen eine Förderung der „rule of law“ nichts einzuwenden ist, stellt sich auf den zweiten Blick schnell heraus, dass auch hier verschiedene partikulare Vorstellungen darum konkurrieren, als natürlich und universal wahrgenommen zu werden. Bedeutet Rechtsstaatlichkeit die Garantie „klarer“ und „sicherer“ Eigentumstitel oder deren Einschränkung zugunsten kollidierender Rechtspositionen? Ist die Ausgestaltung von Landrechten nur dann förderlich für die „Entwicklung“ eines Staates, wenn sie nach westlichem Vorbild entlang individueller Rechte gedacht wird oder lässt sich stattdessen nicht von kollektiven Nutzungsformen lernen?[2]
Völkerrecht und Verteilung
Zweitens fragt TWAIL nach dem ökonomischen Wechselspiel zwischen Völkerrecht und globaler Verteilung von Reichtum und Ressourcen. Im Lichte krasser Armut und extremer Wohlstandsgefälle sind das Recht und die Institutionen des Wirtschaftsvölkerrechts auf ihre stabilisierende Wirkung dieses status quo hin zu befragen.[3] Hierzu gilt es das Völkerrecht innerhalb der internationalen politischen Ökonomie zu kontextualisieren[4] und die distributive Dimension wirtschaftsvölkerrechtlicher Normen aufzudecken. Als Beispiel lässt sich das internationale Investitionsrecht anführen: Anhand von sog. Bilateral Investment Treaties (BITs) lassen sich eine Reihe von Motiven postkolonialer Völkerrechtstheorien nachvollziehen: Die Normen des internationalen Investitionsrechts privilegieren internationale Investorinnen und Investoren auf eine fast schon atemberaubende Weise,[5] die historischen Wurzeln von BITs liegen in der Sicherung des Kapitals im Kolonialismus[6] und die institutionelle Anbindung liegt mit der Weltbank in einer Institution, die seit jeher vom globalen Norden dominiert ist.
Macht und Ideologie
Drittens analysiert TWAIL das politische Wechselspiel zwischen Ideologie, Macht und Völkerrecht. Hier sind es vor allem die internationalen Institutionen, die im Zentrum der Analyse stehen. Als gemeinsame Ausgangspositionen lässt sich dabei ein Verständnis von internationalen Institutionen ausmachen, das Institutionen als komplexe Spielfelder konkurrierender Ideologien versteht.[7] Dem globalen Gefälle zwischen Nord und Süd kommen dabei mehrere institutionelle Dimensionen zu. Faktisch spiegelt sich das Gefälle in Ungleichheiten bezüglich von Wissen, Verhandlungsmacht und juristischer Expertise wider.[8]Rechtlich manifestiert sich die Dominanz des Nordens wohl am prominentesten in den internationalen Finanzinstitutionen. Anders als es der völkerrechtliche Grundsatz der Staatengleichheit vorsieht, richten sich die Stimmrechte in der Weltbank und im internationalen Währungsfond nach den finanziellen Einlagen der Mitgliedstaaten.
Was tun? Von der Rolle des Rechts…
Postkoloniale Völkerrechtstheorie ist aber mehr als eine analytische Linse, durch die sich das Völkerrecht betrachten lässt. Sie versteht sich auch als Projekt mit dem Anspruch einer progressiven Umgestaltung der Völkerrechtsordnung. Damit ist zugleich etwas über die instrumentelle Rolle des Rechts gesagt: Anders als in einigen marxistischen Zugängen zum Völkerrecht wird am Recht als Mittel zur gesellschaftlichen Umgestaltung festgehalten. Anstatt die Form des Rechts grundlegend abzulehnen, müsse das Recht in all seinen Ambivalenzen gesehen werden, als Unterdrückungsinstrument, aber auch als Schutzschild und Sprache, in der sich die Marginalisierten ausdrücken können.[9]
… zur Neuausrichtung der Kompassnadel
Postkoloniale Zugänge zum Völkerrecht haben damit eine Strahlkraft, die weit über den Globalen Süden hinausreicht – denn die Fragen, die an das Völkerrecht gestellt werden, sind allgemeinerer Natur und weisen weit über das Verhältnis von Norden und Süden hinaus. Alle drei Motive, in die dieser Artikel eingeführt hat, lassen sich heute auch in Kontexten finden, die geographisch zwar nicht im Globalen Süden zu verorten sind, aber gleichermaßen die „dunkle Seite“ des Völkerrechts zu spüren bekommen, seien es Austeritätsmaßnahmen gegenüber südeuropäischen Staaten oder Klagen internationaler Investorinnen und Investoren gegen Staaten des Globalen Nordens. Umgekehrt führt der (Wieder)aufstieg einiger Teile des Globalen Südens dazu, dass die repressiven Instrumente des Völkerrechts bisweilen nur die Hände wechseln. Postkoloniale Völkerrechtstheorien werden auf die globalen Kräfteverschiebungen zwischen Nord und Süd Antworten finden müssen – und in der Tat beginnen jüngere kritische Stimmen aus dem Globalen Süden damit, den analytischen Mehrwert dieser Unterscheidung in Frage zu stellen.[10] Freilich würde hierdurch der Unterschied zwischen postkolonialer und kritischer Völkerrechtstheorie langfristig noch weiter verschwimmen. Aber vielleicht verbirgt sich dahinter nur die Einsicht, dass dem alten Universalitätsversprechen des Völkerrechts doch ein emanzipatorischer Kern innewohnt: Rechte werden nicht entlang von Staat, Nation und Grenzen, sondern weltweit erstritten.
Weiterführende Literatur:
Maxim Bönnemann/Maximilian Pichl: Postkoloniale Rechtstheorie, in: Sonja Buckel / Ralph Christensen / Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Auflage, UTB/Mohr Siebeck, 2020, S. 359–375
Luis Eslava/Sundhya Pahuja: Beyond the (Post)Colonial: TWAIL and the Everyday Life of International Law, Verfassung und Recht in Übersee 45 (2012), 195 ff.
Sundhya Pahuja: Decolonising International Law, Cambridge University Press 2011
* Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine stark gekürzte Version eines gleichnamigen Artikels aus der Zeitschrift Forum Recht 4/2016.
[1] Einen guten Überblick gibt James Thuo Gathii, TWAIL: A Brief History of its Orgins, its Decentralized Network, and a Tentative Bibliography, Trade L. & Dev. 3 (2011), 26 ff.
[2] Judith Schachereiter, Propertization as a Civilizing and Modernizing Mission. Land and Human Rights in the Colonial and Postcolonial World, in: Nikita Dhawan (Hrsg.), Decolonizing Enlightenment: Transnational Justice, Human Rights and Democracy in a Postcolonial World, 227 ff.
[3] Siehe dazu James Thuo Gathii, Third World Approaches to International Economic Governance, in: Richard Falk/Balakrishnan Rajagopal/Jacquelin Stevens (Hrsg.), International Law and the Third World: Reshaping Justice, 255 ff.
[4] Sundhya Pahuja, Decolonizing International Law, Cambridge University Press 2011, S. 99.
[5] M. Sornarajah, Resistance and Change in the International Law on Foreign Investment, Cambridge University Press, 2015.
[6] Asha Kaushal, Revisiting History: How the Past Matters for the Present Backlash Against the Foreign Investment Regime, Harvard International Law Journal 50 (2009), 491 ff.
[7] Balakrishnan Rajagopal, Counter-hegemonic International Law: Rethinking Human Rights and Development as a Third World Strategy, Third World Quarterly 27 (2006), 767 ff.
[8] Für eine Analyse am Beispiel eines milliardenschweren Schiedsverfahrens gegen Indien vgl. Gus Van Harten, TWAIL and the Dabhol Arbitration, TRADE L. & DEV. 3 (2011), 131 ff.
[9] Bhupinder Chimni, Third World Approaches to International Law: A Manifesto, International Community Law Review 8 (2006), 3 (26).
[10] Prabhakar Singh, Indian International Law: From a Colonized Apologist to a Subaltern Protagonist, Leiden Journal of International Law 23 (2010), 79 ff.