Wer gegen das Gesetz verstößt, wird bestraft. Das erscheint in unserer Gesellschaft selbstverständlich. Und auch im Jurastudium werden an den meisten Unis weder mögliche Gründe für Straftaten noch die Rechtfertigungen für Strafe oder ihre Auswirkungen diskutiert. Wieso und unter welchen Bedingungen aber strafen wir? Wie wirkt sich Strafe aus und welche Möglichkeiten abseits des Strafsystems gibt es?
Strafrechtstheorien entwickeln normative Rechtfertigungen für Strafe. Während Soziologie, Geschichtswissenschaften oder Psychologie untersuchen, was, wie und unter welchen Bedingungen eine Gesellschaft einen Einzelnen straft, widmen sich die Straftheorien der Frage, wann, wie und warum eine Person bestraft werden sollte. Darauf gibt es sehr unterschiedliche Antworten:
In den sogenannten absoluten Straftheorien ist die Strafe eine notwendige Folge des Verbrechens. Im Zentrum dieser Theorien stehen Schuldausgleich und die Wiederherstellung einer metaphysischen Gerechtigkeit. Bei Immanuel Kant folgt die Notwendigkeit von Bestrafung aus seiner Annahme, der Mensch sei vernunftbegabt und frei. Als freie und vernunftbegabte Menschen entscheiden sich auch Straftäter*innen aus freien Stücken dazu, gegen ein Gesetz zu verstoßen. Um dieses Unrecht auszugleichen, müssen sie konsequenterweise bestraft werden.[1] Auch für Hegel, Philosoph des deutschen Idealismus, bedeutet die Verhängung von Strafe zugleich die Anerkennung des*r Straftäter*in als „Vernünftiges“. Die Gesellschaft schuldet dem*r Täter*in die Strafe. Jeder Zweck, der außerhalb der Tat und ihrer Sühne liegt – Umerziehung der Täter*innen oder Abschreckung der restlichen Gesellschaft etwa – ist für Hegel eine Missachtung der Gesetzesbrecher*innen als Menschen.[2]
Relative Straftheorien rechtfertigen Strafe mit eben jenen von Hegel verworfenen Zwecken. Strafe soll zur „Besserung“ und Wiedereingliederung der Täter*innen in die Gesellschaft führen. Sie soll nicht lediglich vergangenes Unrecht ausgleichen, sondern für die Zukunft verhindern, dass Täter*innen (weitere) Straftaten begehen, und sie wieder zu „braven Bürger*innen“ machen. Neben diesem spezialpräventiven Zweck wird Strafe mit ihrer (angeblich) abschreckenden Wirkung auf die gesamte Gesellschaft begründet und gerechtfertigt (Generalprävention). Mittels Strafen sollen also weitere Straftaten verhindert werden.[3] Dieses Ziel rechtfertigt das Mittel. Präventions-, Abschreckungs- und Erziehungs-, aber auch Vergeltungsargumente werden bis heute in der öffentlichen Diskussion um Strafe angeführt. Und auch in den Strafbegründungen der Rechtspraxis finden sich Ansätze sowohl von absoluten als auch relativen Straftheorien: Das Bundesverfassungsgericht hat es „als allgemeine Aufgabe des Strafrechts bezeichnet, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte eines angemessenen Strafsanktion bezeichnet.“[4]
Erziehen und Bestrafen
Darüber, ob Strafe zu diesen Zwecken überhaupt taugt, lässt sich streiten. Beispielsweise ist es empirisch nicht nachgewiesen, dass eine hohe Strafandrohung eine abschreckende Wirkung hat.[5] Andere Faktoren, wie die informelle Kontrolle durch das soziale, familiäre Umfeld, oder erlernte Werte und Konfliktlösungsstrategien gelten als mindestens ebenso bedeutend. Auch eine resozialisierende Wirkung der Strafe wird von vielen aus guten Gründen bestritten. Die starke Stigmatisierung, die ehemalige Insass*innen nach der Freilassung an die gesellschaftlichen Ränder drängt, begünstige die Begehung neuer Straftaten und führe zur Entstehung von sogenannten sekundärer Devianz.[6] Und auch der strenge Haftalltag führe nicht dazu, dass Häftlinge eigenverantwortliches Handeln erlernen, sollten sie das tatsächlich nötig haben.
Zwar mutet die Idee der Resozialisierung humaner und rationaler an, als Strafmaßnahmen, die auf Vergeltung oder Sühne gerichtet sind. Die Verlagerung des Strafsystems in Bereiche der Sozialpädagogik bedeutet aber auch eine Verschiebung der strafrechtlichen Beurteilung von der Tat zum*r Täter*in. Nicht mehr die Rechtsverletzung, sondern vermeintliche Mängel in der Person des*r Täters*in werden geahndet. Die Tat ist der Anlass der Strafe und nicht mehr ihr Grund. Die strafrechtlichen Sanktionen richten sich ebenso wie viele sozialstaatliche Maßnahmen darauf, unzulängliche Menschen „zu verbessern“. „Schmarotzer*innen“, „Taugenichtse“ und „Versager*innen“ sollen in die Gesellschaft eingepasst werde. In erster Linie meint das, sie sollen einer legalen Lohnarbeit nachgehen. Wer sich trotz dieser staatlichen Unterstützung nicht anpassen kann, hat es in der Logik eines auf Besserung ausgerichteten Strafsystems verdient, bestraft zu werden.
Mit der Kriminalisierung einer Handlung findet stets eine Bewertung statt. Die Bezeichnung eines Verhaltens als Straftat gibt vor, wer sich „falsch“ verhält. Ausgeblendet wird dabei indes, dass man den Konflikt, der normwidrigem Verhalten zugrunde liegt, auch ganz anders beurteilen kann. Die Illegalisierung von Drogen etwa führt dazu, dass „die Junkies“ oder „die Dealer“ einseitig als Problem ausgemacht und nicht etwa die gesellschaftlichen Hintergründe thematisiert werden, die mit dem Konsum von Drogen häufig einhergehen. Mit dem Labeling eines Verhaltens als Straftat werden also die dem Verhalten zugrundeliegenden Ursachen und Konflikte verschüttet. Soziale Probleme verschwinden darunter. Das Scheitern der als „Abweichler“ gebrandmarkten wird zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Die damit verbundene Bestrafung ist in diesem Sinne „gerecht“.
Neutralität und Gleichheit?
Das Strafrecht legt keine logischen oder natürlichen Notwendigkeiten fest. Kein Gesetz ist natürlicherweise einfach da und schon gar nicht vom Himmel gefallen. Gesetze werden von Menschen gemacht, sie werden erlassen, geändert oder abgeschafft, abhängig davon welche Meinungen sich im politischen Prozess durchsetzen. Die Gesetzesform stabilisiert diese hegemonialen Meinungen dann. Gesetze verfestigen Machtstrukturen und vorherrschende Werturteile und reproduzieren gesellschaftliche Ungleichheiten.
Denn formale Rechtsgleichheit geht gerade nicht mit einer faktischen gesellschaftlichen Gleichheit einher. Menschen sind zwar formal gleich, leben aber unter den unterschiedlichsten Bedingungen und verfügen in sehr unterschiedlichem Maße über kulturelle, ökonomische oder soziale Möglichkeiten. Die Einhaltung einer Strafrechtsnorm ist deshalb mitnichten für alle Menschen gleich leicht oder auch nur erstrebenswert.
Die Leitbilder, an denen sich die Strafnormen ausrichten – Orientierung am „Arbeitsmarkt“, an Flexibilität und Disziplin oder an „ehrlicher“ Arbeit –, sind Teil eines Gesellschaftssystems, in dem Freiheit in erster Linie ökonomische Freiheit bedeutet. Aus einer rechtlichen Gleichbehandlung ohne die Berücksichtigung gesellschaftlicher Ungleichheiten resultieren faktische Ungleichbehandlungen. Es ist kein Zufall, dass Personen aus gesellschaftlich benachteiligten Gruppen überproportional häufig vom Strafsystem verfolgt werden. Denn die Handlungen und Situationen, die vom Strafrecht kriminalisiert werden, sind in der Regel solche, die eher die Lebenswirklichkeit eben dieser Personenkreise betreffen.[7] Man denke nur an das im deutschen Strafgesetzbuch sehr prominent vertretene Eigentums- und Vermögensstrafrecht. Andere Straftaten können nur von bestimmten Personengruppen überhaupt begangen werden, wie etwa die Regelungen aus dem Ausländerstrafrecht: Nur wer keinen deutschen Pass besitzt, kann überhaupt straffällig werden.
Was tun?
Strafrecht kann nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet werden. Darin, was „strafbar“ ist und was nicht, wie strafbares Handeln definiert wird, wessen Handeln adressiert wird und welches Verhalten ermöglicht wird, spiegeln sich grundsätzliche gesellschaftliche Widersprüche wider.
Zwar gibt es an manchen Stellen gute Gründe dafür, auch als kritische Jurist*in für die Einführung und Verschärfung von Straftatbeständen bzw. die Durchsetzung des Strafrechts zu kämpfen. In Bereichen wie dem Umwelt- oder Sexualstrafrecht oder bei einzelnen Straftatbeständen wie der Volksverhetzung können mit Hilfe des Strafrechts bestehende Machtstrukturen angegriffen werden. Doch ganz unabhängig von der inhaltlichen Ausgestaltung des Strafrechts bleibt dessen gesellschaftliche Funktion als Ausschließungs- und Anpassungsinstrument bestehen.
Alternativen zum Strafen werden derzeit rund um die Theorien von Transformative Justice und Community Accountability entwickelt. Women* und Trans* of color in den USA, die im Falle von sexueller Gewalt oder Gewalt in Beziehungen, von staatlichen Behörden weitere Gewalt befürchten müssen, erarbeiten diese Konzepte als Strategien, um aus den Situationen zu entkommen, sie zu verarbeiten und die Täter*innen verantwortlich zu machen, ohne dass diese dem Strafsystem zugeführt werden. Zentrale Aspekte sind gemeinschaftliche Unterstützung der betroffenen Person in ihrer Selbstbestimmung und Sicherheit, Maßnahmen in der Community, die gegen Unterdrückung und Gewalt gerichteten Haltungen und Praxen stärken, strukturelle Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Arbeit daran, dass der*die Gewaltausübende Verantwortung für sein*ihr Verhalten übernimmt und es ändert.[8] All das mag, selbst wenn es „im Kleinen“ funktioniert, „im Großen“ unrealistisch erscheinen. Doch viele Konzepte erscheinen zunächst unrealistisch und sind solange nicht vorstellbar, bis man sie erprobt und weiterentwickelt. Fest steht: So wie das herrschende Strafsystem funktioniert, kann es nicht bleiben.
Solange es aber so bleibt, bleibt es auch ungebrochen wichtig, die gesellschaftliche Funktion von Strafrechtsnormen und die um sie geführten Debatten im Blick zu behalten und nicht lediglich Sachverhalte unter Straftatbestände zu subsumieren.
Laura Wisser und Robert Winkler
[1] Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), § 49.
[2] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), §§ 99 ff.
[3] Bernd-Dieter Meier, Kriminologie, 4. Aufl., 2010, § 9, Rn. 13.
[4] BVerfGE 45, 187, 253 f.
[5] Meier, § 9, Rn. 83 ff.
[6] Albrecht in Kaiser u.a., Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl.1993, 498.
[7] Helga Cremer-Schäfer / Heinz Steinert, 42 f.
[8] Melanie Brazzell, Transformative Gerechtigkeit statt Polizei und Gefängnisse: Für einen alternativen Umgang mit sexualisierter Gewalt und Beziehungsgewalt, S.287 ff.