Im Sommer 2020 sah das Kammergericht Berlin Stealthing, das heimliche Abstreifen des Kondoms beim Sex entgegen einer Absprache, noch als eine strafbare Handlung. Ein Richter am Amtsgericht Kiel sah dies jedoch Ende des Jahres anders.
In § 177 I StGB heißt es, dass die Vornahme sexueller Handlungen gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person, strafbar ist. Geschützt wird darin das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Dies betreffe jedoch nicht die Frage, ob beim Sex ein Kondom benutzt würde, urteilte der Richter und sprach einen Angeklagten frei.
Unterstützer*innen der Entscheidung argumentieren, dass Stealthing als unbeachtliche Täuschung bewertet werden müsse, da der Geschlechtsverkehr an sich gewollt gewesen wäre und somit keine sexuelle Handlung gegen den Willen einer Person vorgenommen würde. Eine erweiterte Betrachtung führe zu einer uferlosen, nicht mehr bestimmbaren und moralisierenden Strafbarkeit im Kontext von sexuellen Handlungen. Beispielsweise bei Lügen über die eigene Beziehungswilligkeit, wenn diese Bedingung für den sexuellen Kontakt ist. Der Staat könne hier das Benutzen des Kondoms nicht anders bewerten und damit Grenzen innerhalb der Intimsphäre festlegen.
Dem entgegenzusetzen ist, dass nicht etwa getäuscht wurde, um ein Einverständnis zu erlangen, wie bei Lügen über die eigene Person, wobei auch das nicht konsensuell wäre, sondern das Einverständnis an sich nur auf bestimmte sexuelle Handlungen gerichtet war. Dabei stellen Sex mit oder ohne Kondom unterschiedliche sexuelle Handlungen dar, die sich allein schon aus der unterschiedlichen sexuellen Interaktion ergeben. Das Kondom dient dabei vor allem auch als tatsächliche Grenze, die den direkten Kontakt mit bestimmten Körperflüssigkeiten und -regionen verhindert und damit schützt und Kontrolle gibt. Es ist damit wesentlicher Bestandteil und oftmals auch Bedingung sexueller Handlungen.
Weiterhin ist zu beachten, dass § 177 I StGB einen erkennbaren, entgegenstehenden Willen fordert. Folglich obliegt es jeder*m Einzelnen selbst, in der sexuellen Interaktion Grenzen festzulegen, wobei der Staat lediglich dieses Recht vor Fremdbestimmung schützt. Stealthing per se geschieht jedoch immer heimlich und trotz entgegenstehenden Willens.
Die aktuelle Debatte umfasst weitere wichtige Argumente, wobei Schwierigkeiten der Beweisaufnahme und fehlende Aufklärung über sexuellen Konsens erschwerend hinzukommen. Die Auseinandersetzung damit unterließ der Richter jedoch vollständig. Bleibt zu hoffen, dass höhere Instanzen das anders bewerten und Stealthing bald einheitlich in Deutschland strafbar ist.