Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Bestrafung einer Frau für konventionswidrig erklärt, die in Genf wegen Bettelei zu einer Geldstrafe verurteilt worden war (Lăcătuş v. Switzerland, No. 14065/15, 19. Februar 2021). Die Antragstellerin stammte aus einer armen Familie, hatte keinen Anspruch auf Sozialleistungen, war arbeitslos und Analphabetin. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, war sie zwingend auf die Zuwendungen von anderen angewiesen. Zwischen 2011 und 2013 wurde sie mehrfach von der Polizei aufgegriffen und insgesamt neun Mal per Strafbefehl wegen Bettelns zu einer Geldstrafe von je 100 Schweizer Franken (CHF) verurteilt. Am 14. Januar 2014 verurteilt sie das Genfer Polizeigericht zur Zahlung von 500 CHF, was durch eine fünftägige Freiheitsstrafe ersetzt wurde.
Der EGMR entschied nun, dass sie dadurch in ihrem Recht auf Achtung ihres Privatlebens nach Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt worden ist. Das pauschale Verbot einer Handlung wie der Bettelei erfordere eine besonders sorgfältige Abwägung der beeinträchtigten Rechte mit den ihre Beschränkung rechtfertigenden öffentlichen Interessen. Daran habe es hier gefehlt: für die Betroffene sei es beim Betteln ums Überleben gegangen. Das eigene Überleben in der Not auch durch Betteln sichern zu dürfen, sei inhärenter Bestandteil der Menschenwürde. Dem stünden die deutlich weniger schwerwiegenden Rechte von Ladenbetreiber*innen, Anwohner*innen und Passant*innen gegenüber sowie der Kampf gegen das organisierte Verbrechen.
Dass die Norm das Ziel verfolgen soll, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, zeigt deutlich seine ideologische Stoßrichtung. Nicht ohne Zufall war die Antragstellerin Romni rumänischer Herkunft. Dass Betteln und organisierte Kriminalität wie selbstverständlich zusammengedacht werden, lässt sich auf die Vorstellung angeblich straff organisierter, osteuropäischer Bettelbanden zurückführen – ein vor allem gegen Sinti und Roma gerichtetes Narrativ, das sich auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreut.
Das strafbewehrte Bettelverbot des Kantons Genf reiht sich zudem in eine unrühmliche Tradition der Kriminalisierung von Armut ein, die sich durch die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zieht, sei es in Form der Internierung von armen Menschen in Arbeitshäuser, der Verhängung von Ersatzfreiheitsstrafen bei Armutsdelikten und dem Verbot des Bettelns und des Nächtigens unter offenem Himmel.
Es ist zwar zu begrüßen, dass der EGMR in seiner Entscheidung zumindest pauschalen Bettelverboten Grenzen setzt und es nicht zulässt, dass Menschen kriminalisiert werden, denen zum Überleben keine andere Möglichkeit bleibt, als andere um Unterstützung zu bitten. Bedauernswert ist es jedoch, dass die Gelegenheit nicht genutzt wurde, der Kriminalisierung von Armut deutlichere Grenzen aufzuerlegen. Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn wir sozial benachteiligte Menschen mit den Mitteln des Strafrechts noch weiter nach unten stoßen, wenn deren einziges Vergehen darin besteht, um Hilfe zu fragen?