Im Zuge der Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie wurde auch die Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt. Welche unterschiedlichen Beschränkungen gab es? Wie gingen die Gerichte mit diesen Beschränkungen um? Und wie ist deren Reaktion einzuordnen? Ein Überblick über Rechtsprechung und Alternativen zur klassischen Versammlung.
„Das angeordnete Versammlungsverbot ist eine derzeit notwendige und angemessene Schutzmaßnahme.“[1] „Die […] irreversible Einschränkung von Grundrechten […] hat insoweit im Rahmen der Folgenabwägung geringeres Gewicht.“[2]„[Es ist] dem Antragsteller zuzumuten, vorübergehend […] auf eine Meinungsäußerung zu aktuellen politischen Problemen mittels öffentlicher Demonstration zu verzichten.“[3]
Noch vor gut einem Jahr hätten solche Sätze in deutschen Gerichtsurteilen erhebliche Kritik nach sich gezogen. Doch das Sars-CoV-2-Virus brachte das Gleichgewicht, das vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Versammlungsrecht gefunden wurde, durcheinander. Bisherige Maßstäbe galten nicht mehr und neue mussten erst noch entwickelt werden. Vor allem durch die Großdemonstrationen gegen die Corona-Beschränkungen in Berlin und Leipzig ist das Versammlungsrecht auch in den Fokus der gesellschaftlichen Debatte gerückt. Eine wichtige Rolle in dieser Debatte nahmen die Gerichte ein. Sie sahen sich mit der schwierigen Situation konfrontiert, der Tendenz der Landesregierungen zu ausufernden Beschränkungen entgegentreten zu müssen, ohne jedoch den Gesundheitsschutz und die dafür notwendige Eindämmung der Ausbreitung des Virus vernachlässigen zu dürfen.
In einer repräsentativen Demokratie wie der deutschen stehen den Bürger*innen zwischen den Wahlen nur eingeschränkte Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Politik zur Verfügung. Deswegen sieht das Grundgesetz (GG) Versammlungen als ein zentrales Mittel vor, um auch zwischenzeitlich Druck auf die Politik aufbauen und politische Veränderung herbeiführen zu können. Die Versammlungsfreiheit ist daher eines der zentralen politischen Freiheitsrechte des Grundgesetzes.[4] Doch auch sie wird nicht vorbehaltlos gewährleistet. Versammlungen unter freiem Himmel unterliegen einem Gesetzesvorbehalt, sie können durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden. Auch im Infektionsschutzgesetz gibt es mehrere Grundlagen für die Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Von diesen Regelungen wurde im vergangenen Jahr umfassend Gebrauch gemacht. Die Form der Beschränkungen fiel dabei von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich aus.
Totalverbote zu Beginn der Pandemie
Einige Landesregierungen gingen so weit, ein generelles Verbot von Versammlungen zu erlassen, bei denen keine Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vorgesehen war.[5] Solche Totalverbote wurden in manchen Bundesländern explizit geregelt, das heißt mit einer ausdrücklichen Untersagung von Versammlungen. Andere Bundesländer erließen sie implizit, indem Kontakte in der Öffentlichkeit auf wenige Personen oder Haushalte beschränkt wurden, ohne eine Ausnahmeregelung für Versammlungen zu schaffen. Auch dadurch wurden Demonstrationen faktisch unmöglich gemacht.
Doch einige Gerichte bestätigten zu Anfang der Pandemie selbst diese massiven Beschränkungen.[6] Dies wurde vor allem auf die erheblichen Gesundheitsgefahren von Covid‑19 und die zeitliche Befristung der Maßnahmen gestützt. Dem schob das BVerfG jedoch einen Riegel vor, indem es klarstellte, dass der Behörde, die über die konkrete Versammlung zu entscheiden hat, immer ein Entscheidungsspielraum bleiben müsse.[7] Dieses Urteil markierte eine Trendwende. Der überwiegende Teil der Rechtsprechung stufte Totalverbote in der Folge als Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit ein.
Das BVerfG beendete damit die Phase zu Beginn der Pandemie, in welcher den Behörden und Regierenden, auch in der öffentlichen Diskussion, ein großer Spielraum bei der Einschränkung von Grundrechten eingeräumt wurde. Dies war der vorherrschenden Unsicherheit über die drohende Gefahr zuzuschreiben. Nichtsdestotrotz verletzen Totalverbote den Kern der Versammlungsfreiheit, ihren Wesensgehalt, der durch Art. 19 Abs. 2 GG geschützt ist. Auch mit dem mangelnden Wissen über das Virus und dessen angemessene Bekämpfung musste klar sein, dass solche kategorischen Verbote nicht mit der Verfassung vereinbar sind. Mit fortschreitender Entwicklung der Pandemie und den neu gewonnenen Erkenntnissen über die Gefährlichkeit des Virus wurden zudem immer mehr mildere Möglichkeiten zum adäquaten Infektionsschutz erkennbar. Die kategorischen Totalverbote erwiesen sich zunehmend als nicht mehr erforderlich und daher unverhältnismäßig.[8] Diese Entwicklung spiegelte sich auch in der Rechtsprechung wider.
Das Modell des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt
Eine mildere Form der Beschränkungen war ein Verbot mit der Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung. Eine solche Genehmigung konnte bei infektionsschutzrechtlicher Vertretbarkeit der Versammlung erfolgen. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Form ist umstritten, da es sich immer noch um ein grundsätzliches Verbot handelt und die Genehmigung von der Behörde abhängt. Im Versammlungsrecht hat das BVerfG normalerweise schon die Pflicht zur Anmeldung einer Versammlung nur unter der Voraussetzung für zulässig erklärt, dass sie das Versammlungsrecht nicht unverhältnismäßig einschränkt und nicht ausnahmslos eingreift.[9] Das illustriert die empfindliche Situation, in der sich diese Regelungen bewegen. Problematisch war zu Anfang der Pandemie zudem, dass kaum Ausnahmegenehmigungen erteilt wurden, wodurch sie ihren den Grundrechtseingriff abmildernden Charakter praktisch einbüßten.
Die Gerichte hielten jedoch auch dies für zulässig, teilweise wurde alleine das Bestehen der Möglichkeit von Ausnahmen als ausreichend erachtet.[10] Auch hier wurde wieder auf die zeitliche Befristung der Maßnahmen hingewiesen, einige Gerichte gingen sogar so weit, den vorübergehenden Verzicht auf Versammlungen für tragbar zu erklären, wenn ihre Zwecke auch nach Ende der Maßnahmen noch verfolgt werden könnten.[11] Dieser Hinweis kann mit Hinblick auf die immer noch geltenden Einschränkungen fast als zynisch gelten.
Andere Gerichte sahen in diesen Verboten mit Erlaubnisvorbehalt hingegen einen Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit.[12] So wies das Verwaltungsgericht (VG) Hamburg darauf hin, dass es kaum vorhersehbar oder überprüfbar sei, unter welchen Bedingungen eine Ausnahmegenehmigung erteilt werde.[13]
Eine Bewertung der Verhältnismäßigkeit ist nur möglich, wenn nach der konkreten Ausgestaltung der Regelung differenziert wird. Zutreffend hat das VG Hamburg befunden, dass eine Regelung, die der Behörde Ermessen einräumt, es nicht voraussehbar macht, wann eine Ausnahme erteilt wird. Dadurch wird auch eine äußerst restriktive Handhabung des Vorbehalts möglich. Im Hinblick auf das in Art. 8 GG festgelegte Regel-Ausnahme-Verhältnis von grundsätzlicher Freiheit mit möglichen Einschränkungen und die ausdrücklich festgelegte Erlaubnisfreiheit muss dies als verfassungswidrig gelten.
Ist die Behörde jedoch in ihrer Entscheidung gebunden, indem sie die Versammlung bei infektionsschutzrechtlicher Vertretbarkeit zwingend erlauben muss, liegt der Fall anders. Denn die Bewertung des Infektionsschutzkonzepts obliegt dem Gesundheitsamt, also einer anderen Behörde, und erfolgt nach rein medizinischen Kriterien. Durch die rein sachliche Entscheidung wird der Versammlungsfreiheit angemessen Rechnung getragen. Eine solche Regelung erscheint zumindest vor dem Hintergrund einer derart ungewissen Situation, wie sie zu Beginn der Pandemie bestand, verhältnismäßig.
Differenzierte Betrachtung im Einzelfall
Wenn die Regelungen so gestaltet waren, dass die Behörde im Einzelfall über die Genehmigung oder das Verbot der Versammlung zu entscheiden hatte, überprüften die Gerichte diese Entscheidungen anhand verschiedener Kriterien.
Zunächst berücksichtigten die Gerichte, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung überhaupt von den Umständen des konkreten Falls ausgegangen war oder ob sie die Versammlung unter pauschalen Erwägungen beurteilt hatte. Vor allem in der Zeit kurz nach Erlass der ersten Einschränkungen wurden meist grundsätzliche Erwägungen, die auf jede Versammlung zutreffen, herangezogen, um Versammlungsverbote zu bestätigen. Häufig wurde dabei darauf abgestellt, dass die Versammlungsleitung keinen Einfluss auf die tatsächliche Zahl der Teilnehmer*innen habe, eine Beschränkung also nicht dazu führe, die Versammlung übersichtlicher und leichter steuerbar zu gestalten. Auch könne sie die Einhaltung der vorgesehenen Schutzmaßnahmen nicht gewährleisten. Eine Versammlung an einem öffentlichen Ort sei zudem bereits ihrem Zweck nach darauf ausgerichtet, Aufmerksamkeit bei Dritten zu erwecken. Daher sei eine unkontrollierte Ansammlung zu befürchten.[14]
Dieses Vorgehen erklärte das BVerfG in zwei richtungsweisenden Beschlüssen zu Versammlungsverboten für verfassungswidrig.[15] Ein Versammlungsverbot sei nur zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu erwarten sei, dass der Infektionsschutz nicht eingehalten werden könne. Dieser Wertung schlossen sich andere Gerichte in folgenden Urteilen überwiegend an. Das führte jedoch keineswegs in jedem Fall zu einer Rechtswidrigkeit des Verbots. Die Gerichte nahmen die Prüfung im Einzelfall dann selbst vor und kamen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Sind Versammlungen systemrelevant?
So verglichen einige Gerichte die Vorgaben für Versammlungen mit den allgemein geltenden Infektionsschutzregeln. In manchen Bereichen wie dem öffentlichen Personennahverkehr, beim Einkaufen, beim Sport oder am Arbeitsplatz seien die Einschränkungen weniger streng. Damit werde dort ein erhöhtes Ansteckungsrisiko in Kauf genommen. Diese Wertung müsse aufgrund des hohen Gewichts der Versammlungsfreiheit auch auf Versammlungen übertragen werden.[16] Dabei sei es ausreichend, wenn das allgemein bestehende Infektionsrisiko durch die Versammlung nicht wesentlich gesteigert werde.[17] Es sei sonst nur schwer nachvollziehbar, warum der Aufenthalt im öffentlichen Raum in größeren Gruppen unter Beachtung der Abstandsregeln grundsätzlich erlaubt, im Rahmen von Versammlungen aber verboten werde.[18]
Der Vergleich beschränkte sich aber nicht auf den Grad der Einschränkungen. Als die Bestimmungen wieder gelockert wurden, wiesen die Gerichte darauf hin, dass sich die hinter den Lockerungen stehenden Einschätzungen der Gefahrenlage auch in der Genehmigungspraxis von Versammlungen widerspiegeln müssten.[19]
Ein solcher Vergleich zeigte, dass Versammlungen teilweise ohne Tatsachengrundlage strengeren Maßstäben unterworfen wurden als sonstige Zusammenkünfte. Wenn sogar eine aus nur zwei Personen bestehende Versammlung verboten wurde, zog eine Einstufung als Versammlung keine aus Art. 8 I GG erwachsende größere Freiheit nach sich, sondern tiefgreifende staatliche Einschränkungen. Der Grundgedanke der Versammlungsfreiheit als Abwehrrecht gegen solche Eingriffe wurde dadurch ins Gegenteil verkehrt.
Versammlungsfreiheit für Maßnahmengegner*innen?
Ein anderer Gesichtspunkt, der von einigen Gerichten bei der Bewertung der Genehmigungsfähigkeit der Versammlung beleuchtet wurde, war ihr Inhalt. So wurde die Ablehnung einer solchen Genehmigung damit begründet, dass eine Versammlung ihr Ziel auch noch nach Ende der Pandemie wirksam verfolgen könne, wenn ihr Thema dann noch aktuell sei.[20] Bei einer Versammlung, die gegen die Infektionsschutzmaßnahmen eintrete, könne außerdem darauf geschlossen werden, dass die Teilnehmer*innen sich nicht an Auflagen hielten.[21] Diesem Schluss von Versammlungsinhalt auf ein mögliches Verhalten der Teilnehmer*innen trat das VG Berlin in seinem Beschluss zur Großdemonstration gegen die Infektionsschutzmaßnahmen in Berlin entgegen. Allein aus deren kritischer Haltung zu schließen, dass gegen Auflagen verstoßen werde, sei nicht statthaft, da dadurch jede Versammlung, die sich gegen die Maßnahmen richte, unmöglich gemacht werde.[22]
Umgekehrt war der Versammlungsinhalt aber auch bei der Erteilung von Ausnahmen für Versammlungen, die sich gegen die Infektionsschutzverordnungen richteten, von Belang. So urteilten mehrere Gerichte, dass eine Demonstration, die den Schutz der Versammlungsfreiheit während der Pandemie zum Inhalt hat und sich damit gegen deren Einschränkung positionieren will, nur während der Geltungsdauer der Verordnung sinnvoll sein könne.[23]
Problematisch ist bei diesem Ansatz, dass durch die Gerichte eine Bewertung der Dringlichkeit des Versammlungsziels erfolgte. Es darf aber nicht Aufgabe der Gerichte sein, eine solche Kategorisierung vorzunehmen und als dringlich eingestufte Inhalte priorisiert zu behandeln, zumal sie nicht objektiv vorgenommen werden kann. Man denke beispielsweise an eine Versammlung, die sich für mehr Klimaschutz einsetzt. Ist der Klimawandel nun ein weniger drängendes Problem als die Einschränkung von Grundrechten zum Schutz vor Infektionen? Die Wertung könnte hier mit guten Gründen auch zugunsten der Versammlung für den Klimaschutz ausfallen. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass eine Bewertung von Versammlungszwecken eine Einteilung in erwünschte und unerwünschte Versammlungen nach sich ziehen kann. Dies ist mit dem Konzept der Versammlungsfreiheit nicht vereinbar.
Digitale Versammlungen als Lösung?
Das grundsätzliche Problem, dass von großen Menschenmengen im öffentlichen Raum eine erhöhte Infektionsgefahr ausgeht, konnten während der Pandemie weder die Gerichte noch die Exekutivorgane überzeugend lösen. Daher wurden von Versammlungsveranstalter*innen kreative Alternativen entwickelt, um ihre Zwecke ohne eine physische Zusammenkunft zu erreichen.
So wurden viele Versammlungen in den digitalen Raum verlagert. Dies wurde auch von einigen Gerichten als gangbare Alternative zur physischen Versammlung gesehen.[24] Dabei stellt sich jedoch das Problem, dass die Öffentlichkeitswirkung von Versammlungen gerade aus der physischen Präsenz und der Besetzung des öffentlichen Raumes resultiert. Wie der „Netzstreik fürs Klima“ von Fridays for Future im Frühjahr gezeigt hat, kann eine solche Wirkung selbst bei groß dimensionierten und intensiv in der Öffentlichkeit beworbenen Online-Demonstrationen nur schwer erreicht werden. Außerdem ist für digitalen Protest ein Zugang zum Internet notwendig, was Fragen nach einem gerechten Zugang zu solchen Veranstaltungen aufwirft: Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass die gesamte Bevölkerung dafür geeignete Geräte besitzt. Damit werden insbesondere ökonomisch schwache Teile der Gesellschaft ausgeschlossen, wodurch die sozial kompensierende Wirkung der Versammlungsfreiheit, die gerade auch ein Recht der unterrepräsentierten Gesellschaftsschichten und Minderheiten sein soll, ausgehebelt wird. Letztlich, und das ist wohl entscheidend, fehlt es an der örtlichen Zusammenkunft mehrerer Personen, die laut BVerfG erforderlich ist, damit der Versammlungsbegriff des Art. 8 I GG erfüllt ist. Digitaler Protest ist demnach nicht von der Versammlungsfreiheit umfasst und genießt nicht den gleichen Schutz wie physische Demonstrationen im öffentlichen Raum. Er kann demnach in Krisenzeiten eine Ergänzung zur klassischen Versammlung sein, ist aber nicht als gleichwertige Alternative zu sehen. Insbesondere von Seiten der Gerichte ist es jedoch inakzeptabel, das Verbot einer Versammlung mit dem Hinweis auf digitale Protestmöglichkeiten zu rechtfertigen.
Kontaktloser Protest
Auch andere Protestformen, die ohne physische Anwesenheit vieler Menschen auskommen, wurden als Ersatz für klassische Versammlungen erprobt. Vor allem im Rahmen der Kampagne „Leave no one behind“, die auf die dramatische Situation von Geflüchteten an Europas Außengrenzen und insbesondere in überfüllten griechischen Lagern aufmerksam machen wollte, kam es zu mehreren großen Aktionen. Es wurden unter anderem Protestplakate und Schuhe in der Öffentlichkeit ausgelegt oder Stühle an zentralen Plätzen, wie vor dem Bundestagsgebäude, aufgestellt. Ein Vorteil dieser Proteste ist, dass die Zahl der teilnehmenden Personen leicht zu beschränken und kontrollieren ist. Dennoch wurde von einigen Gerichten ein mangelnder Infektionsschutz beklagt und die Aktionen wurden teilweise verboten oder aufgelöst.[25]
Auch die Kombination digitaler und klassischer Protestformen ist möglich, wie das Beispiel einer live gestreamten Hausbesetzung zeigt.[26] Bei all diesen Protestformen geht aber die Wirkung der Menschenmasse, die der Versammlung besonderes Gewicht verleiht, verloren. Außerdem wird der öffentliche Raum nicht im gleichen Maße von der Versammlung besetzt, was die Reichweite der Inhalte meist enorm reduziert. Auch diese Formen können physische Versammlungen daher nicht ersetzen.
Übung macht die Meisterin
Die Covid-19-Pandemie stellt das Versammlungsrecht vor eine unlösbare Aufgabe: Bereits die Zusammenkunft von Menschen stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Dennoch können Versammlungen nicht grundsätzlich verboten werden. Dass es bessere Lösungen als ein Totalverbot gab, zeigte nicht zuletzt das BVerfG auf. Auch andere Gerichte trugen mit genauen Prüfungen zu differenzierteren Regelungen bei. Die Rechtsprechung erfüllte damit zunehmend ihre Rolle als Korrektiv der Exekutive. Auch die kreativen Ansätze einiger Versammlungsveranstalter*innen konnten keine zufriedenstellende Alternative zur klassischen Versammlung bieten. Eine endgültige Lösung dieses Spannungsverhältnisses ist wohl nicht möglich. Mit den nun gewonnenen Erfahrungen lässt sich eine Steuerung der Maßnahmen in zukünftigen Krisensituationen aber präziser und damit grundrechtssensibler vornehmen.
Weiterführende Literatur:
Mario Martini / Bianca Thiessen / Jonas Ganter, Zwischen Vermummungsverbot und Maskengebot: Die Versammlungsfreiheit in Zeiten der Corona-Pandemie, NJOZ 2020, 929.
Mathias Hong / Maximilian Steinbeis, Podcast Corona Constitutional #8: Kein Mensch auf der Straße, Verfassungsblog v. 14.04.2020, https://verfassungsblog.de/corona-constitutional-8-kein-mensch-auf-der-strasse.
[1] VG Potsdam, Beschl. v. 9.4.2020, 3 L 350/20, BeckRS 2020, 12229, Rn. 12.
[2] BayVerfGH, Beschl. v. 26.3.2020, Vf.6-VII-20, juris Rn. 18.
[3] VG Köln, Beschl. v. 9.4.2020, 7 L 687/20, juris Rn. 18.
[4] Wolfgang Hoffmann-Riem, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band IV, 2011, § 106 Rn. 9.
[5] Differenzierung der Maßnahmen nach Stefan Martini / Michael Plöse, Politische „Bewegung an der frischen Luft“ – Teil I, JuWiss 42/2020, https://www.juwiss.de/42-2020.
[6] U.a. VGH Kassel, Beschl. v. 1.4.2020, 2 B 925/20, COVID-19 und Recht 2020, 208 (209); OVG Weimar, Beschl. v. 10.4.2020, 3 EN 248/20, juris Rn. 43.
[7] BVerfG, Beschl. v. 15.4.2020, 1 BvR 828/20, juris Rn. 12 f.
[8] Vgl. auch Martini / Thiessen / Ganter, NJOZ 2020, 929 (934); Holger Schmitz / Carl-Wendelin Neubert, Praktische Konkordanz in der Covid-Krise, NVwZ 2020, 666 (668); Jens Kersten / Stephan Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020, 61 f.
[9] BVerfGE 69, 315 (351); Hoffmann-Riem (Fn. 4) § 106 Rn. 65.
[10] VGH München, Beschl. v. 30.3.2020, 20 NE 20.632, juris Rn. 61.
[11] VG Köln, Beschl. v. 9.4.2020, 7 L 687/20, juris Rn. 18; VG Aachen, Beschl. v. 29.4.2020, 7 L 306/20, juris Rn. 23.
[12] U.a. VG Hamburg, Beschl. v. 16.4.2020, 17 E 1648/20, juris Rn. 11 ff.
[13] VG Hamburg, Beschl. v. 16.4.2020, 17 E 1648/20, juris Rn. 22 f.
[14] Zum Ganzen VGH Kassel, Beschl. v. 14.4.2020, 2 B 985/20, juris Rn. 34 ff.; VG Dresden, Beschl. v. 30.3.2020, 6 L 212/20, BeckRS 2020, 4780, Rn. 26; VG Gießen, Beschl. v. 31.3.2020, 4 L 1332/20.GI, juris Rn. 11; VG Köln, Beschl. v. 9.4.2020, 7 L 687/20, juris Rn. 7.
[15] BVerfG, Beschl. v. 15.4.2020, 1 BvR 828/20, juris Rn. 14; Beschl. v. 17.4.2020, 1 BvQ 37/20, juris Rn. 19 ff.
[16] U.a. VG Hannover, Beschl. v. 16.4.2020, 10 B 2232/20, juris Rn. 18.
[17] VG Hamburg, Beschl. v. 17.4.2020, 15 E 1640/20, juris Rn. 48.
[18] Ebd.
[19] OVG Magdeburg, Beschl. v. 18.4.2020, 3 M 60/20, juris Rn. 29; OVG Hamburg, Beschl. v. 22.5.2020, 5 Bs 82/20, BeckRS 2020, 11810, Rn. 6.
[20] VG Köln, Beschl. v. 9.4.2020, 7 L 687/20, juris Rn. 18; VG Aachen, Beschl. v. 10.4.2020, 7 L 270/20, juris Rn. 15.
[21] VG Karlsruhe, Beschl. v. 14.4.2020, 19 K 1816/20, juris Rn. 12.
[22] VG Berlin, Beschl. v. 28.8.2020, 1 L 296/20, BeckRS 2020, 21355, Rn. 13.
[23] U.a. VGH München, Beschl. v. 9.4.2020, 20 CE 20.755, juris Rn. 6; VG Stuttgart, Beschl. v. 29.5.2020, 5 K 2634/20, juris Rn. 19.
[24] OVG Hamburg, Beschl. v. 16.4.2020, 5 Bs 58/20, Rn. 12, https://openjur.de/u/2198782.html (Stand aller Links: 10.02.21); VG Dresden, Beschl. v. 30.3.2020, 6 L 212/20, BeckRS 2020, 4780, Rn. 31.
[25] Seebrücke Hamburg, Aktion am Fischmarkt bleibt verboten, Pressemitteilung v. 4.4.2020, https://bit.ly/3r2j80H; Erik Peter, Schuhe dürfen nicht demonstrieren, taz.de v. 5.4.2020, https://taz.de/Proteste-fuer-Gefluechtete/!5673520/.
[26] Erik Peter, Besetzen per Livestream, taz.de v. 28.0#3.2020, https://taz.de/Aktivismus-in-der-Coronakrise/!5675015/.