Je länger der Ausnahmezustand andauert, desto mehr wird er zur Regel. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass Ausnahme nicht mit Normalität verwechselt werden darf, denn sonst werden demokratische Grundrechte Schritt für Schritt ausgehöhlt.
„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir Leben, die Regel ist“[1], schreibt Walter Benjamin in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen, seinem politisch-theoretischen Testament. Kurz darauf nimmt er sich auf seiner Flucht vor den Nationalsozialisten 1940 im spanischen Ort Portbou an der Grenze zu Frankeich das Leben.
Heute wird erneut über den Ausnahmezustand gesprochen. Darüber, ob wir überhaupt in einem Ausnahmezustand leben, wie ein solcher rechtlich zu definieren sei, was er für Konsequenzen für unser aller Leben hätte oder ganz real hat. Der Begriff wird instrumentalisiert von rechten Esoteriker:innen und Verschwörungsmystiker:innen, die in ihm die Kulmination eines Kampfes Gut gegen Böse erkennen wollen (und bekommt so eine fast religiöse Konnotation). Er wird umschrieben mit den Begriffen Lockdown oder Lockdown light und hat damit Einzug gehalten in unser aller Wortschatz. Aber nicht erst seit der Covid-19-Pandemie diskutieren wir über exekutive Sonderrechte, die zumeist unserer Sicherheit dienen sollen, auch im Zuge der Terrorismusbekämpfung gibt und gab es immer wieder Debatten über Grundrechtseinschränkungen. Aus einer rechtlichen Perspektive bedeutet der Ausnahmezustand in der Regel die Einschränkung freiheitlicher Rechte. Bei äußeren oder inneren Bedrohungen soll das Recht durch seine Suspendierung gerettet werden. Ein äußerer oder innerer Feind zwingt dazu, kurzfristig Freiheitsrechte außer Kraft zu setzen, um sie zu bewahren. Das ist nicht nur auf den ersten Blick paradox: Wie können Freiheitsrechte bewahrt werden, indem sie suspendiert werden?
Allerdings sind solcherlei Krisen (im Gegensatz zur aktuellen Pandemiesituation) immer politisch. In der Türkei etwa wurde nach dem Putschversuch vom 15./16. Juli 2016 ein Ausnahmezustand verhängt, in dem Präsident Recep Tayyip Erdoğan durch Dekrete regieren konnte. In dieser Zeit trieb er den Umbau des parlamentarischen in ein präsidiales Regierungssystem voran, die Pressefreiheit wurde (weiter) eingeschränkt, es kam zu 77.000 Festnahmen und über 130.000 Entlassungen von Staatsbediensteten. In Frankreich wurde unmittelbar nach den Terroranschlägen von Paris am 13. November 2015 ein Ausnahmezustand beschlossen, im Zuge dessen Personen auf Verdacht unter Hausarrest gestellt und Hausdurchsuchungen oder die Durchsuchung elektronischer Geräte ohne richterlichen Beschluss durchgeführt werden konnten. Das Ende des französischen Ausnahmezustandes im November 2017 ging mit einer Verschärfung sicherheitspolitischer Gesetze und einer Ausweitung der Befugnisse der französischen Sicherheitsapparate einher. In den USA wurde nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 der Notstand ausgerufen (ein Ausnahmezustand, der seitdem jedes Jahr verlängert wurde und bis heute gilt). Der USA PATRIOT ACT gibt den US-amerikanischen Behörden weitgehende Befugnisse an die Hand, nicht zuletzt wurden und werden im Gefangenenlager in Guantanamo potentielle Gefährder ohne Anklage zeitlich unbegrenzt festgehalten und teils gefoltert. Diese Ausnahmezustände sind Antworten auf politische Krisen, auf Bedrohungen von innen oder außen oder, um es kurz zu machen: Sie sind menschengemacht.
Eine biologische Ausnahmesituation
Hier aber tut sich ein Unterschied zum Virus Covid-19 auf: Es befällt Menschen, ist aber nicht menschlich, es führt keinen Krieg gegen den Menschen, empfindet keinen Hass auf den Menschen und ist alles in allem ein eher dröger Zeitgenosse, der sich nichts aus menschlichen Befindlichkeiten, aus menschlichem Staatsrecht oder aus seiner kapitalistischen Produktionsweise macht, es ist ideologie- aber nicht seifenresistent und schon daher eine besondere Art von Krisenerscheinung.
Eine besondere ist sie vor allem, weil diese Krise, in der wir uns zurzeit befinden, eine biologische ist. Damit aber ist sie dem Reich der Politik entzogen worden. Maßnahmen werden aus epidemiologischer Sicht bewertet, sie erscheinen als notwendige, technische Lösungen und verschieben sich damit von der Sphäre der Legislative und aus dem öffentlichen Diskursraum in die Sphäre der Exekutive. Die exekutive Gewalt schafft dann Grenzen, die für alle gleich gelten, „und zwar in dämonisch-zweideutiger Weise […]: Sie verbieten es Armen und Reichen gleichermaßen, unter Brückenbogen zu nächtigen.“[2] Das ist das zynische Element der Ausnahme. Die Lasten der Maßnahmen wie die Folgen der Pandemie werden ungleich verteilt. Wenn Arme und Benachteiligte, wenn Minderheiten die Wucht der Pandemie besonders heftig erleiden und besonders häufig in systemrelevanten Berufen sich der Gefahr einer Infektion aussetzen müssen, wenn Kinder aus sozial schwachen Familien während der Pandemie in der Schule abgehängt werden, wenn es in Flüchtlingsheimen und Gefängnissen keine Möglichkeiten der sozialen Distanzierung gibt, dann mögen die Gesetze für alle gleich gelten, die Schwachen aber werden an ihren Rand gedrängt.
Recht und Ausnahme sind jedoch viel inhärenter miteinander verwoben, als ihre auf den ersten Blick rein negative Beziehung aufeinander vermuten lässt. Denn beide schließen sich nicht nur gegenseitig aus, sondern wirken auch ineinander hinein: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“[3], behauptete Carl Schmitt, einer der wichtigsten und brillantesten Staatsrechtler der Weimarer Republik, vor allem aber glühender Gegner parlamentarischer Demokratien und des Liberalismus sowie Apologet und opportunistischer Nutznießer der nationalsozialistischen Diktatur und auch nach der deutschen Befreiung durch die Alliierten noch ein Fixstern der konservativen Intelligenz in der alten Bundesrepublik. In diesem (vermutlich seinem berühmtesten) Zitat finden wir eine besondere Doppelbeziehung, die sich topografisch, also örtlich vermittelt, verorten lässt. Denn der Souverän, dessen Reich ja das Recht ist, der selbst dieses Recht repräsentiert (man denke an den Leviathan bei Thomas Hobbes als Re-Präsentation staatlicher Macht), kann dieses Recht aufheben. Aber um das tun zu können, kann er sich nicht selbst immanent im Recht befinden, sondern er muss über dieses Recht hinaus transzendieren oder sich außerhalb des Rechts befinden. Denn wer kann das suspendieren, was er selbst ist, und danach weiter existieren? Und wer kann existieren, indem er sich selbst setzt? Das Recht ist also angewiesen auf eine Gewalt, die es von außen garantiert. Recht und Gewalt können überhaupt nur aus der dialektischen Entfaltung des Begriffes des Ausnahmezustands verstanden werden. In der Souveränität fallen beide zusammen.
Der Ausschluss des Lebens
Den Ursprung dieser Einschluss-Ausschluss-Beziehung bildet nach Giorgio Agamben der Ausschluss des Lebens aus dem Politischen. Dem italienischen Philosophen Agamben haben seine öffentlichen Interventionen gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der individuellen Grundrechte zu Beginn der Pandemie (zurecht) viel Kritik eingebracht.[4] Er wirkt zurzeit paranoid, wenn er den aktuellen Zustand der Ausnahme als politisch willentlich herbeigeführt sieht und ihre biologische Dimension dabei unterschätzt. Zuletzt ist erneut eine Debatte um ihn entbrannt, weil ein Interview mit ihm im faschistoiden Magazin Compact erschienen ist. Trotzdem sind seine philosophischen Überlegungen geeignet, staatliche Macht als Maschine zu erkennen, in deren Innersten ihre Zahnräder durch den Ausschluss angetrieben werden. Dieser Ausschluss aus dem Bereich des Politischen lässt sich bis in die griechische Antike zurückführen. Hier wurde das Leben in zoe und bios geteilt, in unqualifiziertes, rein biologisches Leben, und in spezifisch-qualifiziertes, also politisches Leben. Die zoe, oder das Leben an sich, bildet die Voraussetzung für den bios, das Leben für sich, das zielgerichtete Leben. Der Mensch ist also ein Lebewesen (zoe), das durch seine Fähigkeit zu sprechen zu einem organisierten gesellschaftlichen Leben (bios) fähig ist. Der systematische Ausschluss der zoe aus der rechtlichen Ordnung lässt eine Leerstelle entstehen, die eine gegenseitige Abhängigkeit vermuten lässt.[5]
Diese Aufspaltung von zoe und bios, die sich in der europäischen Rechtstradition zurückverfolgen lässt, hat das nackte Leben hervorgebracht, es erst produziert. Dieses nackte Leben entsteht dadurch, dass ein Mensch seine politischen Rechte verliert. Er wird vom Recht ausgeschlossen, unterhält aber weiterhin eine Verbindung zu ihm. In den Flüchtlingslagern an den europäischen Außengrenzen werden Menschen festgehalten, denen ihr Menschenrecht auf Asyl vorenthalten wird. Weil sie de facto kein Asyl beantragen können (die Bearbeitung von Anträgen kann Jahre dauern), befinden sie sich in einem fortwährenden rechtlichen Schwebezustand. Sie sind aus dem Reich des Rechts verbannt worden und werden an seiner Grenze auf unbestimmte Zeit festgehalten. Dieses nackte Leben ist das nicht dem Politischen zugehörige, sein Ausgeschlossenes, ein Rest, der durch seine Ausgeschlossenheit aber trotzdem eine Beziehung zum Recht behält. Man könnte diese Art der Beziehung vielleicht vergleichen mit der des Narren in Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft, der in einer Form des Bannes darum zur Rechtsordnung gehört, weil er aus ihr ausgeschlossen ist: „Dadurch, daß man den Irren den Schiffern anvertraut, vermeidet man, daß er sich ständig vor den Mauern der Stadt aufhält, wird sichergestellt, daß er weit fortgebracht wird, macht ihn zum Gefangenen seines eigenen Aufbruchs […] Diese Reise des Irren ist zugleich rigorose Trennung und endgültige Überfahrt. In gewissem Sinne entwickelt sie lediglich vor einer halb realen, halb imaginären Geographie die Liminarsituation [Grenzsituation] des Irren am Horizont der Sorgen des mittelalterlichen Menschen, die symbolisiert und zugleich realisiert wird durch das ihm eingeräumte Privileg, vor den Toren der Stadt eingeschlossen zu sein; sein Ausschluss muss ihn einschließen; wenn er kein anderes Gefängnis haben kann und soll als die Schwelle selbst, hält man ihn an der Stelle des Überganges fest.“[6]
In diesem Einschluss-Ausschluss finden wir die gleiche Beziehung von Macht und Recht, die auch den Souverän kennzeichnet, nur in entgegengesetzter Richtung. Der Narr darf ohne Strafe getötet werden, während der Souverän ungestraft töten darf, weil beide gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Rechts stehen. Agamben nennt das Leben, das getötet werden darf, heilig: „Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in dieser Sphäre eingeschlossen ist.“[7]
Warteräume der Nicht-Rechtlichkeit
Diese Machtbeziehung findet in der Gegenwart seinen Ort in den entrechtlichten Warteräumen unserer modernen Rechtsgesellschaft, in denen sich dieser Schwebezustand des Nicht-Rechtlichen, der gleichzeitige Ein- und Ausschluss in das und aus dem Recht, manifestiert. Im Ausnahmezustand werden die Menschen von ihrem politischen Leben getrennt. In der Pandemie ist das besonders verheerend: In den Flüchtlingslagern an den Grenzen der EU werden den Menschen ihre politischen Rechte versagt, zumal in der Pandemie kaum auf Abstands- und Hygieneregeln geachtet werden kann. Asyl beantragen dürfen sie, aber bis es zur Bearbeitung des Antrags kommt, können Jahre vergehen. Zur gleichen Zeit werden die Menschen als Illegale (also als aus dem Recht ausgeschlossene) an den europäischen Außengrenzen von Schlägertrupps drangsaliert oder in die Arme der brutalen libyschen Küstenwache zurückgedrängt, die mit Unterstützung der europäischen Grenzagentur Menschen foltern und misshandeln.[8] In Krankenhäusern in denen triagiert werden muss, werden die, die darüber entscheiden, selbst zum Souverän, während sie sich als medizinisches Personal einem massiven Infektionsrisiko aussetzen lassen müssen, ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit also zurückgestellt wird. Obdachlose, die schon vorher vom Recht verlassen waren, haben keine eigenen Schutzräume: In den engen und überfüllten Obdachloseneinrichtungen bleibt ihnen weder Privatsphäre, noch ein ausreichender Schutz vor der Krankheit. Sozialhilfe-Empfänger:innen, die die soziale Isolation ungleich härter trifft, werden auf sich selbst zurückgeworfen, weil sie oft in beengten Verhältnissen leben müssen[9] und die Gesundheit von Insass:innen in Gefängnissen[10] und den Bewohner:innen von Flüchtlingsheimen[11] scheint schlicht entbehrlich zu sein. Wir müssen uns die Orte der Ausnahme mit ihrem heiligen Leben immer wieder vergegenwärtigen.
Auch wenn der aktuelle, pandemisch bedingte Ausnahmezustand natürlichen Ursprungs ist, also nicht politisch herbeigeführt wurde, sind es seine Maßnahmen sehr wohl. Diejenigen nicht auf ihr nacktes Leben zu reduzieren, die unter der gegenwärtigen Krise am meisten zu leiden haben, sondern ihnen weiterhin ihre Individualität und Würde zuzugestehen, darf bei aller Dringlichkeit der gegenwärtigen Maßnahmen nicht vergessen werden. Oder, um es mit Walter Benjamin zu sagen: „Falsch und niedrig ist der Satz, daß Dasein höher als gerechtes Dasein stehe, wenn Dasein nichts als bloßes Leben bedeuten soll“.[12]
[1] Walter Benjamin, Geschichtspolitische Thesen, in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, 2019, 84.
[2] Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, 2019, 29-65 (57f.).
[3] Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922, 11.
[4]Giorgio Agambens erster Einwurf: Giorgio Agamben, “The state of exception provoked by an unmotivated emergency”, positions politics v. 26.2.2020, http://positionswebsite.org/giorgio-agamben-the-state-of-exception-provoked-by-an-unmotivated-emergency/ (Stand aller Links: 19.3.2021). Zur Debatte u.a. Slavoj Žižek, Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein, NZZ v. 13.3.2020, https://www.nzz.ch/feuilleton/coronavirus-der-mensch-wird-nie-mehr-derselbe-gewesen-sein-ld.1546253.
[5] Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, 2002, 11 f.
[6] Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, 1973, 28 f.
[7] Giorgio Agamben (Fn. 5), 93.
[8] Amnesty International, Pressemitteilung v. 29.1.2021, https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/push-backs-schutzsuchende-frontex-ungarn.
[9] Ulrich Schulte, Schwache leiden am meisten, taz online v. 24.3.2020: https://taz.de/Armut-in-der-Corona-Krise/!5670539/.
[10] Marcel Kolvenbach, Zu eng für Abstandsregeln, tagesschau online v. 19.5.2020: https://www.tagesschau.de/investigativ/swr/corona-fluechtlingsunterkuenfte-101.html.
[11] Lena Kampf, „Das ist reine Verwahrung von Menschen“, tagesschau online v. 4.6.2020: https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/corona-gefaengnis-101.html.
[12] Walter Benjamin (Fn. 2), 62.