Dieser Beitrag will dafür argumentieren, die Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts (SächsOVG) in erster Linie als korrekte Anwendung des Versammlungsrechts und nicht einer Sympathie der Richter*innen mit den Zielen der Querdenker*innen zu verstehen. Die Verantwortung für den Verlauf des Tages liegt eher bei der Polizei sowie der Versammlungsbehörde.
Unter dem Namen „Querdenker“ organisiert sich seit dem Sommer vergangenen Jahres Protest gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Nachdem diese Bewegung zu Beginn vereinzelt auch die sozialen Folgen der Pandemie thematisierte, sind solche Ansätze mittlerweile vollständig verschwunden und die Bewegung nun eindeutig als rechts einzuordnen. Ende August und Anfang November veranstaltete sie in Berlin und in Leipzig mehrere Demonstrationen mit jeweils um die 30.000 Teilnehmer*innen. Auf allen Veranstaltungen kam es zu Angriffen auf Gegendemonstrant*innen, Journalist*innen und migrantisch gelesene Personen, sowie massiven Verstößen gegen Hygiene-Auflagen. Im Nachgang der Leipziger Versammlung am 7.11.2020 wurde diskutiert, wer die Verantwortung für diesen Verlauf trage. Insbesondere wurde die Entscheidung des SächsOVG kritisiert, welche eine Durchführung der Versammlung auf dem Augustusplatz in der Leipziger Innenstadt ermöglichte.[1] Die Einordnung des Geschehens ist nicht ganz leicht. Die alte Frage, wie behördliche Beschränkungen der Versammlungsfreiheit zu bewerten sind, stellt sich der Linken unter den Bedingungen der Pandemie neu. Grund dafür ist, dass Massenmobilisierung gegen die Querdenker*innen in Hinblick auf das Infektionsgeschehen nicht möglich waren. Ausgangspunkt sollte hierbei sein, dass Einschränkungen der Versammlungsfreiheit nur bei Erfüllung der jeweiligen gesetzlichen Voraussetzungen erfolgen können. Es ist darauf zu pochen, dass Behörden und Gerichte sich entsprechend verhalten.
Versammlung in der Innenstadt
Die Stadt Leipzig als Versammlungsbehörde verlegte die Kundgebung der Querdenker*innen zwei Tage vor Beginn auf die Neue Messe, ein Veranstaltungsgelände am Stadtrand von Leipzig. Dies wurde in der ersten Instanz vom Verwaltungsgericht (VG) Leipzig gebilligt[2], woraufhin das SächsOVG letztlich entschied, dass die Kundgebung – wie ursprünglich geplant – in der Innenstadt stattfinden durfte.
Ausschlaggebend dafür war vor allem die erwartete Teilnehmer*innenzahl. Das VG Leipzig und die Versammlungsbehörde ging von 20.000 bis 50.000 Teilnehmer*innen aus, weshalb auf dem Augustusplatz nicht genug Platz sei, einen Abstand von 1,5 Metern einzuhalten. Da an den vorherigen Versammlungen der Querdenker*innen in Berlin mehr als 30.000 Personen teilnahmen, sei bei der Versammlung in Leipzig eine ähnliche Zahl zu erwarten. Zudem gehe der Antragsteller selbst von bis zu 50.000 Teilnehmer*innen aus und die Polizei halte diese Einschätzung für realistisch. Dagegen führt das SächsOVG an, dass die Polizei laut der Akte nur eine Zahl von 16.000 für realistisch halte und der Antragsteller die Zahl 50.000 eher als vage Vermutung angegeben hätte. Auch könne die Versammlungsfläche bei größerem Andrang noch erweitert werden. Somit reiche die Versammlungsfläche in der Innenstadt aus, um Abstände von 1,5 Metern unter den Teilnehmer*innen einzuhalten.
Die Ausführungen der Gerichte zur Einschätzung der Teilnehmer*innenzahl sind widersprüchlich und ohne Aktenkenntnis nur schwer einzuschätzen. Im Nachhinein war die höhere Zahl sicherlich näher an der Realität. Allerdings führt die nachträgliche Richtigkeit dieser Einschätzung nicht dazu, dass sie der Entscheidung zugrunde zu legen war. Denn die Versammlungsbehörde kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Verläufe früherer Versammlungen mit ähnlichem Motto oder Teilnehmer*innen- und Organisationskreis für die Gefahrenprognose durchaus heranziehen. Allerdings können diese Erfahrungen nicht schematisch auf zukünftige übertragen werden.[3] Die Ansatzpunkte der polizeilichen Gefahrenprognose sind aus den Beschlüssen nicht ersichtlich. Es ist jedoch üblich, dass die Polizei bei Großdemonstrationen noch weitere Informationen eingeholt, etwa durch Abfragen bei Busunternehmen, welche Demonstrant*innen zur Versammlung bringen. Zwar führt das VG Leipzig in einem Nebensatz an, auch die Polizei halte die Schätzung der Querdenker*innen, es könnten 50.000 Personen kommen, für realistisch. Die ausführlicheren Ausführungen des SächsOVG lassen aber darauf schließen, dass die Polizei eine solche Aussage nicht getätigt hat. Es entspricht eher der Rechtsprechung des BVerfG zum Versammlungsrecht, wenn das SächsOVG seiner Entscheidung nicht die bloße Argumentation mit vorherigen Versammlungen, sondern die konkretere Einschätzung der Polizei zugrunde legt. Schon hier ist zu erkennen, dass der Tag anders verlaufen wäre, hätte die Polizei eine Gefahrenprognose gestellt, die sich sowohl auf die konkrete Versammlungslage bezieht, als auch eine realistische Teilnehmer*innenzahl veranschlagt. Dann hätte die Verlegung auf die Messe Bestand gehabt.
Schlechte Argumente für die Verlegung
Die weiteren Argumente der Versammlungsbehörde und des VG Leipzig für die Verlegung an den Stadtrand berücksichtigen zum Teil die Reichweite der Versammlungsfreiheit nicht richtig oder sind nur unter Berücksichtigung der nicht verwendbaren Gefahrenprognose richtig.
Durch die Nutzung großer Teile der Innenstadt als Versammlungsfläche sei es nicht mehr möglich sei, die Innenstadt zu betreten, ohne an der Versammlung teilzunehmen. Zudem sei ein Zugang zu Geschäften am Versammlungsort nicht mehr möglich. Denkt man diese Argumentation konsequent zu Ende, können Versammlungen ab einer gewissen Größenordnung überhaupt nicht mehr im Innenstadtbereich stattfinden. Solche Flächen sind gegenüber der Neuen Messe, zwischen Autobahn und Industriegebiet gelegen, deutlich besser zur Vermittlung eines Anliegens geeignet.
Das VG Leipzig führt weiter aus, ein konkreter Ortsbezug sei nicht gegeben. Der Augustusplatz wurde seitens der Querdenker*innen gewählt, da dort die Demonstrationen im Herbst ’89 ihren Anfang nahmen. Diese waren in ihrem Beginn ein demokratischer Aufbruch; Gemeinsamkeiten mit den in Rede stehenden Versammlungen bestehen nicht. Wenn sich die Demonstrant*innen in diese Traditionslinie stellen, ist dies aber seitens des Staates anzuerkennen. Denn die Versammlungsfreiheit schützt die inhaltliche Ausgestaltung der Versammlung und somit auch die freie Wahl des Ortes.[4] Was die Versammlungsbehörde und das VG Leipzig hier machen, ist letztlich eine Wertung der inhaltlichen Positionierung der Versammlung. Dies ist mit dem Zweck einer Versammlung, als staatsfernes, der öffentlichen Meinungsbildung dienendes Ereignis nicht zu vereinbaren.
Aufgrund der Verläufe vorheriger Versammlungen der Querdenker*innen seien zudem Verstöße gegen die Hygieneauflagen zu befürchten. In dieser Hinsicht und unter Zugrundlegung der Gefahrenprognose von etwa 30.000 Teilnehmer*innen ist die Verlegung folgerichtig. Denn der Polizei sollte es auf einem weitläufigeren Gelände leichter fallen, diese durchzusetzen. Diese Begründung überzeugt aber nur solange, wie man von der höheren Gefahrenprognose ausgeht. Es wäre dann eher zu fragen, warum die Versammlungsbehörde die Versammlung nicht im Vorhinein verboten hat. Ob die rechtlichen Voraussetzungen dafür vorlagen, ist nicht bekannt[5] Da die Versammlungsbehörde keines ausgesprochen hatte, konnten die Gerichte dies im einstweiligen Rechtsschutz nicht beschließen, siehe §§ 122 Absatz 1, 88 Verwaltungsgerichtsordnung.
Das Geschehen vor Ort
Schon mit Beginn der Veranstaltung um 13:00 Uhr forderte die Polizei die Teilnehmer*innen zur Einhaltung der Auflagen auf. Diese umfassten einen Abstand von 1,5 Metern zwischen den Demonstrant*innen und das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Mehrfachen Aufforderung dieser Art kamen die Teilnehmer*innen nicht nach. Seitens der Veranstalter*innen wurde zum einen auf die Auflagen hingewiesen, zum anderen aber nur von einer Empfehlung gesprochen. Die Auflagenverstöße wurden von verschiedenen Redner*innen gutgeheißen. Die zwischenzeitlich erfolgte Vergrößerung der Versammlungsfläche wurde von den Querdenker*innen nicht genutzt. Laut dem Pressesprecher der Polizei kam es durchgängig zur Unterschreitung des Mindestabstands und 90 % der Teilnehmer*innen trugen keine Maske. Gegen 15.30 Uhr wurde die Versammlung aufgelöst.
Wenn die Entscheidung des SächsOVG davon ausgeht, dass Verstöße gegen die Hygieneauflagen während der Versammlung von der Polizei unterbunden werden können, muss die Frage gestellt werden, ob in Betracht kommende polizeiliche Maßnahmen zum Infektionsschutz überhaupt beitragen konnten. Denn beim Einschreiten gegen Versammlungen kann es erfahrungsgemäß zu hektischen und unübersichtlichen Situationen kommen, die etwa ein Einhalten von Mindestabständen erst recht unmöglich machen. Sicherlich ist es nicht realistisch, dass exakt nur 16.000 Personen an der Versammlung teilnehmen. Eine ungefähre Schätzung kann die Polizei jedoch vornehmen und dann weiteren Zustrom unterbinden. Zudem führte die Auflösung dazu, dass zumindest ein Teil der Querdenker*innen den Heimweg antrat. Auch das Vorgehen gegen einzelne Maskenverweiger*innen oder andere Störer*innen ist der Polizei möglich und hätte abschreckende Wirkung auf andere entfaltet. Weiterhin kann die Polizei – bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen – durch Wasserwerfer oder das Zustürmen auf Versammlungen diese zerstreuen. Um hier Missverständnissen vorzubeugen: Es soll hier nicht darum gehen, dem wahllosen Einsatz von polizeilichen Zwangsmitteln gegen Versammlungen das Wort zu reden, sondern aufzuzeigen, dass die Durchsetzung der Auflagen grundsätzlich möglich gewesen wäre.
Das Handeln der Polizei
Trotz der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unternahm die Polizei wenig. Sie versuchte nicht, den Zutritt von deutlich mehr als 16.000 Versammlungsteilnehmer*innen zu verhindern. Auch ein Vorgehen gegen einzelne Maskenverweigerer*innen und andere Störer*innen war nicht zu beobachten. Begründet wurde das eher zaghafte Vorgehen damit, der verfolgte Zweck hätte außer Relation zu den nötigen Mitteln gestanden.[6] Kern dieses Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist gerade, dass fast jedes Rechtsgut zugunsten eines anderen eingeschränkt werden kann. Er verbietet der Polizei hingegen nicht, gegen aufgelöste Versammlungen und bei Auflagenverstößen zum Schutze der Gesundheit die oben genannten Zwangsmittel anzuwenden. Es scheint eher fraglich, ob die sächsische Polizei fähig und gewillt war, dem Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. Insgesamt waren nur 2600 Polizist*innen im Einsatz, es wäre hier wieder Aufgabe der Polizei gewesen, auf Grundlage einer realistischen Einschätzung der Situation mehr Kräfte aus anderen Bundesländern anzufordern. Im Nachhinein wurden zudem Aufnahmen publik, auf denen ein Beamter der sächsischen Polizei mit zustimmender Geste durch die Versammlung fährt.[7] Es ist durchaus bekannt, dass diese Behörde oftmals Gnade vor Recht(s) walten lässt. Erinnert sei an dieser Stelle nur an die völlig ungenügenden Einsätze im Rahmen der rassistischen Ausschreitungen in Heidenau im August 2015 oder in Chemnitz im Herbst 2018 sowie sonstige extrem rechte Vorfälle.[8] Die letztliche Auflösung erfolgte erst zweieinhalb Stunden nach Versammlungsbeginn. Die Verstöße bestanden seit 13.00 Uhr und zur selben Zeit erfolgten die ersten Aufforderungen die Auflagen zu befolgen. Die Voraussetzungen der Auflösung war somit schon vorher erfüllt. Auch im Sinne des Infektionsschutzes wäre eine frühere Auflösung angezeigt gewesen, da die Gefahr einer Infektion mit dem Corona-Virus mit Dauer der Exposition gegenüber einem Infizierten steigt.[9] Ebenso wie die anderen Maßnahmen wurde die Auflösung durch die Polizei kaum durchgesetzt. Noch um 20:00 Uhr befanden sich Teilnehmer*innen auf dem Augustusplatz. Hier wird deutlich, dass die Polizei zur Durchsetzung der Auflagen nicht fähig und nicht willens war.
Fazit
Der Vorsitzende Richter des mit der Sache befassten OVG-Senats ist zugleich Mitherausgeber der juristische Fachzeitschrift Sächsische Verwaltungsblätter. In dieser erschien kurz zuvor der Artikel eines hessischen Rechtsanwalts, der die Corona-Pandemie mehr oder weniger für harmlos hält. Dieser Umstand gab manchen Anlass, den Grund für die Entscheidung zugunsten der Querdenker*innen in der politischen Orientierung der Richter*innen zu suchen. Die Gleichbehandlung auch extrem rechter Positionen vor dem Gesetz ist aber viel eher Ausdruck des herrschenden Grundrechtsverständnisses. Rechtsauffassungen, die von einem „historischen Gedächtnis“[10] des Grundgesetzes gegen den Nationalsozialismus ausgehen und Grundrechtseingriffe ausdrücklich deshalb billigen wurden in der Vergangenheit regelmäßig für verfassungswidrig erklärt.[11] Eine solche Entscheidung des SächsOVG wäre somit zu begrüßen, aber nicht zu erwarten.
Die Argumente der Versammlungsbehörde und des VG Leipzig können eine Verlegung nicht begründen. In diesem Sinne war es folgerichtig, dass das SächsOVG aufgrund der ihm zum Entscheidungszeitpunkt zur Verfügung stehenden Informationen, die Kundgebung in der Innenstadt erlaubte. Eine kritische rechtswissenschaftliche Perspektive sollte, nur weil das Ergebnis stimmt, nicht vergessen, wie es dazu kam. Denn die Verlegung entsprang nicht antifaschistischen Motiven, sondern ist Ausdruck einer Rechtsauffassung, die der versammlungsrechtlichen Dogmatik nicht gerecht wird. Solche ungerechtfertigten Eingriffe in die Versammlungsfreiheit gilt es zurückzuweisen. Die Verantwortung für den Verlauf des Tages liegt somit vor allem bei der Versammlungsbehörde und der Polizei. Erstere hätte ihre Entscheidung so begründen müssen, dass sie eine Verlegung trägt. Letztere kam ihrer Aufgabe – dem Durchsetzen der Auflagen und der Stellung einer realistischen Gefahrenprognose – nicht nach. Auch die Übergriffe und der Marsch der Querdenker*innen über den Innenstadtring hätten durch richtiges Agieren der Polizei verhindert werden können.
[1] SächsOVG, Beschluss v. 7.11.2020 – 6 B 368/20.
[2] VG Leipzig, Beschluss v. 6.11.2020 – 1 L 782/20.
[3] BVerfG, Beschluss v. 4.9.2009 – 1 BvR 2147/09.
[4] BVerfG, Beschluss v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81.
[5] Beim Versuch der Querdenker*innen, in Bremen aufzulaufen, hatte ein Verbot Bestand, BVerfG, Beschluss v. 5.12.2020 – 1 BvQ 145/20.
[6] Thorsten Schutze, LVZ v. 7.11.2020, lvz.de/Leipzig/Lokales/Polizeipraesident-erklaert-Deshalb-durfte-die-Querdenker-Demo-um-den-Leipziger-Ring-ziehen (Stand aller Links: 5.2.2021).
[7] twitter.com/shelly_pond/status/1325162046330171392.
[8] MDR v. 02.12.2020, mdr.de/sachsen/anfrage-rechtsextremismus-polizei-sachsen-100.html.
[9] Robert-Koch-Institut, Risikobewertung zu Covid-19, rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html.
[10] Michael Bertrams, Die Renaissance des Rechtsextremismus wird verharmlost, Frankfurter Rundschau v. 16.7.2002.
[11] Dazu: Thilo Scholle, Forum Recht 2003, 22-24.