Die Auseinandersetzungen zwischen den Beschäftigten des Lieferdienst-Startups Gorillas in Berlin und ihrem Arbeitgeber haben überregionale und sogar internationale Aufmerksamkeit erlangt. Auslöser waren u.a. miserable Arbeitsbedingungen und ausbleibende Entgeltzahlungen, welche die Beschäftigten dazu veranlassten, mehrfach spontan die Arbeit niederzulegen. In Folge dessen wurde mehreren Arbeitnehmer*innen von Gorillas gekündigt. Dabei wurde ihnen seitens Gorillas u.a. die Teilnahme an einem sog. wilden Streik vorgeworfen. Als wilde Streiks bezeichnet man kollektive Arbeitsniederlegungen, zu denen keine Gewerkschaft aufgerufen hat. Diese gelten in Deutschland als rechtswidrig.
Dieser schon seit längerem in der Kritik stehenden Rechtsauffassung widersprach nun – durchaus überraschend – das Arbeitsgericht Berlin (ArbG Berlin, Urt. v. 07.03.2022, 19 Ca 10127/21). Dem Kläger war u.a. deshalb gekündigt worden, weil er „rechtswidrig zu einem wilden Streik aufgerufen habe.“ Das ArbG stellt zunächst fest, dass seitens Gorillas gar nicht stichhaltig bewiesen wurde, dass es sich um einen Streik im rechtlichen Sinne gehandelt habe. Bei arbeitgeberseitigen Verstößen gegen den Arbeitsschutz oder ausbleibenden Entgeltzahlungen steht den betroffenen Arbeitnehmer*innen nämlich grundsätzlich auch „die kollektive Ausübung eines Zurückbehaltungsrechtes nach § 273 Abs. 1 BGB“ zu.
Bahnbrechend ist aber vor allem die Feststellung des ArbG, „dass das Streikrecht nicht kodifiziert ist und somit auch die propagierte Notwendigkeit, dass ein Streik gewerkschaftlich organisiert sein muss, keine gesetzliche Grundlage hat.“ Verwiesen wird auf Art. 28 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh). Dieser schütze auch den sog. wilden Streik. Beiden Feststellungen ist grundsätzlich zuzustimmen. Die fehlende Kodifizierung sowie die Nicht-Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht sind schon länger die Hauptkritikpunkte am deutschen Arbeitskampfrecht.
Zwar steht zu erwarten, dass das Urteil in der nächsten Instanz gekippt wird. Juristisch angreifbar ist v.a. der Verweis auf die GRCh, deren Anwendungsbereich nicht eröffnet sein dürfte. Auch der Hinweis, „dass der Kläger französischer Herkunft ist und das Streikrecht in Frankreich deutlich mehr Möglichkeiten eröffnet, als das deutsche“, mag uns zum Schmunzeln bringen. Das Landesarbeitsgericht wohl nicht. Es stimmt jedoch hoffnungsvoll, dass sich endlich ein*e Richter*in aus der Deckung wagt und vollkommen zu Recht mit guten juristischen Argumenten das restriktive deutsche Arbeitskampfrecht in Frage stellt.