Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sah in seinem Urteil vom 03.11.2021 (2 BvR 828/21) einen Gefängnisinsassen, dem der Zugang zu für einen Suizid geeignete Medikamente verwehrt wurde, in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gegen Akte der Exekutive nach Art. 19 IV Grundgesetz (GG) verletzt.
Der Beschwerdeführer verbüßt seit 35 Jahren zwei lebenslange Freiheitsstrafen. Weil er die Wiedererlangung seiner Freiheit für unwahrscheinlich hält und die Haft nicht länger ertragen möchte, stellte er bei seiner Justizvollzugsanstalt (JVA) den Antrag, sich letale Medikamente besorgen zu dürfen. Er berief sich hierbei auf sein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, welches vom BVerfG als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelt wurde (2 BvR 2347/15). Die JVA lehnte dies mit der Begründung ab, dass niemand zur Sterbehilfe verpflichtet werden könne und Strafvollzugsanstalten zur Gesundheitsfürsorge für Gefangene verpflichtet seien. Die Gerichte folgten dieser Argumentation und sahen die Entscheidung des JVA-Leiters ferner als eine von Art. 4 I GG geschützte Gewissensentscheidung.
Diese Beschlüsse wurden vom BVerfG nun zu Recht aufgehoben. Dabei zieht sich das Gericht jedoch auf die komfortable Position zurück, lediglich eine unzureichende Würdigung des Sachverhaltes durch die Gerichte zu rügen und die Prüfung damit zu beenden. Eine Feststellung, dass auch Strafgefangenen das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zustehen muss, bleibt aus. So dringt das Gericht auch nicht zum eigentlichen Irrsinn dieses Falles vor: Der Sterbewunsch des Beschwerdeführers ist zu respektieren, resultiert hier jedoch einzig aus dem Umstand, einem inhumanen Gefängnissystem potenziell lebenslänglich ausgeliefert zu sein. Das BVerfG hegte die lebenslange Freiheitsstrafe in den 70ern zwar immerhin derart ein, dass eine Chance auf Wiedererlangung der Freiheit bestehen muss, ihre Vereinbarkeit mit der Menschenwürde bleibt trotzdem fragwürdig.
Jedenfalls muss auffallen, dass es kein Recht auf lebenswerte Haft gibt, auf das sich der Beschwerdeführer stützen könnte. Dass er sich auf das Recht auf selbstbestimmtes Sterben verlagern muss, sollte dem BVerfG, das sich mit den Prinzipien von milderem Mittel und Verhältnismäßigkeit bestens auskennt, ein Denkanstoß sein.
Das Urteil ist kein Schritt in die falsche Richtung. Dennoch hätte man sich mehr erhofft vom BVerfG, das mit seiner Rechtsprechung immer wieder Anlass zur Hoffnung zwar nicht auf Überwindung, aber zumindest auf Humanisierung des Gefängnissystems gegeben hat.
Anne Herrmann, Freiburg