Die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) feierte 2022 ihr fünfzigjähriges Jubiläum und hat zu diesem Anlass einen Sammelband herausgegeben. Dieser vereint Beiträge verschiedener Jurist*innen zu diversen historischen und aktuellen rechtspolitischen Themen.
Mit rechtswissenschaftlichen Festschriften ist das so eine Sache. In der Regel sind sie voll von Texten ganz wichtiger Professor*innen, die sich Themen zuwenden, welche das Lebenswerk des*der Gewidmeten huldigen und somit Respekt zollen. Böse Zungen hingegen behaupten, dass Festschriften dabei vor allem der Verwertung noch unfertiger oder sonst nicht publizierbarer Ideen der jeweiligen Autor*innen dienen. Nach dem Motto: Das Thema lag noch rum, für die Festschrift reicht es. Daher dienen sie Studierenden auch häufig als Quelle zum Beleg absoluter Mindermeinungen. Bei allen Unterschiedlichkeiten haben fast alle Festschriften jedoch eins gemein: In Breite und politischer Offenheit der Themenwahl orientieren sie sich zuvorderst an den Arbeitsschwerpunkten der Gewidmeten.
So ist das auch bei dem im VSA-Verlag erschienen Sammelband „Streit ums Recht – Rechtspolitische Kämpfe in 50 Jahren »Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen« (VDJ)“.[1] Die VDJ wurde am 25. März 1972 als „Vereinigung Demokratischer Juristen in der BRD“ in Düsseldorf gegründet und hat seitdem fünf Jahrzehnte bundesrepublikanischer Rechtskämpfe durchlebt und kritisch begleitet. Sie hat sich neben anderen explizit politischen juristischen Berufsorganisationen wie dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein und der Neuen Richtervereinigung als Vertretung linker bzw. kritischer Jurist*innen etabliert. Ihre Mitglieder sind dabei schwerpunktmäßig anwaltlich im Arbeits- und Familienrecht tätig. In diesen Rechtsgebieten hat die VDJ zwei bundesweit aktive, renommierte Arbeitskreise. Aber auch zu anderen rechtspolitischen Themen bringt sie sich immer wieder ein.[2] So gibt sie mit dem Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen und weiteren Organisationen den jährlich erscheinenden Grundrechte-Report heraus.
Der vorliegende Sammelband wird herausgegeben von sechs Mitgliedern der VDJ, welchen deren unterschiedlichen Mitgliedsgenerationen und berufliche Vielfalt repräsentieren. Es finden sich historische Beiträge wie ein Interview mit vier Gründungsmitgliedern der VDJ oder ein Aufsatz zur Entwicklung des Arbeitsrechts. Aber auch aktuelle Themen wie die Versammlungsfreiheit oder der Flüchtlingsschutz finden sich wieder. Dabei lassen sich grundlegende Gemeinsamkeiten erkennen, welche im Folgenden dargestellt werden sollen.
Back to the roots
Eingangs sollte man sich, so wie es der Band tut, vergegenwärtigen, in welche politische Großwetterlage die Gründung der VDJ fiel: „Es war eine Zeit des Terrorverdachts, der Berufsverbote, des Notstands, der politischen Ausgrenzung und der Unvereinbarkeitsbeschlüsse.“[3] Es war nicht nur eine Zeit des politischen Aufbruchs, sondern auch der staatlichen Repression. Und auch damals schon war die politische Linke fraktioniert. Dementsprechend wild ging es beim VDJ-Gründungskongress zu. Doch trotzdem konnten sich unter dem vielsagenden Label „Demokratisch“ unterschiedliche Menschen zusammenraufen. Dazu Henner Wolter: „Die Basis war Antifaschismus. Ich wusste, dass in der VDJ nicht nur altgediente und jüngere Kommunisten und Kommunistinnen aktiv waren, sondern sehr verdienstvolle Liberale, die aktiv in der Bürgerrechtsbewegung waren.“[4]
Cara Röhner erinnert in ihrem Artikel[5] daran, dass das Grundgesetz einen wirtschaftspolitischen Kompromiss darstellt, welcher sich in Art. 15 GG ausdrückt. Dieser wird zwar erst in jüngster Zeit im Kontext der Debatte um die Vergesellschaftung von Wohnraum reaktiviert. „Aufgrund der spezifisch-historischen Konstellation der Nachkriegszeit – der Kalte Krieg, der westdeutsche Antikommunismus und der befriedete Klassenkompromiss – hat die Vergesellschaftung seit der Entstehung des Grundgesetzes ein Schattendasein geführt.“[6] Die Frage seines Inhaltes und seiner Bedeutung berührt aber eben nicht nur eines der drängendsten sozialen Probleme, sondern auch das grundlegende Verständnis des Grundgesetzes.
Martin Kutscha wirft in seinem Beitrag[7] unter anderem die Frage auf, wie antifaschistisch das Grundgesetz eigentlich ist. Denn diese Frage trieb die VDJ und ihr Umfeld lange Zeit um. Hintergrund waren der sogenannte „Radikalenerlass“ und die darauffolgenden Berufsverbote, welche in erster Linie (vermeintliche) Linke trafen und teilweise von Richtern mit Nazi-Vergangenheit bestätigt wurden. „Was für eine makabre Szenerie: Da sitzen zwei NS-belastete Richter über eine junge Kommunistin zu Gericht und beurteilen deren Treue zu einer Verfassung, die gerade als »Gegenentwurf« […] zum Nazistatt geschaffen wurde. Die letzte Charakterisierung war allerdings viele Jahre Gegenstand erbitterten Streits unter linken Juristinnen und Juristen – nicht zuletzt auch in den Reihen der VDJ-Mitglieder.“[8]
Furchtbares Recht
Drei Beiträge des Bandes haben zwar ganz unterschiedliche Rechtsgebiete zum Gegenstand, aber dafür eine Gemeinsamkeit: Sie zeigen Kontinuitäten des deutschen Rechts auf, welche den meisten Leser*innen wohl nicht gänzlich unbekannt sein dürften, einen aber dennoch erschaudern lassen. So kritisiert Theresa Tschenker[9] das immer noch fortbestehende restriktive deutsche Arbeitskampfrecht. Das Verbot des sogenannten politischen Streiks ist nicht nur hinsichtlich seiner Entstehung problematisch und schon gar nicht aus dem Grundgesetz ableitbar. Es steht auch im Widerspruch zu verbindlichen völkerrechtlichen Verträgen, v.a. der Europäischen Sozialcharta. Tschenker macht aber auch deutlich, dass es nicht mehr der politischen Realität entspricht. Denn gerade in Bereichen der öffentlichen Daseinsfürsorge, wo der Staat entweder selbst Arbeitgeber ist oder die Finanzierung gewährleistet, ist die künstliche Trennung von politischer und ökonomischer Sphäre unstimmig: „Eine Abgrenzung von rechtmäßigen, tarifbezogenen und unrechtmäßigen, ‚politischen‘ Streiks, stellt insbesondere in solchen Fällen eine ungerechtfertigte Grundrechtsbeschränkung dar, in denen ein Streik seine Wirkweisen nur dann entfalten kann, wenn auch staatliche Handlungsträger*innen adressiert werden.“[10]
Ähnlich unfassbar ist die weiterbestehende Trennung von staatlicher und privater Krankenversicherung, welche der Beitrag von Karl-Jürgen Bieback behandelt.[11] „Die Bürgerversicherung, die die gesamte Bevölkerung eines Staates gegen soziale Risiken absichert, wurde in allen europäischen Staaten spätestens nach 1945 eingeführt…“[12] Obwohl das deutsche Krankenversicherungssystem unsozial und unnötig bürokratisch ist, wurde eine Reform noch von keiner Bundesregierung angefasst. Dabei bestehen neben den politischen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wie Bieback deutlich macht.
Wie tief Antiziganismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft verwurzelt ist, sollte kritisch denkenden Menschen klar sein. Wie tief er sich aber auch ins Recht eingraben konnte, zeigt Hannah Abdullahi Musse Abucar auf.[13] Zwar wurde das in seinen Grundzügen noch aus dem Kaiserreich und vor allem aus der NS-Zeit stammende Aufenthaltsrecht immer wieder reformiert. Die Umbenennung rassistischer Begriffe änderte aber nichts an der Intention der Regelungen. Aus „Zigeunern“ wurden erst „Landstreicher und Landfahrer“, später dann Obdachlose und Drogenabhängige. „Antiziganistische Wissensbestände über die vermeintliche Gefährlichkeit von Sinti*ze und Rom*nja“[14] liegen dem aber weiterhin zugrunde. „Der Kontext, in dem die Regelungen stehen, ist vergleichbar geblieben.“[15]
All time favourites
Neben dem bei einem Fünfzigjährigen Geburtstag obligatorischen Blick zurück, dürfen natürlich auch nicht die Klassiker linker Rechtskritik fehlen. Gleichberechtigung, Versammlungsfreiheit, Strafrechtskritik und mehr. Deutlich wird dabei die unheilvolle Tradition der deutschen Rechtswissenschaft. So fragt man sich nach der Lektüre des Beitrages von Maximilian Pichl zum Verfassungsschutz (VS)[16], was eigentlich beklemmender ist. Dass die verschiedenen VS-Behörden bei ihrer Gründung fast nur als Alt-Nazis bestanden oder dass die deutschen Neo-Nazis ohne tatkräftige Unterstützung des VS heute nicht so stark dastehen würden.
Es lohnt sich, den Band zu lesen. Er schlägt einen weiten thematischen und zeitlichen Bogen, ohne sich in Ausschweifungen zu verlieren. Dabei hält er auch neue und spannende Erkenntnisse und Ideen bereit. Gerade der letzte Beitrag zum Klimawandel[17] regt zum Nachdenken an und zeigt anschaulich auf, welche Grenze die gesellschaftlichen Verhältnisse dem Rechtsfortschritt setzen. Die im Buch dargestellten Ansichten und Einschätzungen sind plural und streitbar. Seinem auf dem Klappentext formulierten Anspruch, „wichtige rechtspolitische Debatten auf einen aktuellen Stand“ zu holen, wird es damit allemal gerecht.
Andreas Engelmann / Joachim Kerth-Zelter / Ursula Mende / Cara Röhner / David-S. Schumann / Lea Welsch (Hrsg.), Streit ums Recht. Rechtspolitische Kämpfe in 50 Jahren »Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen« (VDJ), 2022.
[1] Alle im Folgenden zitierten Beiträge stammen aus dem rezensierten Buch.
[2] Siehe: https://www.vdj.de/vdj/.
[3] Andreas Engelmann / Joachim Kerth-Zelter / Ursula Mende / Cara Röhner / David-S. Schumann / Lea Welsch Einleitung, Der »Streit ums Recht« und die Wiedereroberung der Demokratie, S. 9.
[4] Wolfgang Däubler / Charlotte Nieß-Mache / Udo Mayer / Henner Wolter, »Wir wollten anders sein«, S. 24.
[5] Cara Röhner, Vergesellschaftung von Wohnraum. Demokratisierung und kollektive Freiheit, S. 82.
[6] Röhner (Fn. 5), S. 82.
[7] Martin Kutscha, Jagd auf »Verfassungsfeinde« und »Extremisten«, S. 129.
[8] Kutscha (Fn. 6), S. 135.
[9] Theresa Tschenker, Das Verbot des «politischen» Streiks, S. 157.
[10] Tschenker (Fn. 9), S. 165 f.
[11] Karl-Jürgen Bieback, Bürgerversicherung: Der lange Weg aus dem gespaltenen Sozialsystem, S. 181.
[12] Bieback (Fn. 11), S. 181.
[13] Hannah Abdullahi Musse Abucar, »Ein Schelm, wer Böses denkt«, S. 193.
[14] Abucar (Fn. 13), S. 199.
[15] Abucar (Fn. 13), S. 201
[16] Maximilian Pichl, Der Verfassungsschutz und die demokratische Frage, S. 122.
[17] Andreas Fisahn, Klimawandel und seine Folgen für die Verfasstheit der Gesundheit, S. 241.
[vorab online, Bearbeitungsstand 23.07.2023]