Sowohl diejenigen, die in seeuntauglichen Booten versuchen, über das Mittelmeer zu fliehen, als auch diejenigen, die Menschen aus Seenot retten, müssen in Europa damit rechnen, dafür schikaniert und vor Gericht gestellt zu werden. Dies geschieht ungeachtet des geltenden internationalen Rechts.
Das internationale Recht verpflichtet Staaten, alle Kapitän*innen unter ihrer Flagge rechtlich daran zu binden, in Seenot befindliche Personen zu retten (Artikel 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen). Außerdem hat nach Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte jeder Mensch das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit. Und schließlich haben sich 149 Staaten der Genfer Flüchtlingskonvention angeschlossen. Diese legt unter anderem in Artikel 31 fest, dass die unterzeichnenden Staaten nicht wegen unerlaubter Einreise oder unerlaubten Aufenthalts gegen Geflüchtete vorgehen dürfen, wenn diese unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit direkt bedroht sind.
Die rechtlichen Rahmenbedingungen machen also deutlich, dass menschliches Leben zu schützen und zu retten ist und dass diejenigen, die sich selbst durch Flucht in Sicherheit bringen, selbst dann nicht zu bestrafen sind, wenn sie deswegen illegal Staatsgrenzen überschreiten. Auch moralisch erschließt sich jedem verständigen Menschen: Wer eine Person in Seenot entdeckt, muss sie retten, und wer sich selbst aus Seenot rettet, ist deswegen nicht zu bestrafen.
Die Auffassung verschiedener europäischer Staaten scheint jedoch eine andere zu sein. Immer wieder kommt es zu teils abstrusen Vorwürfen gegen und Verurteilungen von Geflüchteten und zivilen Seenotretter*innen.
Kriminalisierung von Flüchtenden
Die Kriminalisierung von Flüchtenden mutet dabei besonders seltsam an. Wer sein eigenes und gegebenenfalls das Leben anderer aus einer lebensbedrohlichen Situation, eben aus Seenot, rettet, muss zumindest in an das Mittelmeer angrenzenden Staaten damit rechnen, kriminalisiert zu werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn man zu jenen Menschen gehört, die die europäischen Staaten lieber sterben lassen, als ihnen das Erreichen sicherer Ufer zu ermöglichen. Dass notfalls beim Sterben auch noch in Form von illegalen Pushbacks oder Ähnlichem nachgeholfen wird, steht nochmal auf einem anderen Blatt.[1]
Die Flucht dient unter anderem der Verwirklichung verschiedener garantierter (Menschen-)Rechte, zum Beispiel des Rechts auf Leben. Die Flucht über das Mittelmeer ist dabei regelmäßig lebensgefährlich. Ein Risiko, welches mangels sicherer Fluchtrouten allerdings oft eingegangen wird. Auch wer auf der Flucht das Boot auf dem Mittelmeer eigenhändig steuert, um sich und die anderen Insass*innen möglichst unbeschadet über selbiges zu bringen, tut dies in dem Moment in erster Linie, um selbst zu fliehen und will die potentiell tödliche Überfahrt überleben. Entsprechend perfide ist es, dieses Handeln – das Steuern des Bootes – zu kriminalisieren. Die folgenden Beispiele zeigen allerdings exemplarisch, dass hiervor keineswegs zurückgeschreckt wird, im Gegenteil. Wer auf den Booten Aufgaben übernimmt (sei es, weil er*sie nicht genügend Geld für die Überfahrt hat oder sei es, weil die Schlepper*innen das Boot nach einiger Zeit verlassen und dann jemand anderes das Boot steuern muss), wird regelmäßig als Schlepper*in behandelt. Dass dieser Vorwurf erst recht keinen Sinn ergibt, wenn Flüchtende selbst die besagten Aufgaben aus der Not heraus übernehmen, ist den Behörden egal.
187 Jahre Haft für die Hoffnung auf ein besseres Leben
Anfang Mai 2022 wurden drei Syrer in Griechenland zu 187 bzw. 126 Jahren Haft wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise verurteilt. Weshalb? Sie hatten mit ca. 80 Personen versucht, von der Türkei nach Griechenland überzusetzen, und sollen dabei das Boot gesteuert haben. Erschwerend kam hinzu, dass das Boot kenterte und 18 Menschen starben.[2]
Auch andere an den Haaren herbeigezogene Vorwürfe werden den Flüchtenden gemacht. 2020 wurde in Griechenland ein Mann angeklagt, der mit seinem sechsjährigen Sohn versuchte, von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Der Sechsjährige kam bei der gefährlichen Überfahrt ums Leben. Der Vorwurf gegen den Vater lautete sodann: Kindeswohlgefährdung.[3] Von den zahlreichen Verfahren gegen Geflüchtete ist dies eines der wenigen, welches glücklicherweise mit einem Freispruch endete.[4] Einem anderen Mann vom selben Boot drohten 230 Jahren Haft plus lebenslang. Die Rechnung dahinter: Beihilfe zur unerlaubten Einreise mit Gefährdung von Menschenleben entspricht mindestens zehn Jahren Haft pro beförderter Person und pro tatsächlich verstorbener Person zusätzlich jeweils lebenslang.[5] Am Ende wurde er jedoch „nur“ zu einem Jahr und fünf Monaten auf Bewährung verurteilt.[6]
Griechenland liegt bei der Bestrafung von Flüchtenden besonders weit vorne. So wird davon ausgegangen, dass pro Boot durchschnittlich ein bis zwei Personen verhaftet werden, und laut offiziellen Angaben des Justizministeriums stellten 2019 diejenigen, die wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise inhaftiert waren, mit 1905 Personen im Vergleich zu anderen Delikten die zweitgrößte Gruppe in griechischen Gefängnissen dar.[7] Die Strafe für Beihilfe zur unerlaubten Einreise ist dort regelmäßig höher als die für Mord.[8]
Die mit solchen Vorwürfen und Urteilen ausgesendeten Signale sind so brutal wie menschenverachtend. Wer versucht, mit einem Boot übers Mittelmeer zu gelangen, was auch schon ohne Pushbacks oder unfreiwillige Kontakte mit der sogenannten libyschen Küstenwache gefährlich genug ist, muss damit rechnen, dafür den Rest des Lebens in einem Gefängnis zu verbringen. Bei der sogenannten Küstenwache handelt sich nicht um eine Küstenwache im eigentlichen Sinne, sondern um eine Struktur, die illegale Pullbacks durchführt und Boote an der Abfahrt hindert.
Von Verfahrensfehlern und der Bedeutung öffentlicher Aufmerksamkeit
Doch nicht nur Flüchtende werden von den europäischen Staaten kriminalisiert. Auch zivile Seenotretter*innen sehen sich regelmäßig mit Gerichtsverfahren konfrontiert. Von den vielen Verfahren sei hier lediglich das aktuelle Beispiel der Iuventa-Crew dargestellt. Die Organisation „Jugend rettet“ nahm von 2016 mit dem Schiff Iuventa bis zur Beschlagnahme des selbigen durch die italienische Justiz im August 2017 ca. 14.000 Menschen aus Seenot an Bord.[9] 2021 schließlich folgte die Anklage: Beihilfe zur illegalen Einreise.[10] Anfangs warfen die Behörden den Aktivist*innen noch illegalen Schusswaffenbesitz und Mitgliedschaft in einem kriminellen Netzwerk vor. Die letzten beiden natürlich auch jeder Grundlage entbehrenden Vorwürfe sind mittlerweile aus der Welt.[11]
Im Mai 2022 startete das Vorverfahren in Trapani. Wenn die Angeklagten verurteilt werden, drohen ihnen bis zu 20 Jahre Haft. Nicht nur die Einleitungen eines Verfahrens für das Retten von 14.000 Menschen und die absurd hohe Strafandrohung verdeutlichen, wie die italienische Justiz gegen Seenotretter*innen vorgeht. Auch der Ablauf dieses Vorverfahrens selbst stellt keine Sternstunde der Rechtsstaatlichkeit dar. Während der Ermittlungen schmuggelten die Behörden beispielsweise Abhörgeräte an Bord des Schiffes, mit denen auch Gespräche mit Anwält*innen und Journalist*innen abgehört wurden.[12] Am ersten Prozesstermin lagen wichtigen Prozessdokumente den Angeklagten nicht in übersetzter Form vor. Diese und weitere Fehler waren so gravierend, dass das Verfahren zunächst unterbrochen werden musste. Der Prozess zieht sich nach wie vor, Bemühungen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts, die Rechte der Angeklagten zu wahren, sind nicht erkennbar.
Wie das Verfahren ausgeht, ist völlig unklar. Klar hingegen ist, dass Italien auch weiterhin alles versuchen wird, um Seenotrettung zu verhindern und zu kriminalisieren. Und noch etwas wird deutlich: Selbst in einem prominenten Verfahren mit öffentlichem Druck und guter anwaltlicher Vertretung muss mit harten Bandagen gekämpft werden, um ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten. Wie viel schlimmer sich die Situation für Geflüchtete in Verfahren fernab der Öffentlichkeit darstellen mag, lässt sich nur erahnen.
Zu viele Rettungswesten und zu viele gerettete Menschen
An dieser Stelle seien noch einige der kreativeren Vorwürfe gegen Seenotretter*innen dargestellt. Beispielsweise wurde gegen die Organisation Mission Lifeline 2017 bereits wegen des Vorwurfs der Schleuserei ermittelt, bevor sie überhaupt ein Boot besaßen, mit dem sie Menschen hätten retten können.[13] Weiterhin wurde der Crew der Aquarius 2018 von italienischen Behörden vorgeworfen, HIV-kontaminierte Kleidung an Bord zu haben. Dass über Kleidung kein HIV übertragen werden kann, wurde dabei geflissentlich ignoriert.[14] 2020 warfen die italienischen Behörden der Besatzung der Sea Watch 4 vor, zu viele Rettungswesten an Bord zu haben.[15] Absurd auch der Vorwurf im Jahr 2020 gegen die Crew der Ocean Viking der Organisation SOS MÉDITERRANÉE, sie hätten zu viele Menschen an Bord gehabt.[16] Denn selbst wenn die Zustände an Bord schlecht gewesen sein sollten, was wäre die Alternative gewesen? Niemand kann ernsthaft vorschlagen, nur einen Teil der in Seenot befindlichen Personen zu retten und den Rest ertrinken zu lassen.
Und schließlich hat sich auch der ehemalige Bundesverkehrsminister Scheuer nicht lumpen lassen und 2020 eine Verordnung geschaffen, deren kaum verstecktes Ziel es ist, zivile Seenotrettung für Schiffe unter deutscher Flagge zu verhindern. Die Verordnung gilt „im Bereich […] der Seenotrettung, inklusive Beobachtungsmissionen, oder anderer humanitärer Zwecke“. Es wurden Sicherheitsstandards festgelegt, die so dermaßen überzogen sind, dass ein legales Auslaufen der Schiffe damit faktisch unmöglich gemacht wird.[17] So löblich das vorgeschobene Ziel der Sicherheit zuerst auch scheinen mag, wird es doch pervertiert angesichts der klar erkennbaren Absicht, Menschen am Erreichen eines sicheren Hafens zu hindern.
Diese teils aufwendig konstruierten Vorwürfe unterstreichen, was sich schon auf den ersten Blick erahnen lässt: Es geht nicht um die Durchsetzung des geltenden Rechts, sondern um politisch gewollte Kriminalisierung und Schikane.
Warum das Ganze?
Zwei Ansätze liegen nahe, um das Verhalten der EU und der einzelnen Staaten in diesem Kontext zu verstehen. Zunächst existiert die offensichtliche Zielsetzung, dass möglichst wenig Menschen in Europa ankommen. Eine Kriminalisierung derer, die es geschafft haben, soll der Abschreckung dienen. Dies wird auch unumwunden zugegeben, so zum Beispiel von Adonis Georgiadis, Vizechef der griechischen Regierungspartei Nia Demokratia: „Damit sie aufhören zu kommen, müssen sie hören, dass es denen, die hier sind, schlecht geht.“[18] Dass das Konzept der Abschreckung keinen nachweisbaren Effekt hat, sei hier nur am Rande erwähnt. Das zweite Ziel kann darin vermutet werden, die durch staatliche Behörden und Frontex angewendete Gewalt an den Außengrenzen zu legitimieren. Denn wenn Flucht stets im Zusammenhang mit Kriminalität wahrgenommen wird, erscheint die Art und Weise des Grenzschutzes auch mit teils tödlicher Gewalt trotz ihrer offensichtlichen Unmenschlichkeit und Völkerrechtswidrigkeit leichter vermittelbarer und für viele (leider) verständlicher.
Damit fügt sich die Strategie an zwei Stellen im System „Festung Europa“ ein. Die Festung baut sich grob dargestellt wie folgt auf: Zunächst soll verhindert werden, dass Menschen europäischen Boden erreichen. Das funktioniert unter anderem über Abkommen mit Staaten wie Libyen und Marokko, Pullbacks, Pushbacks und Militarisierung der Außengrenzen. Hier kommt auch das Konzept der Abschreckung von zur Flucht entschlossenen Menschen durch drohende Verhaftungen und Verurteilungen zum Tragen, welches durch die Kriminalisierung der zivilen Seenotretter*innen noch verstärkt wird. Vervollständigt wird die Abschottung durch weiteres repressives Vorgehen gegenüber denen, die es gegen alle Widrigkeiten nach Europa geschafft haben; exemplarisch seien hier die Internierung in menschenunwürdigen Lagern, die Verhinderung effektiven Zugangs zum Asylsystem sowie Abschiebungen genannt.
Dieses tödliche System muss in der EU, der nebenbei bemerkt 2012 der Friedensnobelpreis zuerkannt wurde, nach innen gerechtfertigt werden. Dies wird versucht, indem das Bild einer fortwährenden Bedrohung der Sicherheit Europas geschaffen wird. Und sobald die eigene Sicherheit als gefährdet erscheint, sind Maßnahmen, die dieser vermeintlichen Gefährdung entgegenwirken, natürlich sehr willkommen. Ob die Bedrohung dabei real, oder wie in diesem Fall vorgeschoben ist, ist zweitrangig. Ständig wird dabei das Narrativ des „kriminellen Flüchtlings“ bedient. Die einfache Logik: Wenn oft genug wiederholt wird, dass Seenotrettung, die Flucht mit Kindern oder das Steuern von Booten strafbar sind, sieht es irgendwann so aus, als würden tatsächliche Kriminelle die Sicherheit Europas bedrohen. So wird das Bild eines „wir gegen die“ geschaffen, welches zwar ausschließlich der Rechtfertigung des eigenen Handelns dient, aber dennoch außerordentlich „gut“ funktioniert.
[1] Isabella Kolar, Illegale Pushbacks sind „politisch gewollt“, Deutschlandfunk v. 22.06.2022, deutschlandfunkkultur.de/frontex-und-pushback-100.html (Stand aller Links 03.01.2023).
[2] Elisabeth Heinze, 18 Mal lebenslänglich, Neues Deutschland, 08.05.2022, nd-aktuell.de/artikel/1163606.asylpolitik-mal-lebenslaenglich.html.
[3] Autorinnenkollektiv mEUterei, Grenzenlose Gewalt – Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende, 2022, 190 f.
[4] MiGAZIN v. 18.05.2022, Wegen Tod seines Sohnes angeklagter Flüchtling freigesprochen, migazin.de/2022/05/18/samos-wegen-tod-sohnes-fluechtling/.
[5] Autorinnenkollektiv mEUterei (Fn. 3) 193 f.
[6] MiGAZIN (Fn. 4).
[7] Autorinnenkollektiv mEUterei (Fn. 3), 193.
[8] Ebd.
[9] ECCHR, Seenotretter*innen unter Druck: Italien kriminalisiert Iuventa-Crew, ecchr.eu/fall/seenotretterinnen-unter-druck-italienische-regierung-kriminalisiert-crew-der-iuventa.
[10] Iuventa, https://iuventa-crew.org/de/.
[11] Pro Asyl, »Das eigentliche Problem ist die Kriminalisierung von Flucht und Migration«, 20.05.2022, proasyl.de/news/das-eigentliche-problem.
[12] Ebd.
[13] Lars Wienand, Schleuserei – Justiz hat Seenotretter ohne Boot im Verdacht, Hamburger Abendblatt, 26.06.2017, abendblatt.de/politik/article211039355.
[14] The Guardian, Italy orders seizure of migrant rescue ship over ‚HIV-contaminated‘ clothes, theguardian.com/world/2018/nov/20/italy-orders-seizure-aquarius-migrant-rescue-ship-hiv-clothes.
[15] Sea Watch, Rettungsschiff Sea-Watch 4 ist frei – 363 Gerettete an Bord der Sea-Watch 3 warten auf sicheren Hafen, 02.03.2021, sea-watch.org/rettungsschiff-sea-watch-4-ist-frei/.
[16] Christian Jakob, Ocean Viking hängt fest, Taz, 23.07.2020, taz.de/SOS-Mediterranee-verurteilt-Massnahme/!5695405/.
[17] Mare Liberum, Verkehrsministerium verhindert Einsatz für Geflüchtete, 09.06.2020, mare-liberum.org/de/verkehrsministerium-verhindert-einsatz.
[18] Ghassim, Armin/Schayani, Isabel: Flüchtlinge auf Lesbos. Die gewollte Not., 21.01.2021, daserste.ndr.de/panorama/archiv/2021/Fluechtlinge-auf-Lesbos-Die-gewollte-Not,lesbos130.html.
[vorab online, Bearbeitungsstand 22.11.2023]