Deutschlands Justiz ist noch immer nicht barrierefrei. Das erschwert Menschen mit Behinderung den Zugang zur Justiz und dem Rechtsstaat enorm. Aufzeigen kann man diesen Umstand anhand zahlreicher Beispiele.
Eines davon betrifft den Fall um Sonja M. Sie arbeitete in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung und hat eine leichte bis mittelgradige kognitive Beeinträchtigung. 2020 gab sie an, von ihrem Vorgesetzten ungewollt geküsst und sexuell bedrängt worden zu sein. Im Oktober erstatteten sie und ihre Mutter als eingesetzte Betreuerin Anzeige. Erst vier Monate später wird sie von der Polizei vernommen, auf Druck von Rechtsanwält*in Ronska Grimm wird die Vernehmung auf Video aufgezeichnet. Ihre Aussage geht über mehrere Stunden und ist in sich stimmig.
Die Staatsanwaltschaft beauftragte ein aussagepsychologisches Gutachten. Diese Gutachten sollen unter Anderem feststellen, ob die aussagende Person aussagefähig ist. Rechtsanwält*in Grimm erhebt jedoch schwere Vorwürfe gegen das Gutachten. Die begutachtende Person hätte kein Fachwissen zu Vernehmungen mit Menschen mit Behinderung gehabt. So sollen Tests für Grundschulkinder angewendet worden sein, die Vernehmung hätte aber gleichzeitig nicht in leichter Sprache stattgefunden. Außerdem habe Sonja M. siezen müssen, wäre aber zurück geduzt worden. Dem Protokoll sei zu entnehmen, dass sie sich in der Situation nicht wohl gefühlt habe und ihr die wechselnden Aufgabenstellungen nicht immer klar waren. Nach über drei Stunden wird die Begutachtung schließlich abgebrochen. Sonja M. sagte unter Tränen sie könne nicht mehr. Dies wird ihr im Nachhinein als emotionale Instabilität ausgelegt. Das Gutachten kommt zu dem Schluss, Sonja M. wäre nicht aussagefähig. In der Folge werden die Ermittlungen gegen den Vorgesetzten vonseiten der Staatsanwaltschaft eingestellt. Ein Klageerzwingungsverfahren scheiterte.
Der Fall verdeutlicht ein generelles Problem: Wenn Sonja M. als aussageunfähig gilt, wird ihr die Möglichkeit genommen, in einem rechtlichen Verfahren Gehör zu bekommen. Ihr Zugang zum Recht und der vieler anderer Menschen wird damit erheblich beschränkt. Aussageunfähigkeit sollte eigentlich eine absolute Ausnahme in unserem Rechtssystem darstellen, die rechtlichen Hürden sollten hoch gesetzt sein. Trotzdem muss in Fällen von angenommener Aussageunfähigkeit keine Zweitbegutachtung angeordnet werden und das trotz Anzeichen für Mängel. Am 26. September 2022 reichte Sonja M. deswegen Verfassungsbeschwerde beim Landesverfassungsgerichtshof Berlin ein, eine Entscheidung steht noch aus.
Doch nicht nur im Prozess wird Menschen mit Behinderung der Zugang erschwert. Auch die Gebäude sind in den seltensten Fällen barrierefrei, Zahlen dazu finden sich kaum. Die Umwelt- und Anti- Atomaktivistin Cécile Lecomte berichtete im April 2023 auf Twitter, dass sie bei einem Prozess am Amtsgericht Ahaus mit dem Rollstuhl von Feuerwehrkräften die Treppe hinauf und hinunter getragen werden musste.
Das Gericht hatte laut ihrer Aussage die Verhandlung von Anfang an mit der Feuerwehr geplant. Jedes Mal, wenn Lecomte die Treppe nehmen musste – entweder, um zum barrierefreien WC im Erdgeschoss zu gelangen, oder zum Gerichtssaal im ersten Stock – musste die Feuerwehr gerufen werden und Lecomte bis zu zehn Minuten warten. Die Aktivistin vorher über das Prozedere zu informieren, hielt das Gericht nicht für notwendig. Lecomte kritisierte den Ableismus der Justiz. Der Amtsgerichtsdirektor ließ verlauten, er sehe zwar das Problem, aber wisse selbst keine bessere Lösung.
Die Mängel setzen sich in der digitalen Barrierefreiheit fort. Seit 2016 sind alle öffentlichen Stellen in der EU verpflichtet, ihre Internetseiten, internen Apps, Intra- und Extranetseiten barrierefrei zu gestalten und eine Erklärung zur Barrierefreiheit abzugeben. Deutschland regelt die EU-Verordnung auf Bundesebene durch das Behindertengleichstellungsgesetz und die Barrierefreie- Informationstechnik-Verordnung 2.0. Für öffentliche Stellen der Bundesländer und Kommunen gelten entsprechende Landesgesetze. Liest man die Erklärungen zur Barrierefreiheit der Justizministerien der Bundesländer, fällt auf, dass fast kein Internetauftritt barrierefrei gestaltet ist.
Stattdessen liest man in den meisten Erklärungen von einer teilweisen Vereinbarkeit mit den Vorgaben und von Bemühungen, Barrierefreiheit zu gewährleisten. Dabei betrifft die fehlende Barrierefreiheit vor allem Videos, Audiodateien, Formulare und pdf-Dateien zum Downloaden, stellenweise auch den gesamten Internetauftritt. Einige Justizministerien geben ihre unverhältnismäßige Belastung als Begründung an. Das ermöglicht öffentlichen Stellen, eine Kosten-Nutzen-Abwägung zu machen. Dabei werden die Größe, die Ressourcen und die Art der öffentlichen Stelle betrachtet und die geschätzten Kosten in ein Verhältnis mit den angenommenen Vorteilen gestellt, wobei vor allem Nutzungshäufigkeit und Nutzungsdauer berücksichtigt werden sollen. Da die betreffenden Funktionen nicht barrierefrei gestaltet sind, muss die Nutzung jedoch geschätzt werden. Zwar können betroffene Nutzer*innen geschaffene Schlichtungsstellen nutzen und sich an Durchsetzungstellen wenden, fraglich bleibt jedoch, inwiefern eine zusätzliche Hürde den Zugang erschwert.
Bestrebungen, den Zustand für Menschen mit Behinderung zur Justiz zu erleichtern, gehen vor allem von Vereinen und Privatpersonen aus. Im Internet finden sich kaum Daten zum Stand der Barrierefreiheit innerhalb der Justiz. Das ist Teil des Problems. Mehr Berichterstattung ist damit unabdingbar.