Jede*r, der*die mal durch die Vorbereitung auf ein juristisches Staatsexamen gegangen ist oder noch drinsteckt, weiß, dass diese meist ein bis anderthalb Jahre dauert, und oft vor allem eins ist: sehr belastend. Wie belastend aber genau, das hat nun das Projekt JurSTRESS – Regensburger Forschungsprojekt zur Examensbelastung bei Jurastudierenden1 untersucht. Vielleicht könnten dessen Ergebnisse auch für Bemühungen zur Reformierung des Studiums in Anschlag gebracht werden.
Es ist kaum zu glauben, aber das JurSTRESS-Projekt, das eine Kooperation der Fakultät für Rechtwissenschaft und des Instituts für Psychologie der Universität Regensburg ist, ist wohl tatsächlich das erste seiner Art. Während es universitäres Allgemeinwissen ist, dass Jura in Deutschland zu den eher ungemütlichen Studienfächern zählt, gab es zwar bisher Studien zur psychischen Gesundheit von deutschen Studierenden im Allgemeinen, zu deutschen Humanmedizinstudierenden im Speziellen und zu psychischen Belastungen in amerikanischen Law Schools. Diese hatten bereits festgestellt, dass Studierende fachunabhängig im Vergleich zu nicht studierenden Gleichaltrigen eine „substanzielle Stressbelastung“ haben, diese zum Beispiel in der Humanmedizin noch einmal deutlich ansteigt und auch Law Schools in den USA eine besonders belastende Ausbildungsart bieten, was sich zum Beispiel in einer erhöhten Depressivität der dort Studierenden zeigt.2 Studien zur Stressbelastungen von Jurastudierenden an deutschen Universitäten fehlten aber.
Das JurSTRESS-Projekt, das diese Forschungslücke füllen möchte, fand nun an vier Hochschulen in Bayern statt. Es begleitete Jurastudierende in ihrem Jahr vor den Klausuren des ersten juristischen Staatsexamens sowie noch sechs Monate danach und verglich jeweils deren Stressbelastung mit der der Studierenden, die sich in der Mitte des Jurastudiums befanden. Die Studierenden hatten sich hierfür freiwillig gemeldet und wurden ein Jahr, drei Monate, eine Woche vor sowie noch zweimal nach dem Examen anhand von Fragebögen und zum Beispiel. Speichelproben auf verschiedene Stressmarker hin befragt und untersucht. Im Mai 2022 erschien dann der Abschlussbericht. In diesem haben deutsche Jurastudierende nun schwarz auf weiß belegt: Während der Examensvorbereitung geht es vielen von ihnen ziemlich mies.
Ergebnisse der Untersuchung
Zu Beginn des Berichts lernen wir allerdings erst einmal, was Stress aus psychologischer Sicht ist: „Stress entsteht, wenn die Anforderungen einer bedeutsamen Situation nach unserer Einschätzung unsere Bewältigungsmethoden zu übersteigen drohen und wenn die Situationen unvorhersehbar und unkontrolliert erscheinen“. (Das kommt vielen Jurastudierenden, die eine Unmenge an Stoff und gleichzeitig eher vage gehaltene Bewertungskriterien gewohnt sind, schon einmal bekannt vor.) Stress wird dabei nicht als per se schlecht für die psychische und körperliche Gesundheit verstanden, Menschen können durch Stress lernen und wachsen, aber eben auch kaputt gehen. Problematisch wird vor allem eine chronische Stressbelastung, also wenn Stress zumindest für einige Zeit zu einem dauerhaften Begleiter wird. Das ist dann ein Risikofaktor für verschiedene Erkrankungen und kostet vor allem auch einiges an Lebensqualität.3
Die Untersuchung stellte fest, dass Studierende während der Examensvorbereitung im Schnitt 40 Stunden arbeiteten, in den Monaten unmittelbar vor dem Examen durchschnittlich fast 50 Stunden pro Woche.4 Vor allem die Zeit um die drei Monate vor dem Examen war extrem belastend: Über 40 % der Studierenden zeigten eine Ängstlichkeit, die aus klinischer Sicht als „bedenklich“ (das bedeutet: so, dass in einem klinischen Setting diagnostische Schritte hinsichtlich z. B. einer Angststörung eingeleitet würden) gilt, und für knapp 15 % galt das hinsichtlich einer Depressivität. Der Anteil der Studierenden mit einem bedenklichen Wert bei der Depressivität stieg eine Woche vor dem Examen auf fast ein Fünftel der Studierenden an. Wie zu erwarten war, nahmen in der Examensvorbereitung auch Schlafprobleme und körperliche Beschwerden zu.5Währenddessen lagen die Werte von Jurastudierenden im Hauptstudium konstant deutlich niedriger.
Bemerkenswert, wenn auch vielleicht nicht überraschend, sind schließlich noch zwei weitere Ergebnisse der Studie: Erstens erholte sich die psychische Gesundheit der Jurastudierenden nach dem schriftlichen Examensklausuren deutlich – bei den meisten. Von den 226 Studierenden in der Examensgruppe entwickelten z. B. 24 Teilnehmende während der Examensvorbereitung eine „bedenkliche“ Ängstlichkeit und wiesen diese auch sechs Monate nach dem Examen auf (das sind fast 10 %!), für acht galt das hinsichtlich Depressivität.6Außerdem gab es einen Zusammenhang zwischen Belastungsintensität und der Examensnote (je besser die Examensnote am Ende, desto weniger Stress im Schnitt davor), und zwischen der Examensnote und dem Umfang, in dem sich Studierende die Examensvorbereitung noch mit einem Nebenjob finanzierten. Einen Nebenjob ausüben zu müssen führte im Schnitt zu weniger hohen Examensnoten und mehr Stress.7 Und wahrscheinlich ist die Situation schlimmer als in der Studie abgebildet: Es haben vor allem Studierende, die das Studium mit einem eher überdurchschnittlichen Examensergebnis abschlossen, teilgenommen.8
Impuls für eine Reform?
Die Studie scheint, passend zum allgemein gewachsenen gesellschaftlichen Interesse an psychischer Gesundheit, einen gewissen Nerv zu treffen: Ein Vortrag, der die Ergebnisse der Studie vorstellt, wurde an verschiedenen Universitäten in ganz Deutschland gehalten. Das Verfassungsbloginterview mit Marietta Auer, in dem endlich auch von professoraler Seite prägnant eingestanden wird, wie kritikwürdig anstrengend das Jurastudium ist, hat unter Jurastudierenden eine gewisse Bekanntheit erlangt. Sie beschreibt die Examensvorbereitung folgendermaßen: „Ich komme nicht aus einer Juristenfamilie. Da gab es niemanden, der mich hätte warnen können, wie hart einen die jahrelange Vorbereitung auf diese doch sehr künstliche Examenssituation prägen kann. Und dann die inhärente Menschenwürdeverletzung, dass man auf den Hundertstelpunkt genau gesagt bekommt, wie unzulänglich man ist!“9
Wie steht es also um Reformbemühungen? Kritik an der rechtswissenschaftlichen Ausbildung ist keinesfalls neu oder auf eine zunehmende Aufmerksamkeit für psychische Gesundheit beschränkt. Eine rechtstheoretische Kritik der juristischen Ausbildung aus dem englischsprachigen Raum mit Klassikerstatus ist Duncan Kennedys „Legal Education and the Reproduction of Hierarchy. A Polemic against the System”, der kritisiert, wie die juristische Ausbildung durch größtenteils stumpfe Affirmation des geltenden Rechts und die Verknüpfung der Organisation und der Kultur in Law Schools mit gesellschaftlichen sozialen Hierarchien ebendiese Hierarchien stabilisiert.10
Die tiefgreifendste Reform der juristischen Ausbildung in Deutschland war wohl das „Bremer Modell“ in den 70er Jahren, mit dem unter anderem Bremen auf Grundlage des damaligen § 5a des Deutschen Richtergesetzes versuchte, Praxis und Sozialwissenschaften in das Studium zu integrieren, das mit einem einzigen Examen abzuschließen war – ein Modell, das aber auch sehr in der Kritik stand.11 1984 wurden die rechtlichen Grundlagen für eine einstufige Jurist*innenausbildung wieder abgeschafft. Die Bolognareform, mit der in den meisten anderen Studiengängen ein Bachelor-/Master-System eingeführt wurde, hat an der juristischen Ausbildung und seiner Fixierung auf das Staatsexamen keine Spuren hinterlassen.
Heute stehen eher Detailreformen (Zwischenprüfung, Schwerpunktausbildung, Freiversuche und Abschichten, integrierter Bachelor?)12 vor allem rund um humanere Studienbedingungen im Vordergrund, die aber dafür gerade wieder Aufwind erhalten: So behandelte ein ausführliches Gutachten der Bundesfachschaftentagung 2022 eine Reform des Jurastudiums.13 Die Initiative iur.reform, die vor allem von Promovierenden getragen wird, versucht zum Beispiel mit einer systematischen Auswertung von vorhandenen Beiträgen zur Reformierung des Jurastudiums „belastbare Zahlen für einen gemeinsamen Diskurs“ zu liefern.14Demgegenüber wurde in Nordrhein-Westfalen mit der Reform des Juristenausbildungsgesetzes von Anfang 2022 das Abschichten, also das Vorziehen von einigen Examensklausuren, mit Wirkung ab 2025 abgeschafft, und damit eine regionale Erleichterung abgebaut. Die neue Studie zur Stressbelastung stellt die Reformfrage noch einmal in verschärfter Form: Warum das Ganze, das fast alle quält, und sozial Benachteiligte weiter benachteiligt? Wovon sich zwar die meisten erholen, aber eben ein relevanter Anteil nicht?
Was durch das Jurastudium mit seiner Examensvorbereitung in der aktuellen Form auf jeden Fall zu lernen ist, ist Leistungs- und Aufopferungsbereitschaft für den Staatsdienst (immerhin sind die Staatsexamina Qualifikation für das Richter*innenamt). Noch einmal mit den Worten von Marietta Auer: „[M]an wird da passend gemacht, da steckt noch die ganze strukturelle Gewalt des Obrigkeitsstaats drin.“15
Weiterführende Lektüre:
Stefan Wüst / Marina Giglberger / Hannah Peter, Abschlussbericht des Regensburger Forschungsprojekts zur Examensbelastung bei Jurastudierenden – JurStress, 2022, abrufbar unter https://www.uni-regensburg.de/humanwissenschaften/psychologie-kudielka/projekte/jurstress/index.html
Marietta Auer / Maximilian Steinbeis, Was mich eigentlich interessiert, ist das Gesellschaftliche, Verfassungsblog v. 29.01.2020, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/was-mich-eigentlich-interessiert-ist-das-gesellschaftliche/
Duncan Kennedy, Legal Education and the Reproduction of Hierarchy. A Polemic against the System, 2004
1 Wüst / Gilberger / Peter 2022.
2 Ebenda, 6.
3 Ebenda, 5, inkl. Zitat.
4 Ebenda, 12.
5 Ebenda, 13-17.
6 Ebenda, 26.
7 Ebenda, 24.
8 Ebenda, 25.
9 Auer / Steinbeis VerfBlog 2020.
10 Kennedy 2004, insb. 61-73, 87.
11 Rüdiger Lautmann, Kritik am Prüfungswesen – damals und heute. Ein Nachwort, Zeitschrift für Didaktik der Rechtswissenschaft 2020, 117 (117 f.).
12 Ebd. 124.
13 Abrufbar unter https://bundesfachschaft.de/wp-content/uploads/2022/07/Gutachten_Workshop_2_Reform-des-Jurastudiums.pdf.
14 Internetauftritt: https://iurreform.de.
15 Auer / Steinbeis (Fn. 9).