Suchterkrankungen beschäftigen seit jeher das Strafrecht, das trifft insbesondere auf Fragen der Schuldfähigkeit zu. Eine besondere Stellung nehmen hierbei die Abhängigkeiten ein, die nichts mit Alkohol, Drogen und Co. zu tun haben. Wie geht die Rechtsprechung damit um, wenn jemand nach Stehlen, Zündeln oder Spielen süchtig ist? Was kann sie von der modernen Psychologie lernen?
Es gibt im deutschen Recht keine Gedankenverbrechen. Warum die Diebin stiehlt oder der Räuber raubt, ist nicht entscheidend für die Frage, ob bestraft wird, sondern wirkt sich in der Regel nur darauf aus, wie bestraft wird. Doch was wäre eine Regel ohne Ausnahmen? Manchmal begehen Menschen Straftaten, denen wir als Gesellschaft trotz der Tat keinen Vorwurf machen wollen. So verzichtet die Gemeinschaft darauf, diejenigen zu bestrafen, die einfach nicht anders können. Selbst diejenigen, die vielleicht wissen, dass sie etwas Verbotenes tun, aber nach dieser Einsicht nicht handeln können.
Im Strafrecht ist dieser Grundsatz als „Schuldprinzip“ bekannt. Er besagt, dass nur bestraft werden darf, wem die Tat auch persönlich vorgeworfen werden kann. Das hängt auch mit dem Zweck von Strafe im Allgemeinen zusammen. Das Ziel des Strafrechts ist nicht nur blinde Vergeltung für in die Welt gesetztes Unrecht. Gesucht wird nicht der Sündenbock, der nach dem Motto „Auge um Auge“ zugunsten des Wohlbefindens der restlichen Gesellschaft in die Wüste geschickt wird. Ein Rechtsstaat muss vielmehr die zur Rechenschaft ziehen, die für die Tat verantwortlich – also schuldig – sind. Um das zu garantieren, gibt es den § 20 Strafgesetzbuch (StGB).
Die zwei Stockwerke
§ 20 StGB trägt die Überschrift „Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen“. Ist ein*e Täter*in schuldunfähig, so erfolgt keine Bestrafung. Dementsprechend hoch sind also die Anforderungen, die das Strafrecht an die Hintergründe der Tat stellt. Einteilen kann man die Voraussetzungen in zwei sog. „Stockwerke“: Das biologische und das psychologische Stockwerk.1
Das biologische Stockwerk umfasst die sogenannten Eingangsvoraussetzungen.2 Hiermit ist gemeint, dass für eine Eröffnung der Anwendbarkeit des § 20 StGB eines der darin beschrieben Merkmale zutreffen muss. Nach dem Wortlaut des § 20 StGB braucht es hierfür entweder eine „krankhafte seelische Störung“, „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“, „Intelligenzminderung“ oder eine „schwere andere seelische Störung“.3 Kann keine dieser Voraussetzungen bejaht werden, bleibt bildlich gesprochen die Tür zum zweiten Stockwerk verschlossen.
Das psychologische Stockwerk beschäftigt sich mit der Ausprägung des im biologischen Stockwerk festgestellten Grundes. Hier wird eruiert, wie stark sich die Erkrankung auf die konkrete Tat ausgewirkt hat.4Ebenfalls muss aber miteinbezogen werden, ob der Alltag der*des Erkrankten durch die Störung beeinflusst wird.5 Eine in der Praxis wichtige Rolle bei der Bewertung der Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB nehmen Süchte ein.
Sucht ohne Substanz
Abhängigkeiten können vielfältige Formen annehmen und verlangen daher einen differenzierten Umgang – rechtlich und psychologisch. Dabei ist schon die Definition von Sucht und Rausch an sich nicht einfach. Der Begriff der „Sucht“ wird bspw. von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemieden, die eher von Abhängigkeit spricht, gleichzeitig aber anerkennt, dass alltagssprachlich und teilweise auch in professionellen Kontexten unter Sucht etwas Ähnliches verstanden wird. 6 In Bezug auf die Abhängigkeit von Alkohol und anderen Drogen stellt die WHO zusammengefasst heraus, dass diese von einem Drang nach Konsum der Substanz, einer Toleranz gegenüber sich steigernden Dosen der Substanz, Entzugserscheinungen bei Nichtkonsum und mit der Zeit entstehenden sozialen Folgen für das Individuum geprägt ist.7 An ihre Grenzen gerät dieser diagnostische Ansatz dann, wenn eine Abhängigkeit nicht an einen Stoff, sondern ein Verhalten geknüpft ist.
Hierzu finden sich Erklärungsversuche im sogenannten „ICD-10“: Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) listet allerlei Krankheiten auf und teilt sie in Kategorien ein. Auch einzelne Süchte werden hier aufgeschlüsselt. So wird eindeutig zwischen Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchten (bspw. Alkoholabhängigkeit, aber auch Glücksspielsucht) und Störungen der Impulskontrolle unterschieden.8
In Bezug auf die Verhaltenssüchte wird auch von „nicht-stoffgebundenen Süchten“ gesprochen. Diese unterscheiden sich von Substanzabhängigkeiten vor allem dadurch, dass Gegenstand des Zwangs ein Verhalten an sich ist und nicht das Streben nach einer Konsumfolge (wie etwa dem Rausch).9 Es fehlt ein durch einen von außen zugeführten Stoff entstandener chemischer oder biologischer Effekt und eine Toleranzentwicklung findet daher in dieser Form nicht statt. Zu den in dieser Gestalt auftretenden Erkrankungen zählen beispielsweise die Pyromanie (zwanghaftes Feuerlegen), Kleptomanie (Stehlsucht) und die in der Praxis besonders relevante Glücksspielsucht.
Im Umgang mit diesen Phänomenen tut sich die Rechtsprechung bisweilen schwer. Die Anerkennung als eigenständige seelische Störung akzeptieren die Strafgerichte größtenteils nicht. So führt der Bundesgerichtshof (BGH) zur Spielsucht aus, dass diese keine eigene seelische Störung darstelle, sondern nur dazu führen könnte, dass Persönlichkeitsveränderungen eintreten, die wiederum Einfluss auf die Steuerungsfähigkeit haben könnten.10 Als Konsequenz dieser Bewertung ist also zu betrachten, welche anderen aus der Spielsucht entstandenen Störungen die Begehung der Tat beeinflusst haben könnten. Gutachter*innen im Strafprozess müssen bei ihrer Analyse daher vor allem auf Folgen der Sucht achten, die den Menschen als solchen verändern und nicht bloß feststellen, ob eine Sucht besteht oder nicht.
Das widerspricht dem Prinzip der Zwei-Stockwerke-Theorie. Die Sucht wird nicht als Teil der biologischen Ebene anerkannt, die die Eingangsvoraussetzungen für § 20 StGB begründet, soll aber gleichzeitig eine Persönlichkeitsveränderung herbeiführen können, die wiederum diesem Stockwerk zuzuordnen ist. Hier verdreht die Rechtsprechung den Kausalverlauf, der charakteristisch für § 20 ist: Aus einer Krankheit folgt das Symptom. Aus biologischem Stockwerk folgt psychologisches Stockwerk. Verdrängt wird hier der chronische und krankhafte Zustand der Abhängigkeit, die Grunderkrankung und nicht nur bloßes Beiwerk ist.
Ohnehin ist die Definition der beiden Stockwerke aus Sicht der psychologischen Forschung nicht aktuell. .11Eine Differenzierung zwischen Psychologie und Biologie vernachlässigt den engen Zusammenhang der Disziplinen, die untereinander viele Schnittpunkte (insbesondere in der Lehre der psychischen Krankheiten) aufweisen. Eine klare Trennung, wie sie die Rechtsprechung (scheinbar) entwickelt hat und immer noch nutzt, ist künstlich herbeigeführt und zumindest mit diesen Begrifflichkeiten nicht sinnvoll erklärbar. Nichtsdestotrotz erfüllt die Definition in der Praxis eine wichtige Funktion: Sie berücksichtigt für die juristische Praxis beide Oberkategorien des Tatbestandes; die Ausgangserkrankung und den Zusammenhang dieser zur Tat.
Jura vs. Psychologie
Hier offenbart sich ein Grundproblem im Umgang des Strafrechts mit der Psychologie: Menschen sind unterschiedlich. Der Versuch, mit der Stockwerktheorie eine grobe Einordnung über krankhaftes menschliches Verhalten treffen zu wollen, stößt immer wieder an seine Grenzen. Einerseits muss eine Linie zwischen „normalem“ und pathologischem Verhalten gezogen werden, andererseits reicht das nicht aus, um zu ermitteln, ob sich die Person bei Begehung der Tat hätte rechtskonform verhalten können.
Nicht immer hat Krankheit X die Folge Y. Beim Substanzgebrauch lässt sich durch die Erkenntnisse über den Stoff selbst eine zumindest grobe Aussage über die Gründe für das Verhalten einer*s Täter*in treffen und darüber, ob rechtmäßiges Alternativverhalten eine mögliche Option gewesen wäre. Wenn das aber nicht geht, muss die Person als Ganze betrachtet werden. Die Auswirkungen auf ein bestimmtes Individuum können unterschiedliche Formen annehmen, auch hinsichtlich der Schwere der Erkrankung. Eine suchtbedingte „Persönlichkeitsveränderung“ ist daher oft nicht leicht zu identifizieren.
Der Rückgriff auf etablierte – wenn auch nicht unbedingt zutreffende – Definitionen schafft eine zumindest grob umrissene Konstante in der Rechtsanwendung. Die Zwei-Stockwerke-Theorie wird seit Jahrzenten gelehrt, gelernt und angewendet. Eine Anpassung der Begriffe mit jeder Neuveröffentlichung des ICD würde eine zusätzliche Rechtsunsicherheit schaffen. Andererseits sorgt ein Mangel an Flexibilität nach einer gewissen Zeit für Probleme. Psychologische Begutachtungen von Täter*innen werden nach Erkenntnissen der Psychologie durchgeführt, nicht der Rechtswissenschaft. Verwertet werden müssen sie allerdings in einem juristischen Prozess, in dem die Interpretation der Ergebnisse durch Jurist*innen vorgenommen wird.
Das sorgt auf Dauer für Zerwürfnisse und Vertrauensverlust zwischen Jurist*innen und forensischen Psycholog*innen. Den ersten Schritt der Annäherung an eine gerechte Einzelfallbetrachtung wird aber die Juristerei gehen müssen. Das Recht muss sich dem Leben anpassen können, nicht nur umgekehrt. Würde man beispielsweise von KFZ-Sachverständigen erwarten, dass sie einen Unfall mit einem brandneuen Elektrofahrzeug so analysieren, als ginge es um einen Trabant?
Die Adaptierung des Rechts an das reale und bunte Leben draußen vor der Gerichtspforte ist nicht die Aufgabe der Psychologie. Psycholog*innen schreiben keine Urteile. Gerichte schreiben Urteile.
1 Vgl. Franz Streng, in: Volker Erb / Jürgen Schäfer (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 1, 4. Aufl. 2020, § 20 Rn. 12.
2 Vgl. Streng (Fn. 1), § 20 Rn. 12; andere Begriffe nutzen zum Beispiel Walter Perron / Bettina Weißer, in: Adolf Schönke / Horst Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 30. Aufl. 2019, § 20 Rn. 1 ff.
3 Früher formuliert im umstrittenen Wortlaut „schwere andere seelische Abartigkeit“, Änderung mWv 01.01.2021 durch Änderungsgesetz vom 30.11.2020 (BGBl. I, 2600).
4 Ralf Eschelbach, in: Bernd von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), BeckOK StGB, § 20 Rn. 63.
5 Ebenda.
6 WHO, Lexicon of Alcohol and Drug Terms, 1994, 6.
7 Ebenda.
8 Vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung, abrufbar unter: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html (Stand: 24.09.2022)
9 Vgl. Norbert Konrad / Christian Huchzermeier / Wilfried Rasch, Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 2019, 321.
10 BGH, Urt. v. 25.11.2004 – 5 StR 411/04, BGHSt 49, 365 (369f.).
11 Vgl. Eschelbach (Fn. 4), § 20 Rn. 11.