Mit dem Amtsantritt der Merz Regierung wurde das deutsche Grenzregime deutlich verschärft. Friedrich Merz hatte bereits im Wahlkampf angekündigt, die Grenzen für Geflüchtete „dicht zu machen“. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) setzte dieses Versprechen unmittelbar nach seinem Amtsantritt um: Am 7. Mai 2025 erließ er eine Weisung an die Bundespolizei, auf deren Grundlage auch Schutzsuchenden an den Binnengrenzen die Einreise verweigert werden kann. Die Weisung stützt sich auf § 18 Absatz 2 Nummer 1 Asylgesetz und ordnet an, dass Schutzsuchende in den angrenzenden Staat zurückgewiesen werden dürfen. Damit sind die für Asylsuchende verpflichtend durchzuführenden Dublin Verfahren faktisch ausgesetzt, ausgenommen sind nur „erkennbar vulnerable Personen“. Diese Aussetzung ist evident rechtswidrig – ein klarer Rechtsbruch.Bereits unter der früheren Innenministerin Nancy Faeser kam es zu Zurückweisungen, diese wurden jedoch nicht offen verteidigt. 2024 wurden rund 40.000 Menschen an deutschen Grenzen zurückgewiesen, darunter viele aus klassischen Herkunftsländern wie Syrien, Afghanistan und der Türkei. Mit Dobrindts Weisung wird diese Praxis nun bewusst politisch legitimiert.
Juristisch ist die Weisung in mehrfacher Hinsicht unhaltbar. Die Dublin Verordnung verpflichtet jeden Mitgliedstaat, das Asylgesuch einer Person zu prüfen, die an der Grenze oder im Hoheitsgebiet um Schutz ersucht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist hierfür zuständig; die Bundespolizei darf eine solche Zuständigkeitsprüfung nicht an der Grenze ersetzen. Auch das in der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der EU Grundrechtecharta verankerte Refoulement Verbot wird verletzt: Niemand darf in einen Staat zurückgeschickt werden, in dem ihm Folter, unmenschliche Behandlung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Auch Kettenabschiebungen müssen geprüft werden.
Am 7. Mai 2025 war ich selbst vor Ort in Frankfurt (Oder) bzw. Słubice. Ich habe beobachtet, wie Menschen, die von der Bundespolizei als migrantisiert oder geflüchtet gelesen wurden, gezielt kontrolliert wurden, während andere unbehelligt die Grenze passieren konnten. Neben der Tatsache, dass sich die Bundespolizei so wohl erhoffte Menschen zu identifizieren, bei denen es sich um potentielle Asylantragsteller:innen handelt, die sie schnell zurückweisen können, liegt hier auch ein klarer Fall von racial profiling vor, ein struktureller Verstoß gegen Artikel 3 des Grundgesetzes, der Diskriminierung aufgrund äußerer Zuschreibungen untersagt. Trotzdem wurde diese Praxis dort wie eine Normalität vollzogen, routiniert, bürokratisch, als sei sie rechtlich und moralisch selbstverständlich.
Dobrindt versucht, die Praxis europarechtlich zu rechtfertigen, unter anderem mit Verweis auf Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Der Europäische Gerichtshof hat jedoch wiederholt klargestellt, dass Art. 72 AEUV keinen eigenständigen Anwendungsbereich hat, wenn der Unionsgesetzgeber bereits Regelungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung getroffen hat – was im Bereich der Dublin Verordnung und des Schengener Grenzkodex der Fall ist. Eine Berufung auf Art. 72 AEUV scheidet damit aus. Auch der Schengener Grenzkodex rechtfertigt keine Zurückweisungen: Art. 25 erlaubt die Wiedereinführung von Grenzkontrollen nur bei außergewöhnlichen Umständen und erheblicher Bedrohung der inneren Sicherheit. Angesichts der sinkenden Asylantragszahlen und fehlender europäischer Dimension ist eine solche Notlage nicht gegeben. Luxemburg hat bereits ein Konsultationsverfahren nach Art. 27a SGK eingeleitet, und der EuGH hat vergleichbare Binnengrenzkontrollen zwischen Österreich und Slowenien für rechtswidrig erklärt.
Besonders deutlich ist die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Berlin vom 2. Juni 2025, das die Zurückweisung dreier somalischer Asylsuchender an der deutsch polnischen Grenze für rechtswidrig erklärte. Dobrindt und Merz versuchten, das Urteil als bloße Einzelfallentscheidung darzustellen. Tatsächlich setzte sich das Gericht grundsätzlich mit der Zulässigkeit der Zurückweisungen auseinander und kam zu dem klaren Ergebnis, dass diese gegen Unionsrecht verstoßen. Maßnahmen, die auf rechtswidrige Grenzkontrollen gestützt werden, sind ebenfalls rechtswidrig, wie der EuGH ausdrücklich betonte.
Die Lage an der deutsch polnischen Grenze hat sich inzwischen zugespitzt. Die polnische Regierung führte ihrerseits stationäre Grenzkontrollen ein, und Medien berichten von Szenen, in denen Geflüchtete tagelang von Grenzbeamten beider Länder hin und her geschoben wurden. Rechte Bürgerwehren patrouillieren auf polnischer Seite und drängen Schutzsuchende gewaltsam zurück. Auch wenn die Zahl der Zurückweisungen in Deutschland eher symbolpolitisch wirkt – im Mai und Juni 2025 waren es rund 6.200 Menschen, darunter 300 Asylsuchende – ist der politische und rechtliche Schaden erheblich.
Die Auswirkungen dieser Praxis sind gravierend. Erstens wird Schutzsuchenden ihr Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren genommen. Zweitens normalisiert die Bundesregierung eine Politik des offenen Rechtsbruchs und schwächt damit den Rechtsstaat. Drittens verschiebt diese Politik den öffentlichen Diskurs weiter nach rechts, indem Geflüchtete als vermeintliche äußere Gefahr inszeniert werden, gegen die nationale Souveränität verteidigt werden müsse.
Juristisch kann die Weisung nicht bestehen bleiben. Der Vorrang des Unionsrechts und das individuelle Asylrecht nach Artikel 16a Grundgesetz sind zwingend. Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach entschieden, dass weder die Dublin-Verordnung noch der Schengener Grenzkodex von den Mitgliedstaaten einseitig ausgesetzt oder umgangen werden dürfen. In seinem Urteil Jafari (C‑646/16) stellte der EuGH klar, dass Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung auch in außergewöhnlichen Krisensituationen uneingeschränkt gilt und keine Ausnahmen für eine einseitige Aussetzung zulässt. Wer an dieser Rechtslage rüttelt, stellt nicht nur den Schutz Geflüchteter infrage, sondern gefährdet grundlegende rechtsstaatliche Standards. Nötig wäre nicht eine weitere Verschärfung, sondern die Rücknahme der Weisung und die Aufhebung der rechtswidrigen Grenzkontrollen.
Rechtstaatlichkeit ist kein Luxusproblem, sondern das Fundament einer demokratischen Gesellschaft. Wer sie an den Grenzen abbaut, schwächt sie für alle. Notwendig sind daher strategische Klagen, um den Rechtsbruch zu stoppen, und eine ehrliche politische Debatte über eine menschenrechtebasierte Migrationspolitik. Statt symbolischer Abschottung braucht es Investitionen in Wohnraum, Kitas, Schulen und Gesundheitsversorgung, damit alle Menschen – ob geflüchtet oder hier geboren – in Würde und Sicherheit leben können.