Neben den gemeinhin bekannten Arten der Verfolgung sind überwiegend Frauen geschlechtsspezifischer Verfolgung ausgesetzt. Dabei ist die Furcht hiervor nicht nur der Grund für viele von ihnen, aus ihrer Heimat zu fliehen – vor allem während und auch nach der Flucht sind Frauen in erhöhtem Maße geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt und treffen in Deutschland auf Strukturen, die ihren spezifischen Bedürfnissen nicht gerecht werden. Es bräuchte rechtliche und tatsächliche Änderungen, um ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit gerecht zu werden.
Geschlechtsspezifische Verfolgung ist ein alarmierendes Phänomen in vielen Teilen der Welt, welches hauptsächlich Frauen betrifft.1 Sie werden aufgrund ihres Geschlechts strukturell diskriminiert, unterdrückt und angegriffen, angefangen von verbalen Angriffen bis hin zu körperlicher Gewalt. Die Gründe für diese systematische Verfolgung liegen in patriarchalen Strukturen, welche von kulturellen Normen und Traditionen unterstützt werden. Dabei kann sowohl der Grund für die Verfolgung an das Geschlecht anknüpfen als auch die Art der Verfolgung geschlechtsspezifischer Natur sein.
Der UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) definiert geschlechtsspezifische Verfolgung als Gewalt durch staatliche und nicht-staatliche Akteur*innen, die sich gegen eine Person aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechts richtet.2 Nicht-staatliche Verfolgung umfasst dabei Gewalt auch durch (Ehe-)Partner*innen, Nachbar*innen und andere Personen aus der Gemeinschaft und wird dann flüchtlingsrechtlich relevant, wenn von staatlicher Seite der notwendige Schutz gegenüber Übergriffen nicht systematisch gewährleistet erscheint, da andernfalls auch Schutz im Inland gesucht werden könnte. Gerade die nicht-staatliche Verfolgung ist im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt von besonderer Relevanz, da sie mit Blick auf z.B. Zwangsverheiratungen und häusliche Gewalt häufig in der privaten Sphäre stattfindet.
Nachdem eine geschlechtssensible Auslegung des Flüchtlingsrechts auch in Deutschland lange auf sich warten ließ, umfasst der gesetzliche Verfolgungsbegriff mittlerweile explizit Verfolgung geschlechtsspezifischer Art. Die Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention, auf die sich das Asylgesetz (AsylG) in § 3 bezieht, fordert u.a. eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen der „Rasse“, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe der jeweiligen Person. In Bezug auf letzteres bestimmt § 3b Nr. 4 AsylG für das deutsche Recht, dass eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe u.a. dann vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht bzw. die geschlechtliche Identität anknüpft. Die Verfolgung aufgrund des Geschlechts ist teilweise mit den übrigen Verfolgungsgründen verschränkt. So werden insbesondere Frauen, die wegen ihrer politischen Aktivität verfolgt werden, gleichzeitig für ihr nicht dem traditionellen Rollenbild entsprechenden Verhalten sanktioniert, wodurch die Verfolgung aufgrund politischer Aktivität eine Geschlechtsdimension erhält.
Relevante Verfolgungshandlungen
In diesem Kontext relevante Verfolgungshandlungen aus § 3a Abs. 1 und 2 AsylG sind insbesondere die „Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt“ und „Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind“.3 Hierunter fallen u.a. Zwangsverheiratungen, Zwangsprostitution, drohende Femizide, sexualisierte oder häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung und drohende Strafen aufgrund von Verstößen gegen einen Sittenkodex, um nur einige wenige zu nennen. Insbesondere die Vergewaltigung ist hier als patriarchale Verfolgungshandlung zu nennen, die den Ausdruck des Machtverhältnisses zwischen den Geschlechtern darstellt und systematisch als Kriegswaffe eingesetzt wird. Sie wird auch als Werkzeug zur Ausübung rassistischer Gewalt mit dem erklärten Ziel einer Schwangerschaft genutzt, um das Gefühl von Zugehörigkeit und Zusammenhalt einer ethnischen Gruppe zu schwächen.4
Ungleicher Zugang und Gefahren auf der Flucht
Bereits die Möglichkeit, überhaupt aus dem Herkunftsland zu fliehen, ist von geschlechtsspezifischen Unterschieden geprägt. Bedingt durch ihre traditionelle Rolle haben Frauen häufig kaum Zugang zu finanziellen Mitteln und nur geringen Besitz. Zudem tragen Frauen meistens die Verantwortung für ihre Kinder und andere Angehörige, was es für sie schwieriger macht, allein zu fliehen. Dieser Punkt ist auch dafür relevant, dass das Geld oft nur für die Flucht von Teilen einer Familie ausreicht und Frauen deshalb hier nicht an erster Stelle stehen. Männern wird wegen ihrer Rolle des Ernährers und wegen der ihnen zugeschriebenen Körperkraft mehr Erfolg bei der Flucht unterstellt; sie könnten die Familie dann nachholen. Darüber hinaus wird eine Flucht durch Analphabetismus und mangelndes Wissen aufgrund schlechteren Zugangs zu Bildung erschwert.5
Dennoch ist etwa die Hälfte der flüchtenden Menschen weiblich.6 Gerade allein flüchtende Frauen laufen dabei Gefahr, auf dem Fluchtweg Opfer von sexueller Gewalt oder Menschenhandel zu werden. Das ungleiche Machtverhältnis zwischen Schlepper*innen und Flüchtenden erhöht für Flüchtende und im Spezifischen für Frauen das Risiko, ausgebeutet zu werden. In diesem Zusammenhang berichtet der UNHCR vom sogenannten „survival sex“, wobei sexuelle Dienstleistungen als „Bezahlung“ eingefordert werden.7 In Transitcamps, wo Menschen jeglichen Geschlechts auf engem Raum miteinander leben und die einen Mangel an Privatsphäre und adäquater Daseinsvorsorge aufweisen, sind Frauen keineswegs sicher. So beschreiben viele Geflüchtete, dass sie nicht ruhig schlafen können und Angst haben, die Waschräume zu nutzen, weil weder die Zelte noch die Sanitäranlagen abschließbar sind.8
Strukturschwächen im Verfahren
In Deutschland angekommen finden sich geflüchtete Frauen in Strukturen wieder, die ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit kaum Rechnung tragen. Zwar ist geschlechtsspezifische Verfolgung in der Theorie rechtlich anerkannt. Jedoch mangelt es in der bürokratischen Praxis oft an entsprechender Sensibilität und Verständnis.9 Im Asylverfahren muss die geflüchtete Person ihre individuelle Verfolgung nachweisen oder zumindest glaubhaft darlegen kann. Zentral ist hier die Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), bei dem es auf die detailreiche Darstellung seitens der*des Geflüchteten ankommt, welche ausnahmslos auch von vulnerablen Personen erwartet wird.
Aufgrund von Traumatisierung, Angst und Scham sind viele Geflüchtete hierzu jedoch insbesondere in der Anhörungssituation nicht in der Lage, was häufig zulasten ihrer Glaubwürdigkeit ausgelegt wird.10 Zwar kann die geflüchtete Person beantragen, bei der Anhörung von entsprechend geschulten Sachbearbeiter*innen – sogenannten Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung – begleitet zu werden. Zudem kann sie eine Befragung durch allein weibliches Personal fordern, wenn sie nicht im Beisein männlicher Personen über das ihr Widerfahrene sprechen möchte oder kann. Jedoch werden vulnerable Personen häufig nicht früh genug als solche identifiziert und erhalten deshalb auch nicht die entsprechenden psychosozialen Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten. Im Anschluss an die Anhörung nachgeschobene Ausführungen werden häufig als unglaubwürdig bewertet.
Rechtliche Schwierigkeiten bei der Anerkennung
Zudem wird eine Vielzahl der oben genannten geschlechtsspezifischen Verfolgungshandlungen gerichtlich nicht einheitlich anerkannt: Neben dem individuellen Vortrag durch die geflüchtete Person werden Lageberichte des Auswärtigen Amtes zur Situation der Rechte von Frauen im jeweiligen Herkunftsland herangezogen. Die teilweise lediglich auf dem Papier bestehenden „Frauenschutzrechte“ bieten den betroffenen Frauen in der Realität jedoch oft nicht den notwendigen staatlichen Schutz.11 Geschlechtsspezifische Verfolgung wird oft nicht als solche anerkannt, sondern wie im Falle von systematischen Vergewaltigungen vielmehr als “Beiprodukt” von Konflikten und damit als private Einzelfälle eingestuft. Bestimmte frauenspezifische Gewaltakte werden schließlich als kulturelle oder religiöse Traditionen heruntergespielt, was Gewalt gegen Frauen bagatellisiert und deren Verfolgungscharakter nicht erkennt.
Schutzlosigkeit in Massenunterkünften
Mangelnde Privat- und Intimsphäre, keine abschließbaren Sanitär- und Schlafräume, die unsichere asylrechtliche Situation, fehlende tagesstrukturierende Beschäftigung – dies sind nur einige der gewaltfördernden Strukturen, denen Menschen nicht nur in Transitcamps auf der Flucht, sondern auch in vielen Sammelunterkünften in Deutschland ausgesetzt sind. Eine große Zahl an Menschen lebt in erzwungener Gemeinschaft auf engem Raum, es erfolgen kontinuierliche Kontrollen durch das Personal und die Polizei. Zudem sind die Unterkünfte streng hierarchisch organisiert und die Mitarbeitenden stellen die zentralen Schnittstellen zu Unterstützungsangeboten dar, was ihnen Macht gegenüber den Geflüchteten verleiht. All dies führt dazu, dass Frauen nicht nur geschlechtsspezifischen Übergriffen durch andere Bewohner*innen ausgesetzt sind, sondern auch durch Unterkunftspersonal und Fremde.12 Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen beschränken zudem die Bewegungsfreiheit und damit auch die Schutzmöglichkeiten von Gewaltbetroffenen, z.B. in Frauenhäusern.13 Ohne näher auf die Fragwürdigkeit derartiger Massenunterkünfte im Allgemeinen einzugehen, braucht es dort Rückzugsmöglichkeiten für alle Menschen und insbesondere getrennte Schutzräume für Frauen.
Die Vorgaben der Istanbul-Konvention
Diese nachteiligen Verfahrensstrukturen und der mangelnde Gewaltschutz in den Unterkünften entsprechen auch nicht den Vorgaben der Istanbul-Konvention (IK), einer umfassenden Menschenrechtskonvention zur Verhütung und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt, die seit 2018 geltendes Recht in Deutschland ist. Sie bestimmt in Art. 4 Abs. 3 ausdrücklich, dass alle Frauen unabhängig von u.a. Nationalität und Aufenthaltsstatus den Schutz der Konvention genießen. Kapitel VII wendet sich dem Bereich Migration und Asyl zu und verlangt neben der Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung auch ein geschlechtersensibles Aufnahme- und Asylverfahren.
Laut dem Bericht des Expert*innenauschusses zur Umsetzung der Istanbul-Konvention (GREVIO) von Oktober 2023 weist der Schutz von Frauen vor Gewalt in Deutschland erhebliche Mängel auf. Insbesondere hinsichtlich des Schutzes geflüchteter Frauen herrschen große Umsetzungslücken.14 So kritisiert GREVIO u.a. die Bedingungen in den Unterkünften, welche Geflüchteten kein Gefühl der Sicherheit vermitteln und ihnen nicht ermöglichen würden, ihre Erlebnisse mit Hilfe von spezialisierter Beratung zu verarbeiten. Da die ersten Anhörungen des Asylverfahrens innerhalb weniger Tage nach der Ankunft stattfinden, bestehe zudem kaum die Möglichkeit, sich angemessen auf die Anhörung vorzubereiten. Hier solle ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen dem Erfordernis einer zügigen Durchführung des Asylverfahrens und der Notwendigkeit, Menschen nach ihrer Ankunft Zeit und Raum zu gewähren, um überhaupt in der Lage zu sein, Ansprüche auf geschlechtsspezifische Verfolgung geltend zu machen. GREVIO weist ferner darauf hin, dass Asylbewerber*innen nicht ausreichend über die Bedeutung der ihnen zugefügten geschlechtsspezifischen Gewalt für ihre Asylanträge informiert werden und fordert eine systematische Identifizierung von Betroffenen geschlechtsspezifischer Gewalt. Er bemängelt darüber hinaus, dass das BAMF in seiner Praxis „Geschlecht“ nicht immer als alleiniges Verfolgungskriterium anerkennt und geschlechtsspezifische Gewalt durch Private teilweise als nicht asylrelevant einstuft. Außerdem müssten alle am Asylverfahren Beteiligten eine angemessene Schulung über geschlechtsspezifische Verfolgung erhalten und der Zugang zu spezialisierten Unterstützungsdiensten für Geflüchtete muss rechtlich und tatsächlich gesichert sein.
Geschlechtersensibilität jetzt!
Geflüchtete Frauen sind geschlechtsspezifischer Gewalt häufig nicht nur in ihren Herkunftsländern, sondern auch während und nach der Flucht in besonderem Maße ausgesetzt. Gleichzeitig finden geschlechtsspezifische Aspekte in der (Rechts-)Praxis keine angemessene Berücksichtigung, indem der Komplexität geschlechtsspezifischer Verfolgung und den spezifischen Bedürfnissen geflüchteter Frauen zu wenig Rechnung getragen wird. Hier braucht es neben tatsächlicher rechtlicher Anerkennung von geschlechtsspezifischer Verfolgung insbesondere eine geschlechtersensible Anhörung sowie eine Unterbringung mit effektiven Gewaltschutzkonzepten und Rückzugsmöglichkeiten. Gerade geflüchtete Frauen, die in Deutschland Diskriminierung und Ungleichbehandlung nicht nur aufgrund ihrer Herkunft und ihres Status, sondern auch aufgrund ihres Geschlechts erfahren, haben es schwer, Schutz vor Gewalt einzufordern und brauchen niedrigschwelligen Zugang zu umfangreichen Beratungs- und Versorgungsangeboten. Gleichzeitig sollte die Gruppe der geschlechtsspezifisch Verfolgten nicht allein über ihre Vulnerabilität definiert und verallgemeinert werden. Ihnen sollte vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, ihr Leben gleichermaßen sicher und selbstbestimmt zu führen.
Lektüre- und Hörempfehlungen
Asyl im Dialog: Podcast der Refugee Law Clinic Deutschland, Folge vom 19. April 2022 „Asyl und Flucht aus feministischer Sicht“.
Anne Pertsch/Farnaz Nasiriamini, Geschlechtsspezifische Gewalt im Asylverfahren, djbZ, 2020, 112-114.
Antonio Della Donne, Die besondere Schutzbedürftigkeit von LSBTI-Geflüchteten in den Unterkünften, RLC Journal [Online], 2021, verfügbar unter: https://rlc-journal.org/2021/die-besondere-schutzbeduerftigkeit-von-lsbti-gefluechteten-in-den-unterkuenften/.
1 Aus Platzgründen konzentriert sich dieser Text auf Gewalt gegen Frauen und geht eher auf die Erfahrungen von cis Frauen ein. Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass (anders oder zusätzlich) marginalisierte Menschen wie LGBTQIA+-Personen auch in diesem Kontext spezifischer Gewalt ausgesetzt sind und ihre ganz eigenen Schutzbedürfnisse haben.
2 UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz Nr. 1: Geschlechtsspezifische Verfolgung, 2002, verfügbar unter: https://www.refworld.org/docid/3d5902754.html [Stand aller Links: 08.12.2022].
3 Frederique Garst/Anna Gsell, RLC Journal [Online], 2021, verfügbar unter: https://rlc-journal.org/2021/geschlechtsspezifische-verfolgung-von-frauen.
4 Angelika Birck, MenschenRechtsMagazin, 2002, 73-81.
5 ebenda.
6 UNHCR, Global-Trends-Report 2021, verfügbar unter: https://www.unhcr.org/publications/brochures/62a9d1494/global-trends-report-2021.html.
7 UNHCR, Refugee Women Speak Out, verfügbar unter: https://www.unhcr.org/50f919f39.pdf.
8 Mie A. Jensen, Inquiries Journal [Online], 2019, verfügbar unter: http://www.inquiriesjournal.com/a?id=1757.
9 Anne Pertsch/Farnaz Nasiriamini, djbZ, 2020, 112-114.
10 Frerique Garst/Anna Gsell, RLC Journal [Online], 2021, verfügbar unter: https://rlc-journal.org/2021/geschlechtsspezifische-verfolgung-von-frauen.
11 ebenda.
12 Heike Rabe/Britta Leisering, Die Istanbul-Konvention, 2018, verfügbar unter: www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ANALYSE/Analyse_Istanbul_Konvention.pdf.
13 Heike Rabe, Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften, 2015. verfügbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Policy_Paper/Policy_Paper_32_Effektiver_Schutz_vor_geschlechtsspezifischer_Gewalt.pdf.
14 GREVIO, Bericht des Expertenausschusses zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, Stand: Oktober 2022.