Im Mai 2022 billigte der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts eine Disziplinarmaßnahme, die sich gegen das Tinder-Profil einer trans* Offizierin richtet (Az. 2 WRB 2.21) – warum die Begründung des Beschlusses teils begrüßenswert ist und teils viele Fragen aufwirft.
Gegenstand des Verfahrens ist das Auftreten von Oberstleutnant Anastasia Biefang auf ihrem Tinder-Profil. Dort hieß es wörtlich: ,,Spontan, lustvoll, trans*, offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome”. Zwar schmückte sich die Bundeswehr regelmäßig mit der queeren Offizierin, dennoch erhielt sie wegen ihres Datingprofils einen disziplinarischen Verweis. Erfreulicherweise revidiert das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) viele der zuvor vom Truppendienstgericht beanstandeten Punkte am Auftreten von Biefang auf ihrem Tinder-Profil. Trotzdem wird die gegen sie verhängte Disziplinarmaßnahme im Ergebnis angenommen und gebilligt. Die Rechtmäßigkeit der Maßnahme stützt das BVerwG dabei vordergründig auf die Figur des (vermeintlich) objektiven Dritten und eine fehlgeleitete Interpretation des Ausdrucks “All genders Welcome”.
Das dem Bundesverwaltungsgericht vorgeschaltete Truppendienstgericht Süd sah in der Profilbeschreibung eine Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 Soldatengesetz (SG). So würde für Außenstehende der Eindruck erweckt, dass sich die Offizierin selbst und ihre wechselnden Geschlechtspartner:innen zu reinen (Sex-)Objekten reduziere. Die öffentliche Bewertung des Verhaltens als moralisch zweifelhaft würde sich so auch auf die Bundeswehr übertragen, da sie die Bundeswehr als Bataillonskommandeurin und Standortälteste repräsentiere.1
Das Bundesverwaltungsgericht verneinte dagegen eine Verletzung des Ansehens der Bundeswehr. So werde nicht jedes private Verhalten eine:r Repräsentant:in der Bundeswehr als Ganzes zugerechnet. Im konkreten Fall fehle es an dem funktionalen Zusammenhang zur Bundeswehr als Institution. Die Soldatin sei rein privat aufgetreten und habe keinen Bezug zu ihrer dienstlichen Funktion in der Bundeswehr hergestellt. Auch sei die Annahme, Biefang reduziere ihre Sexpartner:innen zu reinen (Sex-)Objekten, nach Ansicht des Gerichts gänzlich abwegig.2
Rechtsnatur der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht
Nach § 17 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 SG haben sich Soldat:innen außer Dienst so zu verhalten, dass das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das Vertrauen, welche die jeweilige dienstliche Stellung der Soldat:innen erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt werden. Durch das Wörtchen “ernsthaft” wird schon von Gesetzes wegen deutlich, dass gewisse Beeinträchtigungen unterhalb dieser “Ernsthaftigkeitsgrenze” hinzunehmen sind. Nach der bisherigen Rechtsprechung zur Wohlverhaltenspflicht wurden vor allem rassistische oder rechtsextreme Äußerungen von Soldat:innen in der Öffentlichkeit oder sexuelle Belästigungen mit ihrer Hilfe geahndet.3
Die Vorschrift gilt in Bundeswehrkreisen als ein praktisch nie zur Anwendung kommender Auffangtatbestand. Allerdings bereitet die Vorschrift unter Bestimmtheitserwägungen Bedenken, denn sie bietet einen, selbst für Generalklauseln, sehr weiten Auslegungsspielraum. Fast alles ist darunter fassbar. Hinzu kommt, dass hier ein Eingriff in die private Grundrechtsausübung erfolgt, der sich allein durch die Stellung als Soldat:in begründet. Nach gängiger Lehre kann der Grundrechtschutz von Beamt:innen anders als bei „normalen“, nicht im Staatsdienst stehenden Bürger:innen stärkeren Beschränkungen unterworfen werden. Denn Beamt:innen befänden sich in einem sogenannten Sonderstatusverhältnis. Es sei demnach durch die Funktion von Beamt:innen als Teil der ausführenden Staatsgewalt gerechtfertigt, empfindlichere Beschränkungen der grundrechtlich geschützten Freiheit zuzulassen.4
Doch gerade weil die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht so tief in die private Grundrechtsausübung eingreift, indem sie gezielt das Verhalten außerhalb der eigentlichen Tätigkeit als Soldat:in betrifft, muss die Schutzwürdigkeit des Verhaltens – in diesem Fall Biefangs Verhalten auf Tinder – in einer grundrechtlichen Gesamtwürdigung erörtert werden. Das BVerwG kommt hier zu dem Schluss, dass die Vorschrift des § 17 Abs. 2 Satz 3 Soldatengesetz deshalb trotzdem im Lichte der Grundrechte verfassungskonform ausgelegt werden muss.5
Als Grundlage für die rechtliche Würdigung dient der objektiv zu ermittelnde Sinngehalt des Verhaltens, hier also der Äußerung Biefangs auf ihrem Tinder-Profil. Insoweit führt das BVerwG aus, dass Tinder eine App sei, die ausschließlich der Partnerschaftssuche diene. Typischerweise würden auf solchen Plattformen potentielle Interessent:innen mit kurzen reißerischen Texten angesprochen. Zwar komme im Text der Soldatin deutlich zum Vorschein, dass sie auf der Suche nach Sex ohne partnerschaftliche Bindung ist. Wie das BVerwG feststellt, entstehe jedoch in keiner Weise der Eindruck, Biefang wolle den Geschlechtsverkehr ohne Rücksicht auf die eigene Würde oder die der potentiellen Partner:innen vollziehen. 6 Denn auch wenn Biefang in der Profilbeschreibung selbst keine Angaben über den spezifischen Verlauf eines Treffens mache, was auf der Plattform auch äußerst unüblich wäre, liege es nah, dass der Sex nur bei beiderseitigem Einverständnis stattfinden soll.
Vor dem Hintergrund dieser zutreffenden Deutung von Biefangs Äußerung stellt sich umso mehr die Frage, wie das BVerwG die auf § 17 Abs. 2 Satz 3 SG gestützte Disziplinarmaßnahme in letzter Konsequenz dennoch billigen konnte. Denn das BVerwG sieht die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht trotzdem als verletzt an und stützt sich dabei maßgeblich auf die Figur des objektiven Dritten.
Für eine Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht kommt es nach gängiger Auslegung nicht darauf an, ob eine Beeinträchtigung des Vertrauens in die Soldatin selbst und der Achtung vor ihr in tatsächlicher Hinsicht erfolgt ist. Vielmehr genügt es, wenn das in Rede stehende Verhalten in Zukunft geeignet ist, zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit der Soldatin zu führen. Hier gilt es nach Ansicht des BVerwG, als militärische Vorgesetzte bereits den “bösen Schein” zu meiden.7
Ob ein bestimmtes Verhalten nun geeignet ist, einen ernsthaften Achtungs- und Vertrauensschaden zu verursachen, will das BVerwG aus der Sicht des allseits bekannten und von Gerichten gern hinzugezogenen verständigen und objektiven Dritten beurteilen.
Das Problem mit dem objektiven Dritten
Die Annahme der Objektivität von Richter:innen ist zentral in der juristischen Praxis. Das Vertrauen darauf, dass Richter:innen aufgrund ihrer nüchternen Objektivität die passenden Urteile fällen, ist groß. Das Kerngeschäft des Richtens besteht letztlich darin, eine Entscheidung zu treffen. Bedient sich die:der Richter:in hierbei der Rechtsfigur des objektiven Dritten, so wird tatsächlich ein „normativer Modellmensch“ konstruiert.8 Da die Entscheidung gänzlich dem „objektiven“ Dritten zugeschrieben wird, welcher wohlbemerkt nicht existiert, wird der eigentliche Entscheidungsfindungsprozess verschleiert. So kommt es, dass die Haltungen und Ansichten des „Dritten“ nicht durch Rationalität überprüfbar oder gar kritisierbar sind. Im restlichen juristischen Kosmos herrschen Kategorien der Wahr- oder Falschheit, der “Vertretbarkeit” oder der “Nicht-Vertretbarkeit”. Doch die Thesen des ominösen Dritten können keines dieser Dinge sein.9
Zu der Sicht dieses objektiven Dritten ein Auszug aus dem Urteil: ,,Der Werbetext ‚lustvoll … offene Beziehung … auf der Suche nach Sex … all genders welcome” ist jedoch geeignet, den falschen Eindruck zu erwecken, sie führe ein wahlloses Sexleben. […] [D]ie Betonung der Lust, der Suche nach Sex und dem Nachklapp ‚all … welcome‘ [vermittelt] beim ersten Durchlesen den falschen Anschein, es gehe um möglichst schnellen Sex mit Partnern gleich welchen Geschlechts. Ein ungehemmtes Ausleben des Sexualtriebs sei besonders wichtig. Diese äußerst missverständliche Überspitzung des eigenen Anliegens war für die beabsichtigte Grundrechtsausübung nicht erforderlich und auch für die Werbewirksamkeit der Annonce nicht notwendig.”10
Im Schwerpunkt sieht das BVerwG vor allem in der Formulierung “all genders welcome” den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Dabei übersieht das Gericht oder der Dritte allerdings, dass die Anzahl der Sexualpartner:innen nicht automatisch dadurch wächst, dass man insgesamt einen größeren Personenkreis in Betracht zieht. “All genders welcome” ist vielmehr ein vereinfachter Ausdruck dafür, dass das Geschlecht einer Person keine Rolle dafür spielt, ob man sich zu ihr hingezogen fühlt oder nicht. “All genders welcome” ist etwas grundlegend anderes als „all welcome“! Auch wenn lediglich das Wort „welcome“ betrachtet wird, ist wahlloser und vor allem zahlreicher Geschlechtsverkehr nicht zwingend oder gar automatisch die Konsequenz. “All genders welcome” ist schlichtweg die nach außen getragene Feststellung, dass die eigene Sexualität nicht durch eine Geschlechterpräferenz bestimmt wird.
An dieser Stelle bedient sich das BVerwG daher bedauerlicherweise des weitverbreiteten Vorurteils der Promiskuität, mit dem queere Personen häufig zu kämpfen haben und macht es sich insofern zu leicht, indem es diese offensichtlich falsche Sichtweise und Lesart dem objektiven Dritten unterstellt. Damit gewährt das BVerwG diesem üblen Vorurteil nun offiziell nicht nur Einlass in einen deutschen Gerichtssaal, sondern auch in ein letztinstanzliches Urteil. Hier wird erneut deutlich, dass die Sichtweisen des Dritten keineswegs “objektiv” sind, sondern geprägt von der Weltanschauung und den Vorverständnissen der ausschließlich männlichen Richter in diesem Fall.
Verkennung der Heteronormativität
Mit einiger Ignoranz verkennt das Gericht dabei auch, dass die Gesellschaft heteronormativ ist. Ein großer Teil der Bevölkerung ist heterosexuell – oder so zumindest die überwiegende Annahme. Zwar ist es auf Datingplattformen nicht unüblich, einen Nebensatz zu sexuellen Präferenzen zu verlieren. Vor dem Hintergrund der Heteronormativität in unserer Gesellschaft ist es jedoch sogar notwendig, die eigene Sexualität auf den entsprechenden Plattformen kenntlich zu machen, sofern diese eine andere als die heterosexuelle ist. Nur so können potentielle Partner:innen überhaupt auf einen aufmerksam werden. Schließlich kann man einer Person die Sexualität nicht ansehen. Daher ist es für die vom BVerwG grundsätzlich anerkannte Grundrechtsausübung sehr wohl notwendig, nach außen zu kommunizieren, dass man für Menschen gleich welchen Geschlechts offen ist. Ob dann eine gegenseitige Anziehung besteht, steht auf einem anderen Blatt.
Das BVerwG legt selbst zuvor ausführlich dar, dass die Äußerungen auf dem Profil weder objektifizierend sind, noch nahelegen, dass etwaiger Geschlechtsverkehr ohne beidseitiges Einverständnis erfolgt. Wenn das einzige „Problem“ der Zusatz „All genders welcome“ ist, dann würden heterosexuelle Personen hier deutlich privilegiert. Damit konstruiert das Gericht einen diskriminierenden Automatismus, nach dem eine genderunspezifische Sexualität zwangsläufig zu dem Eindruck eines wahllosen sowie promiskuitiven Sexualverhaltens führen muss.
Die Intim- und Sexualsphäre des Menschen steht unter verfassungsrechtlichem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG. Der Bezug der Einzelnen zu ihrer Sexualität und die konkrete Ausgestaltung des eigenen Sexlebens gehören in den Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung. Dieser ist wegen seiner besonderen Nähe zur Menschenwürde absolut geschützt und kann keinerlei Beschränkungen unterliegen. Neben diesem Kernbereich des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung erkennt das BVerfG noch eine soziale Dimension des Grundrechts an, welche zwar auch schutzwürdig ist, jedoch nicht das gleiche Maß an Schutz genießt wie der Kernbereich der sexuellen Selbstbestimmung. Während der Kernbereich das tatsächliche Ausleben der Sexualität in den eigenen vier Wänden erfasst, deckt die soziale Dimension den Teil des sexuellen Daseins ab, der im Zusammenhang mit Dritten erfolgt. Den Einzelnen steht es damit ebenso frei, auch außerhalb der Privatsphäre sexuelle Interessen nach außen zu kommunizieren und nach möglichen Sexualpartner:innen zu suchen.11
Der sexistische Dritte
Abgesehen von dieser zweifelhaften Argumentationslinie des BVerwG drängt sich eine noch viel grundlegendere Frage auf. Ein potentieller Achtungsverlust wegen des aktiven Sexlebens einer Frau?
Wie bereits ausgeführt, geht es bei der Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG nicht darum, ob ein Vertrauens- und Achtungsverlust tatsächlich eintritt, sondern ob das in Rede stehende Verhalten geeignet ist, aus Sicht eines objektiven Dritten zu einem solchen führen zu können. Dabei soll bereits der böse Schein zu vermeiden sein. Doch welcher böse Schein wird durch einvernehmlichen Sex erzeugt? Mit der Sicht eines objektiven Dritten, der den Respekt und die Achtung vor einer Bundeswehrsoldatin dadurch verliert, dass sie ein aktives Sexleben führt, darf nicht argumentiert werden.
Die Rechtsfigur des objektiven Dritten war nie unbedenklich. Trotzdem erfreut sie sich weiter großer Beliebtheit in der Juristerei. Den Richter:innen des BVerwG ist es im vorliegenden Fall jedenfalls nicht gelungen, einen grundrechtskonformen objektiven Dritten zu konstruieren. Die Rechtsfigur des objektiven Dritten ist nur dann rechtsstaatlich zulässig, wenn er so konstruiert wird, dass er im Einklang mit dem Grundgesetz, speziell mit der Menschenwürde und der sexuellen Selbstbestimmung, steht. Ist es nicht das Grundgesetz, das den Maßstab des objektiven Dritten bildet, sind es letztlich irgendwie geartete Moralvorstellungen oder wie dieser Fall zeigt: patriarchale Vorprägungen. Gegen sie wehrt Biefang sich auch weiterhin. Mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrechte hat sie wegen der Entscheidung bereits Verfassungsbeschwerde eingereicht.
Wäre es dem BVerwG gelungen, den Sachverhalt aus Sicht dieses im bestmöglichen Sinne objektiven Dritten zu beurteilen, hätte es die Falschheit der Entscheidung des Truppendienstgerichts vollumfänglich erkennen müssen und nicht im Ergebnis billigen dürfen. Das BVerwG hätte das Truppendienstgericht für seine Ignoranz und nicht die Soldatin für ihre lustbejahende Offenheit abgestraft.
1 BVerwG, Beschluss v. 25.5.2022 – WRB 2.21, Rn. 5.
2 BVerwG (Fn. 1), Rn. 17 f.
3 BVerwG, Beschluss v. 30.06.22 – 2 WD 14/21; BVerwG, Beschluss v. 18.06.2020 – 2 WD 17.19; BVerwG, Beschluss v. 14.01.2021 – WD 11/20; BVerwG, Beschluss v. 28.01.2022 – 2 WBD 7/21.
4 Stefan Werres, in: Ralf Brinktrine/Kai Schollendorf (Hrsg.), BeckOK Beamtenrecht Bund, 28. Ed., 2022, § 4 BBG Rn. 11 f.
5 BVerwG (Fn. 1), Rn. 28.
6 BVerwG (Fn. 1), Rn. 33 ff.
7 BVerwG (Fn. 1), Rn. 24.
8 Eva Kocher, Objektivität und gesellschaftliche Positionalität, Kritische Justiz 2021, 268 (271).
9 Kocher (Fn. 8), 272.
10 BVerwG (Fn. 1), Rn. 38.
11 BVerfG, Beschluss v. 10.06.2009 – 1 BvR 1107/09, Rn. 25.