„Abolition setzt voraus, dass wir eine Sache ändern: nämlich alles.“1 Das Motto der Internationalen Bewegungskonferenz (23. & 24.6.23) war gleichzeitig auch ihr Programm. Erstmalig trafen sich in Deutschland ein breites Bündnis aus internationalen abolitionistischen Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen, Vereinen und Individuen.
Organisiert wurde die Konferenz vom Abolition Beyond Borders Collective, welches aus Daniel Loick, Vanessa E. Thompson und Veronika Zablotsky besteht. Loick und Thompson haben im Jahr 2022 „Abolitionismus: Ein Reader“ beim Suhrkamp Verlag herausgegeben, in dem viele klassische und moderne abolitionistische Texte nicht nur einen gemeinsamen Buchdeckel fanden, sondern auch teilweise erstmalig ins Deutsche übersetzt wurden. Die Räumlichkeiten bot das Kampnagel im Norden Hamburgs. Mit dabei waren Urgesteine der abolitionistischen Bewegung wie die Geographin Ruth Wilson Gilmore (die auch das Motto der Konferenz stiftete) oder die Juristin Harsha Walia (die 2001 die „No One Is Illegal“ Bewegung in Kanada mitbegründete). Im Sinne von Gilmores „Abolition bedeutet nicht Abwesenheit, sondern Präsenz”2, versammelte die Konferenz wichtige Stimmen der Bewegung, um die vielfältigen Graswurzelinitiativen zu verbinden.
Gemeinsam Handeln in Theorie und Praxis
Das Eröffnungspanel bestritten aktivistische Gruppen wie die „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“, die „Initiative in Gedenken an Yaya Jabbi“, der „Solidaritätskreis Mouhamed Lamine Dramé“ und das „Aktionsbündnis NSU-Komplex“. Die Initiativen tauschten sich über ihre abolitionistischen Praktiken angesichts eines fortdauernden, gesellschaftlichen Rassismus aus. Denn die Tagung war nicht nur eine reine akademische Zusammenkunft im traditionellen Sinne, sondern in erster Linie Bewegungskonferenz. Aktivismus und Wissenschaft wurden hier gezielt zusammengedacht, verstanden als zwei Seiten einer Medaille, die auf Intervention und Transformation – eben Bewegung bedacht ist.
Das zeigte sich auch an den Workshops des nächsten Tages, in denen verschiedenste Initiativen aus ihrer Praxis berichteten, sich austauschten und diese gemeinsam mit den Teilnehmenden weiterzudenken versuchte. Zu den Initiativen vor Ort gehörten, neben den genannten, u.a. auch „Abolish Frontex“, das „Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe“, die „Bildungsinitiative Lernen aus dem NSU-Komplex“ oder die extra aus den USA angereisten Mitglieder von „Critical Resistance“, einem Urgestein des Gefängnisabolitionismus, sowie viele weitere.3 Eine der Quintessenzen der Workshops, wie auch der Tagung insgesamt: Keine Forderungen mehr! Frei nach dem berühmten Zitat Audre Lordes: „The master’s tools will never dismantle the master’s house“,4 könne es nicht darum gehen, die Mächtigen zu adressieren oder bestehende Institutionen darum zu bitten sich selbst abzubauen. Jahrelang erkämpfte Reformen geben viel zu häufig den in Frage stehenden Institutionen mehr Macht, anstatt weniger („reformist reforms“). Vielmehr müsse es darum gehen, Transformation von unten zu organisieren, als eine kämpfende Bewegung. Und zwar durch „non-reformist reforms“, also Reformen, die den Status Quo genug in Frage stellen, um tatsächliche Änderungen herbeizuführen.5 Denn Abolitionismus ist kein abstraktes utopisches Zukunftsprojekt, sondern eine soziale Bewegung, die ihre Ursprünge in den Kämpfen gegen die Versklavung im 19. Jahrhundert hat und als tägliche Praxis im Hier und Jetzt ausgeübt wird.
Auf der Konferenz zeigte sich das an dem praktischen Beispiel, dass alle Panels, Vorträge und Redebeiträge vom bla-Kollektiv simultan in Englisch oder Deutsch gedolmetscht wurden. Auch wenn es in diesem Fall nur zwei Sprachen waren, auf denen der Zugang zur Konferenz gewährleistet wurde, Simultandolmetschung selbst ist auch als abolitionistische Praxis zu verstehen, denn „Sprache ist Macht!“,6 wie das bla Kollektiv selbst auf ihrer Homepage festhält. Als Grundvoraussetzung der Kommunikation und damit auch allen politischen Handelns ist die Sprache sowohl Motor als auch potenzielle Bremse zu jeder Bewegung in Richtung Freiheit. Antikoloniale Projekte widmen sich daher seit jeher der Dekolonisierung von Sprache und der Infragestellung der Sprachhegemonien der Kolonialmächte. Dolmetschung ermöglicht also nicht nur die aktive Beteiligung, sondern wendet sich zugleich gegen tradierte Herrschaftsstrukturen.
Racial Capitalism
Das Highlight des ersten Abends stellte schließlich die Keynote Lecture von Ruth Wilson Gilmore dar. In ihrem knapp einstündigen Vortrag mit dem Titel „Change everything“ rekapitulierte sie ihre wichtigsten Themen, allen voran auch ihr Verständnis des Begriffs Racial Capitalism. Dieser geht auf Cedric Robinsons Werk Black Marxism zurück.7 Robinson kritisiert hier Kritiken des Kapitalismus westlich-marxistischer Spielart und weist auf die gegenseitige Verwiesenheit von Rassismus und Kapitalismus hin. Kapitalismus, so Robinson, lässt sich nicht verstehen, ohne die ihm vorgängigen Rassismen zu verstehen, die in der bürgerlichen Neuzeit vom Westen erfunden werden, um Herrschaft zu begründen und zu stabilisieren. Anders als im Vorfeld der Konferenz von manchen behauptet8 hat die abolitionistische Bewegung nicht nur einen Begriff der Gesellschaft als Gesamtzusammenhang, sondern lässt diesen Zusammenhang auch nicht im Dunkeln. Allerdings begeht sie nicht den Fehler, Rassismus zu einem bloßen Nebenwiderspruch kapitalistischer Ausbeutung zu erklären. Kapitalismus, Rassismus, Patriarchat: Herrschaftsverhältnisse sind weder isoliert, noch lassen sie sich auf einen Hauptwiderspruch reduzieren. Viel mehr sind sie auf vielfältige Weise ineinander verzahnt und lassen sich nur durch eine intersektionale Perspektive analytisch überhaupt adäquat erfassen und dekonstruieren, um eine Intervention zu ermöglichen. Ruth Wilson Gilmore bringt dies auf den Punkt, wenn sie sagt: „Capitalism requires inequality and racism enshrines it.“9 Dass die 73-jährige Gilmore, wie sie sagte, vor jedem Vortrag erneut so von Lampenfieber geplagt wird, dass sie sich wünschte, sie hätte niemals zugesagt, merkte man ihr jedenfalls nicht an. Der Raum schien elektrisiert und gebannt von Gilmores Worten und wir wünschten uns, sie würde noch viel häufiger zusagen.
Bewegtes (Ab)Schaffen
Nach dem Herzstück der Konferenz, den Workshops am nächsten Morgen, holte Harsha Walia die Teilnehmenden aus dem Mittagstief zurück. Ihr Vortrag mit dem Titel „Abolish Border Imperialism“ begann die Aktivistin und Anwältin mit einigen Chants, wie sie sonst auf Demos zu hören sind (z.B. „No border, no nation, stop deportation!“). Sodann legte Walia dar, wie Imperialismus und Rassismus Grenzziehungen bedingen, weit über jedwede materiell verfestigten Mauern hinaus. Grenzen, so Walia, würden den Menschen überall hin folgen, bestimmen also sowohl Freizügigkeit als auch Bleibefreiheit, bedingt durch das Recht: „The law constructs illegality, while racism constructs the illegal.”10 Ihre Schlussworte endeten schließlich auf einer vorsichtig optimistischen Note und ernteten stehenden Applaus: “Capitalism is not inevitable, gender is not biology, whiteness is not immutable, prisons are not inescapable, and borders are not natural law.”
Eine weitere Keynote hielt die politische Theoretikerin und Aktivistin Verónica Gago mit dem Titel „Feminist Alliances Against the Counteroffensive“. Das Abschlusspanel unter dem Motto „Abolition must be… green, red, & international“ bestand schließlich aus Hakima Abbas, Ruth Wilson Gilmore, Mimi Kim, Nazan Üstündağ & Sulti von „No Border Assembly Berlin“.
Die Bewegungskonferenz 2023 in Hamburg hat als eine Konferenz der Bewegungen begonnen und als eine Konferenz der Bewegung geendet. Eine Bewegung, die weiter daran arbeiten wird, Alternativen zu schaffen. Alternativen, die dringend benötigt werden angesichts des Erstarkens von Rechtsextremismus und (Neo-)Faschismus inmitten von strukturellem Rassismus, Klassismus oder Sexismus, der alle Bereiche der Gesellschaft prägt. Auch die tagtägliche Gewalt von Staaten innerhalb, außerhalb und an ihren Grenzen oder Kriege und Klimakatstrophe verlangen nach konsequenten Alternativen. Viele in Hamburg waren sich an diesem Wochenende einig: „Die Alternative heißt Abschaffen“11. Abschaffen wiederum beinhaltet eben auch vor allem das Schaffen. Und Schaffen tut man nicht allein, sondern gemeinsam: „Denn alles, was eine einzelne Organisation allein tun kann, ist, den Weltuntergang leicht zu justieren. Wenn die Fähigkeiten, die aus zielgerichtetem Handeln resultieren, zu Zwecken zusammengefasst werden, die größer sind als irgendwelche Grundsatzerklärungen oder andere vorläufige Beschränkungen, beginnen mächtige Verbindungen, den Boden zu erschüttern. Mit anderen Worten, es bewegt sich etwas.“12 Und zwar, weil es bewegt wird! Dieses Sommerwochenende im Kampnagel in Hamburg hat eine solche Bewegung gemacht und reiht sich damit ein in einen Jahrhunderte alten Kampf, der per Selbstdefinition hoffentlich nie zum Stillstand kommen wird.
1 Ruth Wilson Gilmore / Leopold Lambert, Making Abolition Geography in California’s Central Valley, The Funambulist Magazine, 20.12.2018, https://thefunambulist.net/magazine/21-space-activism/interview-making-abolition-geography-california-central-valley-ruth-wilson-gilmore (Stand aller Links: 23.7.2023).
2 Ebd.
3 Eine vollständige Liste findet sich auf: https://abolitionismus.org/.
4 Audre Lorde, The Master’s Tools will Never Dismantle the Master’s House, in: Audre Lorde, Sister outsider. Essays and speeches, 1984, 110–114.
5 Nach André Gorz sind dies Reformen, die statt nach materiellen Werten nach menschlichen Bedürfnissen ausgerichtet sind: André Gorz, Strategy for Labor: A Radical Proposal, 1968, 7; Neuentdeckt und populär gemacht hat den Begriff: Ruth Wilson Gilmore, Abolition Geography: Essays Towards Liberation, 2023, 231.
6 https://bla.potager.org/de/faq/.
7 Cedric J. Robinson, Black Marxism: The Making of the Black Radical Tradition, 1983.
8 So etwa: Thomas Land, Einzelteile abschaffen, Jungle World 23/2023, https://jungle.world/artikel/2023/23/einzelteile-abschaffen.
9 Ruth Wilson Gilmore, The Worrying State of the Anti-Prison Movement, Social Justice Journal, 23.2.2015, http://www.socialjusticejournal.org/the-worrying-state-of-the-anti-prison-movement/.
10 Harsha Walia, Border & Rule, 2021, 95.
11 Amina Aziz, Die Alternative lautet Abschaffen, taz v. 28.06.2023, https://taz.de/Warum-Abolitionismus-helfen-kann/!5940250/.
12 Ruth Wilson Gilmore, Was tun?, in: Daniel Loick & Vanessa E. Thompson (Hrsg*.), Abolitionismus – Ein Reader, 515-521 (521).