Linke, People of Colour, arme, be_hinderte und queere Menschen werden immer wieder mit staatlicher Gewalt in Form von Repressionen und einem Ausschluss aus gesellschaftlicher Sicherheit konfrontiert. Wir möchten im folgenden Text unseren Blick weiten und herrschende Sicherheitsverständnisse und -politiken betrachten. Gegenstand sind die bestehenden gewaltvollen Verhältnisse und staatlichen Institutionen wie Gefängnisse und die sogenannten Sicherheitsbehörden, ebenso wie der Widerstand gegen diese und die zugrundeliegende abolitionistische Theorie.
Unter anderem angeregt durch das Erscheinen von „Abolitionismus: Ein Reader“[1] hat sich aus dem Arbeitskreis kritischer Jurist*innen (akj) der Humboldt-Universität Berlin ein Lesekreis gebildet, der sich intensiv mit dem Thema Abolitionismus zu beschäftigte. In einer kleineren Gruppe haben wir uns zunächst inhaltliche Grundlagen erarbeitet, um dann Texte auszuwählen, die wir mit interessierten Menschen inner- und außerhalb unseres Studiengangs diskutierten. Jede Woche haben wir dabei Schwerpunkte gesetzt: das Verhältnis zwischen Strafe und Kapitalismus, queere und antirassistische Verständnisse von (Un-)Sicherheit und Alternativen zum Strafen. Gerade durch die daraus entstandenen vielfältigen Perspektiven ist ein Format des gemeinsamen Lernens und des Austausches entstanden. Die Texte, die wir gelesen haben, finden sich auf unserer Website.[2]
Durch den Lesekreis ist uns deutlich geworden, wie wenig Wissen wir zu Gefängnissen haben und wie wenig das Prinzip Strafen in der Gesellschaft, aber gerade auch in der Rechtswissenschaft hinterfragt wird. Strafen wird als unumgängliche Notwendigkeit gesellschaftlichen Zusammenlebens dargestellt und gleichzeitig werden dessen Folgen ausgeblendet. Gerade in einem Studium, das am Ende zu verantwortungsvollsten Berufen befähigt, ist dies ein Armutszeugnis. Dabei wäre es so wichtig, belastbares Wissen zu bilden und weiterzugeben, um wissenschaftlich fundiert und sachlich über Ausschlüsse im und durch Recht sprechen zu können.
Im Juni 2023 haben wir gemeinsam mit Manuel Matzke (GG/BO), Thomas Galli (RA, früher JVA-Leiter) und Doreen Blasig-Vonderlin (RAin) einen Workshop auf dem Kongress “Recht für alle!?” des Republikanischen Anwält*innenvereins (RAV) rund um Strafvollzug und Abolitionismus gestaltet.[3] Hier wurde uns deutlich, wie zentral Entkriminalisierung und die Abschaffung von Strafen für den Kampf linker Jurist*innen ist. Allgemein spielt Abolitionismus zurzeit in linken Diskursen (nun auch im deutschen Raum) vermehrt eine Rolle. Eindrücklich gezeigt hat sich dies auf der der internationalen Bewegungskonferenz[4] „Racial Capitalism | Krisen | Abolition in Hamburg“. Auf der Konferenz haben wir sowohl unser Wissen vertieft als auch Einblicke in die alltägliche Praxis verschiedener abolitionistisch arbeitender Initiativen und Gruppen bekommen.
Spannend, wenngleich kryptisch: Abolitionismus?
Als eines der großen Konzepte der radikalen, linken Theorie ruft das Thema auch bei Jura-Professor*innen großes Unverständnis hervor. Nach Bewerbung unseres Lesekreises folgte auf Twitter folgende Reaktion: „Ich verstehe zwar immer noch nicht, was das mit „Abolition“ (Abschaffung von was? Sklaverei? Alkohol? Kolonien?) zu tun hat. Aber es klingt spannend, wenngleich kryptisch.“[5] Der Zivilrechts-Professor ist da etwas ganz Heißem auf der Spur: Der Wortursprung „Abolition” bedeutet Abschaffung.[6] Aber von was jetzt genau? Das hat sich über die Zeit verändert und ist doch gleichgeblieben. Einen sehr gelungenen Überblick über Abolitionismus bietet der Einstiegstext „Was ist Abolitionismus?”[7], an dem sich die folgenden Ausführungen orientieren.
Die abolitionistische Bewegung entstand, ganz kurzgefasst, als Bewegung Schwarzer Widerstände gegen die Sklaverei. Frühe abolitionistische Kämpfe waren z. B. die Revolution in Haiti, die als erste erfolgreiche Abolition gilt. Historische abolitionistische Praxen bestanden dabei schon immer aus zwei Elementen: [8] 1. Abwehr, Entzug, Flucht aus Ökonomien rassifizierter Überausbeutung[9] und 2. Bildung von Neuem: Schaffung neuer Produktions- und Beziehungsweisen. Die Forderung nach Abschaffung der Sklaverei stand somit nie allein. Vielmehr wollten Abolitionist*innen verhindern, dass ehemals Versklavte einfach in bestehende Verhältnisse kapitalistischer Ausbeutung integriert werden. So wurde für staatsbürgerliche Rechte, demokratische Partizipation und ökonomische Macht gekämpft.
Heute konzentrieren sich abolitionistische Forderungen auf unterschiedlichste Formen staatlicher Gewalt, typischerweise auf Gefängnisse, auf die Polizei und andere sogenannte Sicherheitsbehörden sowie auf Grenzen und Lager. Die Forderung nach einer Abschaffung von all diesen Institution und eine damit zusammenhängende Verbindung von Kämpfen ergibt sich dabei aus der Verschränkung der Probleme. Sie sind verschiedene Ausformungen staatlicher Gewalt, in einem System dem Kapitalismus und Rassismus strukturell eingeschrieben sind.[10] Die US-amerikanische Abolitionistin und Geographie-Professorin Ruth Wilson Gilmore bringt abolitionistische Forderungen sehr knapp auf den Punkt: „Abolition requires that we change one thing: everything.“[11] (Abolition setzt voraus, dass wir eine Sache ändern: nämlich alles.)
Aber wie kann so eine Abschaffung aussehen? Abolitionismus ist nicht das Warten auf plötzliche Abschaffung karzeraler Institutionen und Denkweisen. Abolition ist Gegenwart und widerständige Praxis.[12] Ein wichtiges Mittel für abolitionistische Praxis sind dabei nicht-reformistische Reformen. Was zunächst widersprüchlich klingt, kann ein wichtiges Werkzeug zur Einschätzung realpolitischer Forderungen werden.
Reformen sind nicht-reformistisch, wenn sie
- dem Staat abgerungen sind,
- die Bedingungen für weitere Abschaffung staatlicher Gewaltformen verbessern,
- selbst nicht mit Kriminalisierung arbeiten und
- bestehende unterdrückerische Systeme nicht ausweiten.[13]
Staatliche Gewaltapparate lassen sich eben nicht bis zur Gewaltfreiheit durchreformieren, im Gegenteil: In der Vergangenheit hat sich oft genug herausgestellt, dass wenn staatliche Institutionen durch (gut gemeinte) Reformen mehr Mittel erlangen, diese Mittel auch die Aufrechterhaltung und Verstärkung bestehender Strukturen bedeuten. Ein (Aus-)Nutzen von strafenden staatlichen Institutionen zum Erreichen emanzipatorischer Ziele (z. B. zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt) beinhaltet stets auch die Investition weiterer Ressourcen (Geld, Personal) in Strukturen, die auf Strafen bauen. Diese lassen sich viel schwerer wieder rückbilden, als sie auszubauen sind. So werden auch andere staatliche Strafzwecke und Tendenzen legitimiert und untermauert, ohne dass dies beabsichtigt war – und am Ende werden Gewaltmechanismen nur weiter gestärkt. Gerade deshalb kann die einzige nachhaltige Lösung die Kürzung staatlicher Mittel für strafende Institutionen und eine dadurch entstehende Abrüstung und Entmachtung bspw. der Polizei sein (defund the police).
Von Gefängnis, Kapitalismus und Resozialisierung
Kapitalismus und Strafen gehen Hand in Hand. Deutlich zeigt sich dieses Zusammenwirken in der Kriminalisierung von Armut. So traten mehr als die Hälfte der Personen, die eine Haft antreten, diese wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe an.[14] Eine solche wird angeordnet, wenn Personen eine gegen sie verhängte Geldstrafe nicht zahlen (können). Die begangenen Delikte sind also so geringfügig, dass die Richter*innen eigentlich gerade keine Freiheitsstrafe angeordnet haben. Gleichzeitig werden die Straftaten meist aus existenzieller Armut heraus begangen: 40 % der Menschen in Ersatzfreiheitsstrafe sind obdachlos, zwei Drittel von ihnen sind suchtkrank.[15] Ein beträchtlicher Anteil der Straftaten geschieht, weil Menschen in unserem Wirtschafts- und Sozialsystem nicht anders überleben können. Die kapitalistische Ausbeutung setzt sich auch im Gefängnis fort. Zurzeit besteht in Deutschland in den meisten Bundesländern eine Arbeitspflicht in Gefängnissen, bei der eine Form von Lohnarbeit zu verrichten ist[16] – in einer menschenunwürdig bezahlten Form und ohne jegliche Arbeitnehmer*innenrechte.
Dass es politisch und nicht zuletzt juristisch wenig Willen gibt, die Situation dieser finanziell Ärmsten zu verbessern, zeigt sich exemplarisch am Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Juni zur Entlohnung von Arbeit im Strafvollzug.[17] Das Bundesverfassungsgericht erklärte im Juni 2023 zwar den bisherigen Lohn von 1,37 bis 2,30 Euro für zu niedrig und damit verfassungswidrig[18], konnte sich allerdings gleichzeitig nicht zu einem Recht von Häftlingen auf Mindestlohn durchringen und öffnete damit der weiteren wirtschaftlichen Ausbeutung von Gefangenen Tür und Tor. Der Arbeitspflicht liegt der Gedanke der „Resozialisierung“ und erneuten „Eingliederung“ in die Gesellschaft zugrunde. Aber was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn ausbeuterische Arbeit der Eingliederung in die Gesellschaft dient? Und sollte es überhaupt Ziel sein, Menschen in eine Gesellschaft zu „resozialisieren“, die sie immer wieder kriminalisiert?
Nachdenken über Sicherheit
Eine ehrliche Beschäftigung mit dem Sicherheitsbegriff zeigt, dass damit strukturell nur die Sicherheit weniger gemeint ist. Viele Menschen (nicht weiß, ohne deutschen Pass, mit Behinderung, keine cis Männer, mit psychischer Krankheit, arm, queer) bleiben dabei außen vor. Gestaltet werden sogenannte Sicherheitspolitiken mit einem bestimmten Typus Mensch im Hinterkopf – mit klaren Fremd- und Feindbildern. Wir müssen also überlegen: Was macht Sicherheit tatsächlich aus?
Sicherheit im liberalen Sinne (‚negative Sicherheit‘[19]) bedeutet klassischerweise das Sichersein vor dem Anderen. Als schützenswert gilt hier eine unantastbare persönliche Sphäre, in die andere durch ihre Freiheitsausübung eindringen (könnten). Das Andere wird zur Gefahr und fordert Abgrenzung und Kontrolle, um die individuelle Handlungsfreiheit zu erhalten. Freiheit reicht hier nur so weit, bis die Freiheit eines Anderen beginnt. In den Worten von Daniel Loick zielen „negative Sicherheitsbegriffe auf die Abwehr externer Bedrohung […] und [legen] ein asymmetrisches Verständnis von Beschützenden und Zu-Schützenden zugrunde.“[20]
Dagegen steht das abolitionistische, ‚positive‘ Sicherheitsverständnis: Es formuliert soziale oder auch ökologische Sicherheit; eher die Sicherheit für etwas, ganz im Sinne der Parole „Soziale Lösungen für soziale Probleme“[21]. Es beruht auf dem Verständnis, dass wir nur gemeinsam sicher sein können und dass die politische Herausforderung darin besteht, „lebensbejahende“[22] (soziale) Institutionen zu schaffen. Kernbegriffe sind hier „die Entfaltung kollektiver Handlungsfähigkeit (Sicherheit zu, im Englischen safety) und […] [die Verankerung] in Interdependenz und Gemeinschaftlichkeit.“[23] Diesem Sicherheitsverständnis entspringen ganz andere Forderungen, z.B. in Bezug auf Drogenhandel in Parks die Forderung nach Entkriminalisierung von Migration und die Sicherung von Lebensunterhalt, Wohnung und Gesundheit für Dealer*innen (statt Zäunen, härteren Strafgesetzen und mehr Polizei). Andere Ansatzpunkte abolitionistischer Praktiken sind Gewaltpräventionsprogramme, Frauenhäuser, soziale Hilfe und Anlaufstellen im Kiez.
Weitergehende Ansätze finden sich in queeren Bewegungen. Gewachsen aus Communitys, die sich noch nie auf die Polizei oder andere staatliche Institutionen verlassen konnten, wurden vielfältige Ansätze entwickelt, um trotzdem gemeinsam sicher sein zu können. Queere Sicherheitsverständnisse lassen sich insbesondere im Kontext des staatlichen Versagens in der Prävention von HIV/AIDS erkennen. Safer Sex, gemeinschaftliche Fürsorge und der Umgang mit dem menschlichen Sicherheitsbedürfnis in einer unsicher gemachten Welt sind nur einige der Schlagworte.[24] Wir möchten betonen, dass abolitionistische Praktiken aus einer Zwangslage heraus entstehen, da staatliche Gewalt für marginalisierte Gemeinschaften allzu oft keine Sicherheit schafft, sondern Gewalt und Unsicherheit erst verursacht.
Im Sommer/Herbst 2023 ist der Debatte um Sicherheit in Berlin dank der medialen Berichterstattung kaum zu entkommen. Berichtet und gestritten wird mal wieder über Kriminalität und Sicherheit in Berlin-Kreuzberg, insbesondere im Görlitzer Park (Görli). Er ist immer wieder Drehscheibe und Eskalationspunkt konservativer Sicherheitsbedenken in Berlin.
Sicherheitsdebatte am Beispiel Görli (und andere)
In Reaktion auf eine Vergewaltigung im Görli im Sommer 2023 wurden, nicht zum ersten Mal, Forderungen nach noch mehr Polizeipräsenz, Überwachungskameras, mobilen Polizeiwachen, Umzäunung und Öffnungszeiten oder gar der Schließung des Parks laut. Der Görli ist ein sogenannter „kriminalitätsbelasteter Ort“ (kbO). Ein kbO ist nach § 21 Abs. 2 Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz Berlin (ASOG Bln) ein geographischer Bereich, in dem „Straftaten von erheblicher Bedeutung verabredet, vorbereitet oder verübt werden“ und dessen Grenzen von der Polizei festgelegt werden. Der Polizei stehen dort erweiterte Eingriffsbefugnisse zur Verfügung. Der Görli ist seit Jahren ein Ort, auf den die Berliner Polizei überproportional viele Einsatzstunden verwendet – im Jahr 2022 waren es über 72.000.[25] Der Görli ist der Park mit den meisten verzeichneten Straftaten in Berlin.[26] Ein Blick in die Polizeistatistik zeigt allerdings, dass die große Mehrheit der Straftaten im Görli sogenannte Kontrolldelikte sind – vor allem im Zusammenhang mit dem Betäubungsmittelgesetz und Straftaten gegen das Aufenthalts-, Asyl- und Freizügigkeitsgesetz. Kontrolldelikte sind Straftaten, deren Auftreten überhaupt erst durch Kontrollen der Polizei festgestellt wird. Die Zahl der Delikte erhöht sich folglich mit der Zahl der Kontrollen. Es handelt sich nicht um Straftaten, die die Parkbesucher*innen tatsächlich bedrohen. Eine verstärkte Polizeipräsenz am und im Park bedeutet schlicht die Verdrängung von illegalisierten Menschen in andere Kieze. Auch der Drogenhandel verschiebt sich nur an andere Orte. Keine der genannten Maßnahmen hat einen positiven Effekt auf die realen Probleme der armen, obdachlosen, suchtkranken und/oder illegalisierten Menschen im Kiez um den Görli.
Der Görli ist jedoch nicht der einzige Ort in Berlin, an dem die überzogenen Sicherheitsfantasien konservativer und rechter Kräfte in Politik und Medien durchgespielt werden: Über die Berliner Freibäder wurde im Verlaufe desselben Sommers eine hitzige mediale Schlammschlacht voll rassistischer Zuschreibungen geführt. Seit Mitte Juli gab es dann eine Ausweispflicht am Einlass; auch mobile Polizeiwachen vor den Bädern und erhöhte Präsenz an den Schwimmbecken sind Alltag geworden.[27] Die oft emotional und populistisch aufgeladenen Debatten lassen nur allzu unverschleiert durchscheinen, was hier tatsächlich wirkt: Rassismus, Klassismus und gesellschaftliche Hierarchisierungen. Vor diesem Hintergrund hat die CDU-geführte Berliner Große Koalition im Herbst 2023 einige weitere politische Verschärfungen durchgesetzt, die für Sicherheit sorgen sollen: Es geht unter anderem um den Einsatz von Tasern sowie die Ausweitung der Präventivhaft von zwei auf fünf (bei terroristischen Straftaten sieben) Tage. In einem weiteren für 2024 geplanten Gesetz soll auch die Verankerung des sogenannten finalen Rettungsschusses (polizeilicher Todesschuss) im Berliner ASOG folgen.[28] Das Gesetz stellt eine massive Ermächtigung der Berliner Sicherheitsbehörden dar. Wir befinden uns mitten in verschiedenen Sicherheitsdebatten, geeint im Grundsatz immer repressiver werdender staatlicher Strukturen. Diese Debatten scheinen sich gerade nicht zugunsten der politischen Linken zu entscheiden. Wie können also schlagkräftige Antworten von links aussehen?
Abolitionistische Praxis – in der Offensive
Auf jede gute Theorie muss die Praxis folgen. In der abolitionistischen Bewegung geht das noch einen Schritt weiter und die Theorie entsteht aus der Praxis, oder neben ihr. Im Rahmen unseres Lesekreises haben wir uns Gedanken gemacht, wie für uns, die wir auch Teil der juristischen Ausbildung sind, praktisches abolitionistisches Arbeiten aussehen kann.
Besonders auf der bereits erwähnten Bewegungskonferenz in Hamburg haben wir vieles über die Arbeit ganz verschiedener Initiativen und Organisationen gelernt. Die abolitionistische Bewegung ist geprägt durch eine große Breite an Initiativen, die im Kern abolitionistisch arbeiten, auch wenn sie sich selbst vielleicht nicht so bezeichnen und thematisch unterschiedlichste Probleme oder Utopien zu ihrer Aufgabe gemacht haben. Sei es nun von Seiten der kurdischen Freiheitsbewegung, den Kämpfen geflüchteter und migrantisierter Menschen, die Selbstorganisation von Prostituierten und Sexarbeiter*innen, Initiativen gegen das europäische Grenzregime, Nachbarschaftsinitiativen oder Erinnerungsinitiativen in Reaktion auf Gewalt und Morde der Polizei, den NSU-Komplex oder den Terroranschlag von Hanau, um nur einige wenige zu nennen.[29]
Abolitionismus ist Gegenwart, das wurde uns sehr stark deutlich.Wir nehmen zurzeit ein Momentum wahr, in dem abolitionistische Theorie und Praxis wieder vermehrt Thema wird und Einfluss gewinnt, und hoffen, in diesem Text auch die empowernde Stimmung aus unserer Beschäftigung mit dem Thema weitertragen zu können. In der europäischen Linken ist das insbesondere seit 2020 wieder spürbar. In der vertieften Beschäftigung haben wir immer wieder gemerkt, wie viel Neues es an abolitionistischer Theorie und Praxis zu finden gibt – seien es Artikel, akademische Texte, Bewegungen oder Vernetzungsstrukturen. Der Abolitionismus geht in die Offensive.
„Building life-affirming institutions“
Wie also könnte eine abolitionistische Praxis aussehen? Wir sprechen hier explizit aus einer wenig praxis-lastigen Gruppenerfahrung und möchten eher unsere Überlegungen und Vorstellungen teilen. Gleichzeitig möchten wir betonen, dass Abolitionismus sich immer und überall praktizieren lässt – egal wie klein oder vermeintlich privat der Rahmen, egal wie scheinbar unpolitisch das Anliegen.
Als Grundlage für einen Handlungsrahmen steht der Aufbau solidarischer und nachhaltiger Netzwerke in allen Bereichen unseres Lebens. Ziel ist es, aus unserer Vereinzelung herauszukommen, um Probleme kollektiv bearbeiten zu können – und so eine Art soziale Gegenmacht zu staatlicher Repressions- und Sanktionspolitik aufzubauen.
Soziale Sicherheit können wir eben nur gemeinsam, miteinander und durcheinander schaffen. In diesen Netzwerken ist dann ein entindividualisierter Umgang mit Problemen nötig. Die Verantwortung für Fehlverhalten und Probleme wird nicht mehr nur dem Einzelnen angelastet. Stattdessen wird kollektiv daran gearbeitet, die Ursachen und Strukturen von Gewalt und Verletzungen gemeinsam aufzuarbeiten und zu beseitigen. Der bisherige strafrechtliche Ansatz für den Umgang mit rassistischer, sexistischer und queer-feindlicher Gewalt sorgt für eine Individualisierung (und damit Entpolitisierung) dieser Gewalt. Die dahinterliegenden Machtstrukturen bleiben unbenannt, weil der Strafprozess dafür keinen Platz vorsieht. Es findet keine Ursachenbekämpfung statt.
Aber nicht nur rassistischer, sexistischer und queer-feindlicher Gewalt kann in selbstverwalteten Netzwerken mit dem richtigen Ansatz anders begegnet werden. Auch andere gewaltvolle Zustände, z.B. Armut könnten an ihrer Wurzel gepackt werden, wenn ihre Ursachen bekämpft werden – eben soziale Lösungen für soziale Probleme.
Ein Problem, das abolitionistischen und community-getragenen Sicherheitsverständnissen und Praktiken inhärent ist, ergibt sich daraus, dass zunächst Gemeinschaften geschaffen werden müssen, damit in dieser Kollektivität mit anti-sozialem, unkooperativem Verhalten umgegangen werden kann. In unserem Gruppenprozess haben wir uns immer wieder gefragt, welchen Communitys wir uns selbst eigentlich zurechnen würden; wie aktiv wir in unserem Kiez sind, inwieweit unsere Freund*innenkreise einer Community gleichen. Einen guten Rahmen für Gruppenprozesse haben wir in Polit-Gruppen gefunden, das reicht aber längst nicht aus. Wir brauchen mehr kollektive Orte im Kiez, in Schulen und Unis, in allen Kontexten unseres Alltags. Ein besseres Leben für alle ist möglich – und abolitionistische Praxis ist so alltagstauglich und zugänglich, dass wir direkt damit anfangen können. Zusammenfassend wieder ein Zitat, das Ruth Wilson Gilmore zugesprochen wird: „Abolition is about presence, not absence. It’s about building life-affirming institutions.“ (deutsch: Bei Abolition geht es um Präsenz, nicht um Abwesenheit. Es geht um den Aufbau von lebensbejahenden Institutionen.)
Die Lösung liegt nicht in der Rechtswissenschaft
Aus abolitionistischer Theorie und Praxis in verschiedensten Gruppen und Communitys können wir viel lernen. Konkret für die Rechtswissenschaften und die anhängige Ausbildung haben die angesprochenen Theorien und Praxen zentrale Relevanz. Strafpraxen und Sanktionsmechanismen kritisch zu reflektieren, ist eine Verantwortung, der sich die Rechtswissenschaft aktiv stellen muss – strukturiert sie doch massiv gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse mit. Die Frage danach, warum wir strafen und wie diese Praxis alltäglich aussieht, muss Teil jeder verantwortungsvollen und umfassenden juristischen Ausbildung sein. Es braucht außerdem unbedingt fundiertes Wissen darüber, wie wir alternativ mit Gewalt und Verletzung umgehen können. Dazu müsste die Rechtswissenschaft aus ihrem Elfenbeinturm herabsteigen und sich mit Fächern wie der sozialen Arbeit, den Gender Studies oder den Sozialwissenschaften verbünden. Ein kritischer und interdisziplinärer Austausch ist hier (wie auch sonst oft) von zentraler Bedeutung. Vor allem auch im außeruniversitären Kontext werden seit Jahrzehnten Konzepte wie community accountability und transformative Gerechtigkeit von Gruppen und Communitys rund um den Globus praktiziert – und funktionieren!
Es gibt viele dringend benötigte Reformen, die die sogenannten Sicherheitsbehörden – im Sinne der nicht-reformistischen Reform – weniger gewaltvoll gestalten könnten. Wir – als akj, aber auch einfach als Linke – stellen uns gegen geplante Gesetzesverschärfungen und den Ausbau der sogenannten Sicherheitsbehörden, in Berlin und anderswo. Wir werden nicht müde, auch Forderungen wie die der anständigen Entlohnung von Gefangenen anzubringen. Trotzdem bleiben juristische Strafsysteme nicht die Lösung für Probleme, sondern eine politische Realität, die wir ablehnen. Wir müssen nachhaltige, soziale und umstandsbezogene Strukturen aufbauen – das schafft keine Polizei, kein Gefängnis, erst recht keine Grenze. Widerstand gegen karzerale Praxen und Logiken bleibt notwendig. Diese Auseinandersetzung findet immer vor dem Hintergrund kapitalistischer Verhältnisse statt – deshalb müssen wir diese Kämpfe vernetzt und solidarisch führen.
Als Jura-Studierende erkennen wir an, dass unser Fach nur einer von vielen Orten ist, an denen theoretische und praktische Vorstellungen von Sicherheit und Gemeinschaft ausverhandelt werden. Es gilt also darüber hinaus zu denken und zu gehen – ganz im Sinne einer abolitionistischen Gegenwart, die sich nicht in einzelne Handlungsräume und -themen eingrenzen lässt.
Weiterführende Literatur:
Daniel Loick, Vanessa Thompson (Hrsg.), Abolitionismus. Ein Reader, 2022.
Angela Y. Davis, Are prisons obsolete? 2003.
Melanie Brazzell, Was macht uns wirklich sicher? Ein Toolkit zu intersektionaler transformativer Gerechtigkeit jenseits von Gefängnis und Polizei, 2018.
[1] Daniel Loick / Vanessa Thompson (Hrsg.), Abolitionismus. Ein Reader, 2022.
[2] Abolitionismus Lesekreis, akj Berlin, https://akj.rewi.hu-berlin.de/index.php?post=abolitionismus-lesekreis (Stand aller Links: 07.11.2023).
[3] RAV, Veranstaltungshinweis, https://www.rav-kongress.de/veranstaltung/strafvollzug-2/.
[4] Ein Bericht zu dieser Konferenz findet sich ebenfalls in diesem Heft!
[5] Gregor Bachmann, Twitter vom 08.06.2023, https://twitter.com/bachmann_gregor/status/1666703500267380738.
[6] Daniel Loick / Friedrich Weißbach, Was ist Abolitionismus, Herr Loick?, https://www.philomag.de/artikel/was-ist-abolitionismus-herr-loick.
[7] Loick / Thompson, Was ist Abolitionismus?, in: Loick / Thompson (Fn. 1), 7.
[8] Ebenda.
[9] Cedric Robinson, Black Marxism, 1983.
[10] Loick / Thompson (Fn. 6), 37.
[11] Ruth Wilson Gilmore / Leopold Lambert, Making Abolition Geography in California’s Central Valley, The Funambulist Magazine, 20.12.2018, https://thefunambulist.net/magazine/21-space-activism/interview-making-abolition-geography-california-central-valley-ruth-wilson-gilmore.
[12] Loick / Thompson (Fn. 6), 46.
[13] Ebenda.
[14] Ronen Steinke, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz, 2022, 100.
[15] Ebenda.
[16] Jana Sophie Lanio, Arbeit und Lohn im Gefängnis, Tatort Zukunft https://tatort-zukunft.org/fakten/arbeit-im-gefaengnis/.
[17] Urt. v. 20.06.2023, Az. 2 BvR 166/16; 2 BvR 1683/17.
[18] Für eine ausführlichere Besprechung: Lara Mann, (Nichts) Neues in puncto Gefangenenvergütung, https://forum-recht-online.de/wp/?p=2434.
[19] Vgl. Melanie Brazzell, Einleitung: Was macht uns wirklich sicher?, in: Melanie Brazzell: Was macht uns wirklich sicher? Ein Toolkit zu intersektionaler transformativer Gerechtigkeit jenseits von Gefängnis und Polizei, 2018.
[20] Daniel Loick, Das Grundgefühl der Ordnung, das alle haben. Für einen queeren Begriff von Sicherheit, in: Mike Laufenberg / Vanessa Thompson (Hrsg.): Sicherheit: Rassismuskritische und feministische Debatten, 2021, 267.
[21] Vgl. hierzu Kampagnen von Wrangelkiez United! in Berlin-Kreuzberg: https://wrangelkiezunited.noblogs.org/flyer-against-racial-profiling/; Bündnis für soziale Sicherheit #noASOG https://buendnis-soziale-sicherheit.de/.
[22] Ruth Wilson Gilmore, Abolition Geography, 2023, 410.
[23] Loick (Fn. 20).
[24] Loick (Fn. 19); Douglas Crimp, How to Have Promiscuity in An Epidemic, in: Douglas Crimp, Melancholia and Moralism. Essays on Aids and Queer Politics, 2004, 43.
[25] Abgeordnetenhaus Berlin, Antwort auf die Schriftliche Anfrage Nr. 19/16704 vom 12. September 2023 über Straftaten und Einsatzkräftestunden im und um den Görlitzer Park.
[26] Philipp Siebert, Görli & Co.: Das sind die unsichersten Berliner Parks, Berliner Morgenpost v. 24.10.2023, https://www.morgenpost.de/berlin/article239877797/Goerli-und-Co-Das-sind-die-unsichersten-Berliner-Parks.html.
[27] Randale und schlechtes Wetter, taz v. 06.08.2023, https://taz.de/Sommerbilanz-der-Berliner-Baederbetriebe/!5952480&s=Berlin+Freib%C3%A4der/.
[28] Abgeordnetenhaus Berlin, Drucksache 19/1232; Anna Thewalt / Alexander Fröhlich, Schwarz-Rot verschärft Berliner Polizeigesetz, Tagesspiegel, 04.10.2023, https://www.tagesspiegel.de/berlin/erster-entwurf-fur-gesetzesanderung-praventivgewahrsam-in-berlin-soll-verlangert-werden–aber-nicht-fur-klimaaktivisten-10565803.html.
[29] Siehe: Abolish Frontex, Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, Wrangelkiez United!, Justice Collective, Abolition Beyond Borders Collective, Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, Initiative in Gedenken an Yaya Jabbi, Solidaritätskreis Mouhamed Lamine Dramé, Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen, Gefangenen-Gewerkschaft / Bundesweite Organisation (GG/BO), Asmara’s World e.V., Jüdischer Antifaschistischer Bund, Hydra e.V., International Women* Space.