Seit Jahrzehnten kämpfen weltweit immer wieder feministische Bewegungen für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Auch in Deutschland besteht der Streit um eine, im europäischen Vergleich eher restriktivere Gesetzeslage zum Schwangerschaftsabbruch1, schon seit mehr als 45 Jahren.2 Im Namen des vermeintlichen Lebensschutzes hindern uns diese Gesetze in der vollen Auslebung gerechter und selbstbestimmter Teilhabe aller Geschlechter an der Gesellschaft.
Ein*e durchschnittlich reproduktiv gesunde*r Frau und Mensch mit Uterus (MmU) haben im Leben ca. 300 bis 400Eisprünge. Eine Zahl, die offenbart, wie hoch die statistische Wahrscheinlichkeit ist, mit der ein Verhütungsfehler im Laufe eines Menschenlebens auftreten kann. Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland in den §§ 218 und 219 des Strafgesetzbuches (StGB) geregelt. Bezugnehmend auf den §218 StGB sprach das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 88, 203) am 28. Mai 1993 von der Austragungspflicht einer Schwangeren: “Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter. Ein solcher Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen. Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes sind zwei untrennbar verbundene Elemente des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes.” Dieses Urteil hat bis heute Gültigkeit in Bezug auf den § 218 StGB. Dies ist eine rechtliche Übergriffigkeit und Ermächtigung des Staates über den Körper von Menschen, die es in keinem anderen Bereich so gibt. Beispielsweise gibt es nirgends in Europa eine verpflichtende Blutspende, nirgends ein verpflichtende Organspende nach dem Hirntod, obwohl täglich Menschen auf der Warteliste für ein Spenderorgan versterben.3 Es gibt dazu keine Verpflichtung, auch wenn es anderen Menschen das Leben retten könnte, weil die Würde des Menschen gem. Artikel 1 Grundgesetz (GG) und die körperliche Unversehrtheit gem. Artikel 2 GG verfassungsrechtlich garantiert sind. Menschen, die vielleicht schwer erkrankt sind, können also nicht auf ein Recht pochen, dass andere Menschen dazu verpflichtet, nach ihrem Tod ihre Organe spenden zu müssen. Und das, obwohl diese auf ein Organ wartenden Menschen,aus einem Leben gerissen werden, in dem sie vielleicht bereits soziale und berufliche Teilhabe und Verpflichtungen innehaben und Verantwortung gegenüber ihrer Familie, Kinder und Freund*innen nachkommen wollen. Aber Embryonen, die mindestens bis zur Hälfte des zweiten Schwangerschaftsdrittels definitiv nicht allein lebensfähig sind, hebeln schon im achtzelligem Stadium oder als Blastozele die fundamentalen Grundrechte von Frauen und MmU aus.
Zweiheit in Einheit
Die Embryonen werden nicht als potenzielles, sondern als absolutes Leben angesehen und in ihrem Recht auf Leben gleichwertig dem der Frauen und MmU gegenübergestellt.4 Ungeborenes Leben hat damit nicht mehr nur die Möglichkeit mit Geburt eine rechtliche Person zu werden. Bereits im nicht eigenständig lebensfähigem Stadium wird es zum Rechtssubjekt mit eigenen Rechten erhoben und den Rechten der Schwangeren gleichwertig gegenübergestellt, so wie es im bereits erwähnten Urteil des BVerfGE heißt: “Die Rechtsordnung muß die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleisten. Dieses Lebensrecht wird nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet.” Und obwohl die Embryonen nur mögliches eigenständiges Leben im biologischen Sinne mindestens bis zum zweiten Schwangerschaftsdrittel bleiben, werden sie rechtlich als absolutes Leben angesehen und haben damit einen Anspruch auf Leben gegenüber der Schwangeren.
Dies führt dazu, dass Regierungen ihren gebärfähigen Bürgerinnen einen Zwang zur Austragung einer ungewollten Schwangerschaft auferlegen können, indem sie die Rechte der Rechtssubjekte gegenüberstellen. Und so nehmen diese Regierungen ihren Bürgerinnen damit das Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Dabei spricht sich auch internationales Recht dafür aus, dass Frauen gleiches Recht auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über Anzahl und Altersunterschied ihrer Kinder zusteht.5
Frauen tragen noch immer die hauptsächliche Sorge- und Erziehungsarbeit in unserer Gesellschaft. Sie wissen also, was es bedeutet eine Schwangerschaft auszutragen, eine Geburt zu bewältigen und für ein Kind zu sorgen. Frauen und MmUsollten das Recht haben, zu entscheiden, wann der Zeitpunkt ist, an dem sie sich dies vorstellen können. Auch eine Adoption, die oft als allgemeingültige Lösung für ungewollte Schwangerschaften postuliert wird, kann nur in manchen Fällen eine Option sein. Denn eine Schwangerschaft 40 Wochen auszutragen und anschließend eine Geburt durchzustehen, greift massiv in die körperliche und geistige Integrität einer Person ein.
Kritik am Umgang mit Grundrechten von MmU
Die deutsche Gesetzgebung schafft um den Schwangerschaftsabbruch aber gleich noch zwei weitere besondere Regelungen: Erstens die Möglichkeit für das medizinische Personal, die Teilnahme an einem Schwangerschaftsabbruch aufgrund persönlicher Gewissensumstände zu verweigern, wie es in § 12 Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelt ist. Zweitens besteht ein sogenanntes Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, das in § 219a StGB festgeschrieben ist. Nirgends in der Medizin gibt es eine zu vergleichende medizinische Situation, die juristisch so die Moral und das Gewissen desmedizinischen Personals vor die medizinische Bedürftigkeit eines Menschen und die Verantwortung für einen Menschen stellt – außer beim Schwangerschaftsabbruch. Dies schafft nicht nur eine weitere Tabuisierung und Stigmatisierung des Themas in der Gesellschaft, sondern befördert auch gleichzeitig die medizinischen Unterversorgung. Seit 2003 ist die Anzahl der Praxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, um 40% gesunken und es bestehen daher weite Versorgungslücken in großen Teilen Deutschlands.6
Berufsbezogene, sachliche und angemessene Werbung und Informationen für ihr Leistungsangebot ist für Ärzt*innen gegenüber der Öffentlichkeit über Artikel 12, Abs. 1 GG und § 27 der (Muster)Berufsordnung für deutsche Ärztinnen und Ärzte geregelt – außer bei Schwangerschaftsabbrüchen. Dort verbietet der § 219a StGB alle weiteren sachlichen Informationen, die über den bloßen Hinweis, dass Abbrüche durchgeführt werden, hinausgehen. Dies hat schon zu unzähligen Verfahren gegen Ärzt*innen geführt, die sich dem Informationsverbot nicht fügen wollen. Auch die kürzliche Reform des § 219a StGB schaffte keine Rechtssicherheit, denn auch hiermit können Ärzt*innen noch nicht darüber informieren welches Verfahren sie anwenden. So wurden erst im Juni diesen Jahres wieder zwei Ärztinnen in Berlin zu Geldstrafen verklagt, weil sie darüber informierten, dass auch ein “narkosefreier, medikamentöser Abbruch” zu ihren Leistungsspektrum zählte.7
Strukturelle Gewalt
Der norwegische Friedensforscher Johann Galtung beschrieb ab 1971 in Ergänzung zum bisherigen klassischen Verständnis von Gewalt den Begriff der strukturellen Gewalt.8 Strukturelle Gewalt bedeutet, dass auch durch staatliche,beziehungsweise gesellschaftliche Strukturen Gewalt ausgeübt werden kann. Der Kernpunkt dieses Verständnisses ist, dass Gewalt nicht ausschließlich von konkreten Tätern ausgeht, sondern auch beispielsweise von gesetzlichen Regelungen, die in Persönlichkeitsrechte eingreifen. Es handelt sich also um eine Form von Gewalt, die Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten befeuern kann und Selbstverwirklichungen und Bedürfnissen im Wege steht, weil die vom Staat vorgegebene Struktur nicht gerecht ist. Die vom Staat vorgegebene Struktur sollte aber auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirken, so wie es in Artikel 3, Abs. 2 GG heißt.
Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit wird bei einem Zwang zur Austragung einer unerwünschten Schwangerschaft massiv beschnitten. Wie anders sollten wir also die misogyne Gesetzeslage um den Schwangerschaftsabbruch bezeichnen als strukturelle, staatliche Gewalt gegenüber Frauen und MmU? Stünde der Staat nicht nur für Gleichheit sondern vor allem für volle Fairness und Gerechtigkeit unter den Geschlechtern ein, würde es bedeuten, dass Menschen nicht aufgrund ihrer Gebärfähigkeit benachteiligt werden. Die Gebärfähigkeit befördert Frauen und MmU schließlich in unserer Gesellschaft automatisch an einen anderen Startpunkt als Männer. Beruflich und finanziell ist dies für viele Frauen Lebensrealität, zudem, wie bereits erwähnt, bislang noch immer der Großteil der Sorge-, Familien- und Erziehungsarbeit auf ihnen lastet. Um tatsächliche Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu erreichen, sollten folglich selbstbestimmte Entscheidungen über den eigenen Körper und die Reproduktion für alle Menschen gleichermaßen gegeben sein.