In der Debatte um Schwangerschaftsabbrüche wird häufig darauf verwiesen, man müsse nur herausfinden, wann das menschliche Leben beginnt und die Legalisierung bzw. Kriminalisierung daran orientieren. Das ist jedoch gar nicht so einfach und sehr umstritten.
Der Beginn des menschlichen Lebens stellt einen zentralen Bezugspunkt für die juristische Abwägung verschiedener Rechtsgüter dar und ist politisch sehr umstritten. Die Festlegung unterlag einem historischen Wandel. Für die einen begann das menschliche Leben mit der Empfängnis, nach der christlichen Beseelungslehre am 40. oder 80. Tag nach der Empfängnis, je nach Geschlecht des Kindes. Wieder andere setzen den Lebensbeginn auf den Zeitpunkt des Einsetzens spürbarer Kindesbewegungen. In der stoischen Philosophie beginnt das Menschsein mit dem ersten Atemzug und auch nach dem römischen Recht war der Fötus Teil der Eingeweide der Mutter* und kein eigenes Leben. Auch biologisch argumentierende Definitionen bieten eine Bandbreite unterschiedlicher Zeitpunkte: von der Befruchtung der Eizelle, der ersten Zellteilung oder die Einnistung in den ersten Tagen einer Schwangerschaft, über sie (selbstständige) Lebensfähigkeit etwa ab der zweiten Hälfte der Schwangerschaft bis zur Geburt selber1.
Die rechtlichen Festlegungen sind ebenfalls nicht kohärent, sondern abhängig vom zu regelnden Gegenstand. Das Embryonenschutzgesetz schützt schon die „befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung“. Ein Anspruch auf eine Erbschaft kann ab der Einnistung der Eizelle entstehen, aber nur, wenn der Embryo tatsächlich geboren wird (§ 1923 II BGB). Die Personenstandsverordnung setzt in § 31 die Grenze zwischen Fehlgeburt und Totgeburt – nur letztere zählt als „Person innerhalb der Rechtsordnung“ (§ 1 PStG) – bei einem Körpergewicht von 500 Gramm. Die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit beginnt gemäß § 1 BGB mit der Geburt.
Einen „einfach“ oder eindeutig bestimmbaren objektiven Lebensbeginn gibt es also nicht. Jede Definition ist historisch gewachsen, situativ und unter Abwägung unterschiedlicher Interessen und auf Grundlage von wissenschaftlichen oder weltanschaulichen Wertungen entstanden. Und diese Abwägung ist besonders vor dem Hintergrund des Geschlechterverhältnisses, aber auch bevölkerungspolitischer Erwägungen und ökonomischer Interessen immer und inhärent politisch. Immer wieder wurden und werden die vermeintlich objektive Definition des Lebensbeginns jedoch herangezogen, um politische Entscheidungen zu rechtfertigen. Auch religiöse Argumentationen betonen erstaunlich häufig eine „humanbiologische Grundlage“2. Der Zeitpunkt, der aktuell Grundlage der rechtlichen Regelung ist – also die 12. Schwangerschaftswoche – basiert auf keiner dieser Definitionen unmittelbar, sondern war ein politischer Kompromiss der damaligen Regierungsparteien.
„Leben“ als politischer Begriff
Auch in der Sprache spiegelt sich Uneinigkeit wider. Waltraud Schwab3 beschreibt, wie sich die Begriffe des „ungeborenen Lebens“ und „Lebensschutz“ still und heimlich als selbstverständlicher Begriff in der Debatte etabliert hat. Dabei nimmt dieser Begriff die hoch politische und diskussionswürdige Bestimmung des menschlichen Lebens und die Abwägung zwischen den Rechten der schwangeren Person und dem des wie auch immer definierten zumindest entstehenden Lebens schon vorweg.
In seinem Urteil zum Schwangerschaftsabbruch im Jahr 1975 sprach auch das Bundesverfassungsgericht von „sich im Mutterleib entwickelnde[m] Leben“ (Leitsatz 1) und sah eine beängstigende Abwertung des geborenen Lebens – also der schwangeren Person – vor: „Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden“4. 1993 fügte das Gericht hinzu: „Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes sind zwei untrennbar verbundene Elemente des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes menschlichen Lebens.“5 Durch den grundsätzlichen und nur in Ausnahmefällen verhandelbaren Vorrang der „Leibesfrucht“ vor die Bedürfnisse und Interessen der schwangeren Person, wird diese zu einem kostenbares Leben beinhaltenden Container degradiert. Die exzessive Nutzung des Begriffes „menschliches Leben“ für den Embryo anstatt für die schwangere Person ermöglicht es, eine Debatte um Embryonen anstatt über wirklich lebende Menschen zu führen.
Gerade in der Rechtswissenschaft und der Debatte um gesetzliche Lösungen wird häufig auf einen vermeintlich eindeutig bestimmbaren Lebensbeginn Bezug genommen. Der Blick in andere Disziplinen und die Geschichte zeigt jedoch: es gibt keine einfache, eindeutige, objektive Antwort auf die Frage wann Leben beginnt. Für Feminist*innen und Jurist*innen bedeutet dies, sich nicht von naturwissenschaftlichen und damit vermeintlich objektiven Definitionen einschränken zu lassen und ihnen nicht die Vorherrschaft zu überlassen. Der politische Charakter dieser Definitionen, die Implikation der genutzten Begriffe und die dahinterstehenden Interessen müssen offengelegt werden. Und im Fokus der Debatte sollte das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und schwangeren Personen stehen.
1 Exemplarisch sei an dieser Stelle auf den Wikipedia-Artikel verwiesen (https://de.wikipedia.org/wiki/Beginn_des_Menschseins).