Lisa Riedners Buch „Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration. Eine Untersuchung zwischen Wissenschaft und Aktivismus“ (edition assemblage) macht schon in Titel und Untertitel ihren speziellen Ansatz sichtbar: Schlagworte mit Ausrufungszeichen, „zwischen Wissenschaft und Aktionismus“. Sie wählt den „Konflikt als Methode“. Fragt nach den „Versuchen des Regierens“ in den „lokalen Auseinandersetzungen um den ‚Tagelöhnermarkt‘ und die EU-interne Migration in München“.
Dem Buch liegt ihre Dissertation „Zwischen Aktivierung und Ausschluss. Wie EU-interne Migration in München regiert wird“ zugrunde, die sie 2017 am Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie der Georg-August-Universität Göttingen abschloss. In sieben Kapiteln begleitet man Riedner an Schauplätze ihrer eigenen aktivistischen Tätigkeit mit der Initiative Zivilcourage und in die theoretischen Bereiche wissenschaftlicher Analyse. Und begegnet dabei auch immer wieder der Frage, in welchem Verhältnis die subjektiv gewonnenen Erfahrungen zur wissenschaftlichen Theorie stehen. Nach Riedner könne eine Perspektive der Kämpfe nur aus der bewussten, positionierten Teilnahme an Kämpfen heraus entstehen. Andernfalls könne man nur „auf“ das Forschungsobjekt blicken – mit Abstand und von oben – und nähme damit auch eine Perspektive des „Regierens“ ein. Die teilnehmende Perspektive ergänze sich besonders gut mit der ethnografischen Forschungsmethode, die „teilnehmend beobachtet“. In der ethnografischen Regimeanalyse sei die These zentral, dass „Brüche und Ambivalenzen der hochkomplexen und stets umkämpften Regime nur konkret und emisch erfahren werden können“. Regime meint dabei „ein Ensemble von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen – Diskurse, Subjekte, staatliche Praktiken – deren Anordnung nicht von vornherein gegeben ist, sondern das genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme zu generieren“. Riedner wandte hierfür verschiedene qualitative Methoden an: etwa die Mitarbeit bei der Initiative Zivilcourage, die durch ein Forschungstagebuch dokumentiert wurde; spontane Teilnahme an (aktivistischen) Situationen als Forscherin (sofern diese Teilnahme unter ethischen Gesichtspunkten unproblematisch erschien); qualitative, offene Interviews mit verschiedenen Akteuren; Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen; Sammlung von diskursivem Material. Ausgangspunkt bot dafür der selbstorganisierte Arbeitsmarkt im Münchner Bahnhofsviertel und dem durch Arbeitskämpfe geprägten Migrationsprojekt einer Gruppe von EU-Migrantinnen. Letztere wurden dabei begleitet, wie sie gerichtlich und außergerichtlich um vorenthaltene Löhne kämpften. Die Beobachtungen werden historisch, sozial und ökonomisch kontextualisiert. Zentraler Punkt für Riedners Untersuchungen ist dabei, dass es sich bei den betroffenen Personen weder um Inländer*innen noch um Ausländer*innen (aus nicht EU-Staaten) handelt – sondern um Unionsbürger*innen. Diese dürfen sich auf den Münchner Straßen aufhalten, haben dabei aber nicht dieselben Rechte wie deutsche Bürger*innen. Ein weiteres Kapitel ist den konkreten Sicherheitspraktiken und -diskursen rund um den Münchner ‚Tagelöhnermarkt‘ gewidmet. Eine Zollrazzia im Oktober 2013 wird hier als Ausgangspunkt der Betrachtungen gewählt. Sodann richtet Riedner den Fokus auf die Münchner Wohnungslosenpolitik. Sie zeigt auf, wie zwischen inländischen (‚unseren‘) Obdachlosen und obdachlosen EU-Migrant*innen unterschieden wird. Ihre Untersuchungen nehmen dabei Bezug auf Entwicklungen zwischen 2006 und 2014. Über einen noch längeren Zeitraum (1998 bis 2015) wertet Riedner 13 Urteile des Europäischen Gerichtshof (EuGH) aus, die sich mit Ansprüchen von Unionsbürger*innen auf Sozialleitungen (in EU-Staaten, deren Staatsbürgerschaft sie nicht innehaben) auseinandersetzen. Der EuGH schien dabei für Riedner zunächst Hoffnungsträger, da er trotz abweichender nationaler Regelungen, Ansprüche auf Sozialleistungen von Unionsbürger*innen in einigen Fällen bejahte, später jedoch immer weiter von der anfangs selbstbewussten Rechtsprechung zurückwich. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit dem Begriff der ‚Armutszuwanderung‘ und der eigenwilligen Fokussierung öffentlicher Akteur*innen auf die (Armuts-)Zuwanderung als Problem und Bedrohung – statt sich mit der Armut von EU-Migrant*innen auseinanderzusetzen. Die Analyse, die hier bezüglich der rechtlichen Rahmenbedingungen und einzelner juristischer Auseinandersetzungen angestellt wird, ist gerade aus juristischer Perspektive interessant zu lesen. Denn hier wird aus einer anthropologischen und ethnologischen Perspektive auf bestimmte Situationen geblickt. Eine für Jurist*innen vielleicht banale Situation – der vorsitzende Richter bittet um Ruhe im Gerichtssaal – wird zu einer „Reproduktion des ungleichen Verhältnisses zwischen den Arbeiterinnen und dem Unternehmer“. Auch die Einschätzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Mittel, um den vom EuGH zunächst „grundlegend gewährten“ Anspruch auf Sozialleistungen an „Bedingungen“ zu knüpfen, eröffnet einen anderen Blick auf juristisch wohlbekannte und nicht jederzeit hinterfragte (juristische) Grundsätze und Vorgehensweisen.
Lisa Riedner
ARBEIT! WOHNEN!
Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration – Eine Untersuchung zwischen Wissenschaft und Aktivismus
Broschur | 140*205mm
368 Seiten | 18€
978-3-96042-039-2 | 2-973
November 2018