Heft 1 / 2001: Fragwürdige Dienstleistung Bundeswehr im Umbruch |
Thilo Tetzlaff | |
Fleißige Sammlung oder große Chance? | |
Die Europäische Grundrechtscharta |
"Man [wird] mit Überraschung und Schrecken wahrnehmen, dass in Europa alles darauf hinzuwirken scheint, die Vorrechte der Zentralgewalt schrankenlos auszuweiten, das Dasein des Einzelnen dagegen mit jedem Tag schwächer, abhängiger und unsicherer zu gestalten." Mit diesen Worten versuchte Alexis de Tocqueville seinen französischen
Landsleuten nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten das Projekt
einer amerikanischen Verfassung, das er beobachten durfte, im Gegensatz
zu der Entwicklung in Europa zu beschreiben. Im Gefolge der Französischen
Revolution begannen die einzelnen europäischen Staaten, sich dann ebenfalls
Verfassungen zwecks Stärkung der Rechte des/der Einzelnen zu geben. Zuerst
Polen (1791), dann Frankreich (1791), später auch in Deutschland. Heute
besitzen alle europäischen Staaten bis auf den Sonderfall Großbritanniens
einheitliche geschriebene Verfassungsdokumente. Je mehr die europäische
Ebene politische und rechtliche Bedeutung bekam, desto größer wurde der
Wunsch, auch diese Dimension auf das Fundament einer Verfassung zu stellen.
In den Römischen Verträgen (dem Vertragswerk zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaften) sowie den Nachfolgeverträgen beschränkte man sich aber
vor allem auf organisatorische Vorgaben. Dies stimmt freilich insoweit
nur zum Teil, als mit den Grundfreiheiten auch sehr bedeutsame Rechtspositionen
des/der Einzelnen umschrieben wurden. Indem diese das Individuum vor allem
als Wirtschaftssubjekt verstanden, bildeten sie aber nur einen Ausschnitt
aus den Grundrechtskatalogen, die man in den Verfassungen der Einzelstaaten
finden kann. Freilich gelang es dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), mit
Hilfe der Grundfreiheiten insbesondere auf dem Gebiet der Gleichberechtigung
Ergebnisse zu erzielen, hinter denen die Entwicklung in den Nationalstaaten
hinterherhinkte. Der Entwurf einer Grundrechtscharta Im Anschluss an den Kölner Gipfel 1999 wurde daher ein Konvent unter
dem Vorsitz von Roman Herzog eingesetzt, der einen Entwurf einer Grundrechtscharta
(GRC) erarbeitete. Dieser Entwurf wurde im Oktober letzten Jahres der
Öffentlichkeit vorgestellt und hat bereits eine breite Diskussion hervorgerufen,
die der Qualität des Entwurfs aber nur zum Teil gerecht wird. Daher zunächst
einige Rechtfertigungen des Konventsvorschlags: Freiheitsrechte Die Freiheitsrechte warten neben dem europäischen Urgrundrecht der Religionsfreiheit
sowie weiteren klassischen Rechten (Versammlungsfreiheit, Eigentumsrecht)
auch mit einer Explikation des Datenschutzes auf. Angesichts des Durcheinanders
von nationalen und europäischen Regelungen ist dies ein begrüßenswerter
Schritt. Institutionell wird ein/e europäische/r Datenschutzbeauftragte/r
genannt, so dass eine Angleichung an die bundesdeutsche Rechtslage zu
erwarten ist. Gleichheitsrechte Abgesehen von einer thematisch nicht sonderlich systematischen Verankerung der Gleichheit von Mann und Frau (Präambel, Art. 20, 21 GRC) hat sich der Konvent zu einer umfassenden Normierung von Gleichheitsrechten entschlossen. Am prekärsten dürfte die Berücksichtigung nationaler Minderheiten sein, denkt man insbesondere an die Diskussion hinsichtlich der Kors/inn/en in Frankreich. Dort herrscht bislang noch das Idealbild einer einheitlichen Nation vor, was zuletzt selbst zu Spannungen innerhalb der Regierung geführt hat. 2 Ob das Verbot einer Benachteiligung wegen genetischer Merkmale sich gegenüber den ökonomischen Reizen einer solchen Selektion z. B. bei Versicherungen durchsetzen kann, bleibt abzuwarten. Der Schutz der Kinder, dessen Zusammenhang mit der Gleichheit etwas opak ist, ist unglücklich ohne Befassung mit Misshandlungen durch die Eltern aufgenommen worden. Die Gelegenheit, hier ein deutliches Zeichen zu setzen, wurde versäumt. Nicht-klassische Grundrechte Gemäß der Präambel ist es ein wichtiges Ziel der Charta, den Grundrechtsbestand in Europa den modernen Entwicklungen anzupassen. Am auffälligsten wird dies freilich nicht bei der Modifikation klassischer Grundrechte, sondern bei der Aufnahme sozialer Rechte. Die Solidaritätsrechte befassen sich vor allem mit den Arbeitsbedingungen. Angesichts des Planes, gerade eine Erweiterung der wirtschaftsbezogenen Grundfreiheiten anzustreben, liegt diesem Kapitel offensichtlich ein sehr begrenztes Verständnis von Solidarität zugrunde. Hinzuweisen ist aber auf Art. 34 Abs. 1 GRC, wo zumindest einige Bereiche des Sozialrechts angeschnitten werden. Da ein Einwand gegen soziale Grundrechte regelmäßig darin besteht, dass diese zu ungenau und damit kaum einklagbar sein, hätte man sich durchaus der Arbeit unterziehen sollen, einzelne Bereiche weiter auszudifferenzieren. Bürgerrechte Obwohl justizielle und Bürgerrechte lange bekannt sind, ist es in der
Charta besser als in den meisten Verfassungen gelungen, sie zu systematisieren
und um einige modernere Bestandteile zu ergänzen. Neben den Bestimmungen,
die die Kommunal- und Europawahlen betreffen, ist unter den Bürgerrechten
das "Recht auf eine gute Verwaltung" (Art. 41 GRC) hervorzuheben. Es folgen
dann aber keine Strukturprinzipien der Verwaltung wie in der spanischen
Verfassung (Art. 103). Unter dieser verbesserungswürdigen Überschrift
verbergen sich vielmehr einerseits Verfahrensrechte (Anhörung, Akteneinsicht),
andererseits ein Haftungsanspruch gegen Organe der Gemeinschaft. Wenn
dieser inhaltlich auf die den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten gemeinsame
Grundsätze gestützt wird, ist dies ein wenig genauer Hinweis auf die Begründung
europarechtlicher Haftungsansprüche durch den EuGH. Die justiziellen Rechte
umfassen auch die Prozesskostenhilfe. Begrenzungen von Grundrechten Dem/der deutschen Verfassungsleser/in fällt die vom Grundgesetz abweichende Schrankensystematik auf. Anstatt Schranken, d. h. Grenzen der Grundrechtsausübung, bei den einzelnen Grundrechtsbestimmungen zu normieren, findet sich nur eine Art allgemeiner Gesetzesvorbehalt (Art. 52 GRC). Es wäre aber verfehlt, hierüber ein Bad der Kritik auszuschütten. Die bürokratisch-penible Auflistung von Grundrechtsschranken ist sicherlich ein historisch kontingentes Spezifikum. In vielen anderen Verfassungen (z. B. Art. 18 portugiesische Verfassung, aber auch in der kanadischen und amerikanischen Verfassung) liest sich dies schon ein wenig anders; die Beschränkungen laufen dort in der Tat auf einen Gesetzesvorbehalt hinaus, der dann in einen allgemeinen Teil zusammengefasst werden kann, wie es die Charta unternimmt. Die These, ein wirksamer Grundrechtsschutz sei nur durch eine ausgefeilte Schrankensystematik möglich, bedarf also einer gewissen Relativierung. Sie birgt sogar den Verdacht, Grundrechte würden mehr von ihren Grenzen, denn von ihren Möglichkeiten gedacht. Ob es zudem gelingen kann, Grundrechte durch ein Schrankensystem zu sichern, ist zu bezweifeln, da die ursprünglichen Abstufungen sich zum Teil als widersinnig erwiesen und daher im Wege der Interpretation einiger Abschleifungen erfuhren. Bedenkt man all dies, so erscheint es als sinnvoller Weg, sich auf eine allgemeine Schrankenregelung zu beschränken. Gemeinsame Wertebasis? Kritisiert worden ist die undeutliche Bennennung einer gemeinsamen europäischen
Wertebasis. So denkt Tettinger an die dignitas humana sowie eine Berufung
auf Gott 3. Ob dies unter dem Vorzeichen
einer Erweiterung in Richtung der Türkei der Weisheit letzter Schluss
gewesen wäre, ist zu bezweifeln. Darüber hinaus ist eine solche Vorstellung
in einigen europäischen Verfassungen zwar enthalten, in anderen, durchaus
wichtigeren wie der französischen, aber nicht. Auch wenn die Rechtsentwicklungen
in Europa sicherlich stark mit christlichem Gedankengut verknüpft wird,
ist gerade die Formulierung eines den Staat bindenden Grundrechtskatalogs
ein Beleg für eine säkulare Selbständigkeit, die in einigen Verfassungen
hin zu laizistischen Konzeptionen gediehen ist. Bedenkt man diese durchaus
heterogene Entwicklung, so muss das Maß an Gemeinsamkeit, zu dem man sich
durchgerungen hat, eher überraschen. Dies ist ein Beleg für die These
des EuGH, der schon frühzeitig von einem europäischen Grundrechtsubstrat
ausging. Verbindliche Rechte? Die wichtigste "Begrenzung" der formulierten Grundrechte findet sich
freilich in der Frage, mit welchem Verbindlichkeitsgrad sie überhaupt
gelten sollen. Endgültig geklärt wäre diese Frage erst, wenn die Charta
durch das entsprechende Vertragsänderungsverfahren auf europäischer Ebene
und in den Mitgliedstaaten auf die Ebene des Primärrechts gehoben werden
würde. Dieses wird aber zum einen einen längeren Zeitraum in Anspruch
nehmen, zum anderen ist es keineswegs ausgemacht, dass dies der Rang ist,
den alle Staaten der Charta beimessen wollen. Mittelfristig geht die Hoffnung
dahin, dass der EuGH das ihm angebotene Material aufgreift und die Grundrechtscharta
unabhängig von einer Verbindlichkeitserklärung zur Grundlage seiner Entscheidungspraxis
machen wird. Zu wenig Beteiligung der Zivilgesellschaft Geht man freilich von einem Entwurf aus, der zunächst noch von einem konstruktiven Pluralismus gekennzeichnet ist, ist es nicht ganz verständlich, warum die Charta schon im Dezember 2000, also nur wenige Monate nach ihrer Vorstellung, in Nizza proklamiert wurde. Damit wird eine externe Diskussion außerhalb des Konvents vom Zeitplan erstickt. Der Ansatz, eine weitreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft zu erreichen, ist daher im Ergebnis verfehlt worden. Ob dieser enge Zeitrahmen angesichts des zerredeten Euros bewusst gewählt worden ist, darüber kann nur spekuliert werden. Man kann auch nicht behaupten, dass zu einem guten und offenen Diskurs auch dessen Unendlichkeit gehört. Die Entstehungsphase des Grundgesetzes war vergleichsweise knapp. Daher kann man über die Proklamation nur froh sein und sich hinterher auf einige theoretische und dogmatische Bonbons freuen... Thilo Tetzlaff ist Assessor in Berlin und hat eine verfassungsrechtliche Dissertation publiziert. Anmerkungen: 1 So aber Tettinger in FAZ v. 26.08.2000,
6. Literatur: Baer, Susanne, Grundrechtscharta ante portas, in Zeitschrift
für Rechtspolitik (ZRP) 2000, 361 ff.
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