Heft 1 / 2001:
Fragwürdige Dienstleistung
Bundeswehr im Umbruch
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Frieden schaffen mit immer besseren Waffen
 

Wer einen Vorschlag zur zukünftigen Gestalt der Bundeswehr vorbringt und damit noch ernstgenommen werden will, muß von ihrer neuen Rolle als Interventionsarmee ausgehen. Da sie zur Verteidigung nicht mehr benötigt wird, sehen alle Konzepte die Auflösung der bisherigen Hauptverteidigungskräfte vor, die für den Angriffskrieg vorgesehen Truppen sollen die einzigen Einsatzkräfte werden. Die bisher euphemistisch als Krisenreaktionskräfte bezeichneten Einheiten sollen von jetzt 60.000 auf zwischen 140.000 1 und 150.000 2 Soldaten verstärkt werden. Dazu kommen gut 100.000 Soldaten als logistische Basis für die Auslandseinsätze. Diese Planung ergibt sich aus der Forderung, die Bundeswehr müsse neben dem sie momentan auslastenden Einsatz im ehemaligen Jugoslawien zu einer weiteren Intervention derselben Größenordnung fähig sein.
Im Rahmen der anstehenden Strukturreform wird über kurz oder lang auch die Wehrpflicht fallen. Im Vietnamkrieg mußten die USA erkennen, welche innenpolitischen Probleme man sich mit einer Wehrpflichtarmee einhandeln kann, will man sie flexibel weltweit einsetzen. Nicht zu unterschätzen ist allerdings der ideologische Stellenwert der Wehrpflicht als "Dienst am Vaterland" und letztem Refugium der angegriffenen Männlichkeit, der ihr noch eine gewisse Gnadenfrist sichern kann. Gerade das notorische Weichei Scharping zeigt in seiner neuen Rolle als Verteidigungsminister anschaulich die Nützlichkeit von Militär als Ersatzrückrat und Potenzsymbol. Die Generäle hingegen fürchten eher eine Gefährdung des Nachschubs von halbwegs brauchbaren Menschenmaterial durch die Abschaffung des obligatorischen Praktikums für alle Jungmänner beim Bund. Reduziert würde auch die "Aufwuchsfähigkeit" durch Reservisten, vulgo die Mobilisierungsstärke im Kriegsfall, die so nicht mehr "als politisch kontrolliertes Mittel der Eskalation eingesetzt werden (kann)" 3.
Die Anpassung der Struktur der Bundeswehr an ihre neuen Aufgaben wird ergänzt durch ihre massive Aufrüstung zu Angriffszwecken. So erhält die Bundeswehr u.a. neue Lufttransportkapazitäten, neue Kampfhubschrauber, den Eurofighter, mehr Präzisionswaffen und (zusammen mit Frankreich) ein eigenes System von Spionagesatelliten.

Ende des Tauwetters

"Die Bundeswehr ... hat ausschließlich der Landesverteidigung zu dienen. Ihr Auftrag ist Kriegsverhütung durch Verteidigungsfähigkeit bei struktureller Angriffsunfähigkeit." Berliner Programm der SPD

Als sich die SPD 1990 zu dieser fast schon pazifistischen Definition der Rolle der Bundeswehr hinreißen lies, war diese Position durchaus mehrheitsfähig. Zwar fanden die Generäle der BRD schon früher, Angriff sei die beste Verteidigung und steckten daher das meiste Geld in Offensivwaffen wie den Kampfpanzer Leopard II und den Jagdbomber Tornado. Die entsprechende Militärstrategie nannten sie "Vorneverteidigung", wobei auch nicht klar war, ob die BRD denn zunächst angegriffen werden mußte, um sich vorne verteidigen zu können, oder aber auch die behauptete Gefahr eines Angriffes ausreichen sollte, um präventiv loszuschlagen. Dieses Streben nach Angriffsfähigkeit mußte aber immerhin im Rahmen des Auftrages der Bundeswehr zur Verteidigung der BRD und der NATO gerechtfertigt werden. Mit der bedingungslosen Kapitulation des Ostblocks im Kalten Krieg war der Bundeswehr dieser Daseinszweck abhanden gekommen, gleiches gilt auch für die NATO. Realitätsferne Friedenswinsler hätten auf den Gedanken kommen können, beide Institutionen als überflüssig abzuschaffen. Solange die Sowjetunion noch nicht völlig zerfallen war, gab es auch Ansätze zu einer radikalen europaweiten Abrüstung. Als regionale Friedensordnung für Europa sollte die nun in OSZE umgetaufte KSZE dienen.
"Regierungsfähig" im Verständnis der bürgerlichen Presse war die Position der Beschränkung der Rolle der Bundeswehr auf die Landesverteidigung jedoch schon damals nicht mehr. Verantwortungsbewußte Realpolitiker suchten hingegen nach neuen Aufgabengebieten für die Bundeswehr und wurden erwartungsgemäß schnell fündig. Statt die Integrität der BRD bzw. der NATO zu verteidigen, soll es nun um die Verteidigung deutscher, europäischer oder atlantischer Interessen gehen, also um klassische Machtpolitik.

Neue deutsche Normalität

Im zweiten Golfkrieg zeigten die USA, welche neuen Möglichkeiten der relativ risikoarmen Kriegsführung sich für die Staaten der NATO mangels ernstzunehmender Gegner nun auftaten. Auch die deutschen Militaristen wären gerne dem "neuen Gewicht Deutschlands in der Welt" gerecht geworden. Noch trat die NATO mit Billigung der UNO auf, noch durfte die BRD lediglich einen guten Teil der Rechnung mit tragen - die eigene Bevölkerung war noch nicht so weit. Die nach Ende diese Krieges vom Generalinspektor Naumann 1992 in den bis heute gültigen Verteidigungspolitischen Richtlinien der BRD formulierte Aufgabe der "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" der Bundeswehr wurden von nicht unwesentlichen Teilen der Öffentlichkeit nicht als hinreichender Grund gesehen, nun gleich überall mit zu morden. Der zuständige Minister Rühe verlegte sich auf eine Salamitaktik, um die aus seiner Sicht hysterische Öffentlichkeit wieder an Krieg und Militär zu gewöhnen. Die "Engel von Phnom-Penh" in Kambodscha, kleinere Auslandsaufenthalte im Irak und in Kuwait sowie der Abenteuerspielplatz Somalia machten unter dem Dach der UNO den Aufenthalt deutscher Soldaten außerhalb der NATO zur Normalität. Im Inneren sollten die inflationären öffentlichen Gelöbnisse für patriotischen Rückhalt für die Truppe sorgen.

Die Rolle der Justiz

Den rechtlichen Freibrief für all das und für alles kommende stellte das BVerfG im Adria-, Somalia- und AWACS-Verfahren aus. Die einschlägige verfassungsrechtliche Grundlage für militärische Einsätze der Bundeswehr jenseits der Verteidigung sah es in Art. 24 Abs. 2 GG, was gewagt, aber noch vertretbar ist. Gleichzeitig behauptete es jedoch, auch die NATO und die WEU seien Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit gemäß Art. 24 Abs. 2 GG und nicht nur die UNO und die OSZE. In gewisser Weise sind sie das auch - dass die NATO einen Krieg zwischen ihren Mitgliedern unwahrscheinlich macht, ist das wohl gewichtigste Argument für ihre Weiterexistenz. Aber es ging ja um Einsätze "out of area" des NATO-Vertrages und damit gerade nicht um die Wahrung des Friedens innerhalb der NATO. UNO und OSZE mutieren seitdem zur Unterscheidung teils zu Systemen "kooperativer Sicherheit", was dann wohl bedeuten soll, dass vor uns nur sicher ist, wer mit uns kooperiert.
Mit dem gelinde gesagt kreativen neuen Völkerrechtsverständnis der Bundesregierung mußte sich das BVerfG hingegen mangels klageberechtigter Kläger nicht auseinandersetzen. Es steht aber noch eine Entscheidung des IGH über eine Klage Jugoslawiens gegen die angreifenden Staaten aus. Das BVerfG hat auf Klage der PDS - Bundestagsfraktion 4 noch zu entscheiden, ob die Bundesregierung ohne erneutes Ratifizierungsverfahren einer Änderung der NATO-Strategie zustimmen durfte, durch die die NATO vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis wird. Mit Abweisung der Klage kann gerechnet werden, die Begründung wird aber sicher unterhaltsam werden. 5

Neue Supermacht EU

Die Rechtsprechung des BVerfG beschränkt die deutsche Militärpolitik also nur noch insoweit, als Deutschland nicht alleine Krieg führen darf. Das kann und will es aber auch gar nicht. Der deutsche Versuch, alleine zur Supermacht zu werden, ist im letzten Jahrhundert zweimal gescheitert, die neue Supermacht soll daher die EU werden. Wenn es nach dem Willen der BRD geht, eine möglichst deutsche EU.
Während die militärische Integration der EU-Staaten im Rahmen von Eurokorps und WEU zunächst eher langsam voran kam, hat sich dies mit dem Kosovokrieg geändert. Die Regierungen aller beteiligten Staaten sind sich in dem Ziel einig, europäische Militäraktionen in Zukunft auch unabhängig von der Unterstützung durch die USA zu ermöglichen. Bei der EU-Konferenz in Helsinki im Dezember 1999 wurde die Schaffung einer europäischen schnellen Eingreiftruppe beschlossen. Großbritannien will die zu schaffende europäische Eingreiftruppe aber nur als europäischen Pfeiler der NATO integriert in deren Kommandostrukturen haben, um sich und den USA ein Vetorecht über den NATO-Rat zu erhalten. Besonders Frankreich, selbst nicht in die NATO - Militärstruktur integriert, aber auch die BRD bestehen auf die Möglichkeit, auch ohne Rückgriff auf die NATO und damit ohne Zustimmung der USA Krieg führen zu können. Ein europäischer Krieg ohne Duldung der USA ist in näherer Zeit allerdings noch nicht vorstellbar. Die Regierungen der restlichen europäischen Länder drängeln sich derweil schon danach, ihre Hilfstruppen zur Verfügung stellen zu dürfen - inklusive der pro forma noch neutralen Staaten, die die Kommandogewalt am liebsten gleich der Europäischen Kommission übertragen würden.
Auf der EU-Konferenz in Nizza im Dezember 2000 wurden die strittigen Punkte ausgeklammert, aber ansonsten Fakten geschaffen. Durchgesetzt haben sich Frankreich und Deutschland. Die EU soll 2003 in der Lage sein, innerhalb von 60 Tagen 60.000 Soldaten aufzustellen und zu einem Einsatzort in bis zu 4000 km Entfernung zu verlegen, wo sie bis zu einem Jahr bleiben sollen - ohne Rückgriff auf Einrichtungen der NATO. Wenn die Soldaten wie üblich öfter ausgetauscht werden, ergibt sich eine Gesamtstärke von gut 200.000 Mann. Formell gebilligt wurde auch die bereits seit Monaten im Aufbau befindliche Befehlsstruktur der EU. Im Politischen und Sicherheitspolitischen Ausschuß sitzen die Vertreter der Mitgliedstaaten und im Militärausschuß die nationalen Generalstabschefs. Die militärische Planung übernimmt der Militärstab unter Vorsitz des deutschen Generalleutnants Rainer Schuwirth.

Der neue alte Feind: das internationale Lumpenproletariat

Für die übrige Welt bedeutet die Entwicklung der EU zum Militärbündnis nichts Gutes. Während die alte bipolare Weltordnung den Staaten des Trikonts immerhin ermöglichte, sich zwischen den beiden Supermächten und ihren Vasallen lavierend etwas Bewegungsfreiheit zu erhalten, wird eine neue Supermacht EU die erdrückende Übermacht der Industriestaaten eher noch erhöhen. Die Interessen der USA und der EU gegenüber den armen Ländern sind im wesentlichen gleichgerichtet. Wie es in den entsprechenden strategischen Papieren ziemlich deutlich formuliert wird, geht es um den Zugang zu den Märkten, um die Sicherung der Rohstoffquellen und einen ruhigen Hinterhof. Zu Konflikten wird es auch in Zukunft nur kommen, wenn man sich nicht über den geeigneten Friedhofsgärtner einig werden kann. Die idealtypische Ausprägung einer von diesen Maximen bestimmten Großmachtpolitik zeigt sich im "präventiven Sicherheitsmanagment", das die USA seit langem in Südamerika betreiben. Die zukünftige Sicherheitspolitik der EU in ihrem Hinterhof wird nicht anders aussehen. Demokratie und Menschenrechte sind dabei äußerst flexible Begriffe, die ihren Wert eher an der Propagandafront beweisen. Mit deutscher Hilfe werden die Europäer die USA auch auf diesem Feld überflügeln können.

"War is peace, freedom is slavery, ignorance is strength."
George Orwell: 1984

Was machbar ist, ist noch lange nicht legitim, und zur Produktion von Legitimität braucht man die Form von Sprachgewalt, die sich unser neues Regierungspersonal und sein Umfeld auf dem langen Marsch zur bürgerlichen Respektabilität angeeignet haben. Mit der gleichen religiösen Inbrunst, mit dem früher der Kapitalismus und seine negativen Begleiterscheinungen moralisch verdammt wurden, bekommt jetzt der jeweilige Gegner des neuen deutschen Imperialismus eins auf die Mütze. Dabei geht es ohne Faschismus-, Hitler-, KZ-, Massenmord- und Auschwitzvergleichen nicht ab. Wir sind nicht nur wieder wer, nein, wir sind sogar die Guten und können endlich die Geschichte unserer Eltern und Großeltern symbolisch angreifen, ohne Gefahr zu laufen, enterbt zu werden. Auch die antiimperialistische Liebe zu den "nationalen Befreiungsbewegungen" kann in diesem Zusammenhang widerverwertet werden und zeigt ihre Kompatibilität mit den Volkstumsvorstellungen der Rechten und der vom Auswärtigen Amt seit seiner Gründung verfolgten "Spalte und Herrsche" Doktrin. Neben diesen deutschen Besonderheiten kamen im Kosovokrieg die üblichen Kriegslügen hinzu, die Greuelpropaganda (z.B. Racak) und die Standardbehauptung, angefangen hätte ja der Angegriffene (Hufeisenplan).
Man lernt überhaupt so einiges über die Bedeutung von Begriffen hinzu. Während die alte Bundeswehr sich, wenn auch nur zur Verteidigung, doch für den Krieg rüstete, betreibt die neue Bundeswehr präventive Sicherheitspolitik durch "humanitäre Interventionen" oder "friedensschaffende Einsätze". Die NATO nennt sich neuerdings auch gern "Internationale Gemeinschaft". Vielleicht sollte Scharping sein Ministerium passenderweise in Friedensministerium umtaufen.

Das Volk steht stramm

Die militärpolitische Mobilmachung hat auch ihre innenpolitischen Auswirkungen. Im Kosovokrieg zeigte sich, wie bereitwillig sich die Presse im Bewußtsein ihrer nationalen Verantwortung mit der Regierung gleichschaltet. Kritik am Oberkommando ist im Krieg nun mal nicht erlaubt, den "Unsere Soldaten brauchen Rückhalt im Parlament und in der Öffentlichkeit. Dieser Rückhalt könnte durch Debatten geschmälert werden" (Scharping). 6 Später betrauerten die Medien wieder sich selbst - die Wahrheit sei nun mal das erste Opfer eines jeden Krieges. Sie könnte es sein, wenn sie nicht von eben dieser Medienmeute schon lange vorher der kollektiven Kriegsvorbereitung geopfert worden wäre.
Die Aggression nach außen dient der inneren Formierung, auch das ist nichts neues. Aus ihrer ersten Regierungskrise konnte sich Rot-Grün durch den Krieg gegen Serbien retten, das Ansehen von Schröder, Fischer und Scharping beim durchschnittlich autoritär gestrickten Deutschen stieg erheblich. Nicht anders als die dafür stets gescholtene USA betreibt auch die deutsche Regierung militärische Außenpolitik als Reflex der Innenpolitik. Ob es sich nun in irgendeinem abgelegenen Gebiet der Welt nach der "humanitären Intervention" besser leben läßt als vorher - wenn interessiert das schon. Hauptsache, unsere Jungs haben ihren Krieg gewonnen, sind wohlbehalten zurück und müssen sich vor den Nachbarjungs nicht (mehr) verstecken.

Heiko Moshagen, Berlin.

Anmerkungen:

1 Weizsäcker-Kommission, Bericht, S. 54.
2 Verteidigungsministerium, Eckpfeilerpapier, S. 27.
3 Generalinspekteur, Eckwertepapier, S. 6.
4 Zu finden unter www2.pds-online.de/bt/themen/9911/99110501.htm.
5 näher zu den juristischen Aspekten: Kroidl, Forum Recht 2000, S. 49, 50.
6 Laut Gremliza, Mein Kriegs-Tagebuch, S. 187.

Literatur:

Generalinspekteur der Bundeswehr: Eckwerte für die konzeptionelle und planerische Weiterentwicklung der Streitkräfte (Eckwertepapier), 2000.
Gremliza, Hermann: Mein Kriegs-Tagebuch, in ders.: Gegen Deutschland, 2000, 187-196.
Kroidl, Lars: Spannung - Die NATO-Strategie und Europa, in Forum Recht 2000, 49-52.
NATO: Das Strategische Konzept des Bündnisses, Presse-Kommunique vom 24.04.1999.
Verteidigungsministerium: Verteidigungspolitische Richtlinien, 1992.
Verteidigungsministerium: Die Bundeswehr - sicher ins 21. Jahrhundert. Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf (Eckpfeilerpapier), 2000.
Weizsäcker-Kommission: Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr, Bericht der Kommission an die Bundesregierung, 2000.