Heft 3 / 2001:
Datenspuren
Überwachung in der digitalen Welt
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Sebastian Schiek Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zum ersten Artikel des Forums Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Verdrängungsstrategie
Kameraüberwachung auf dem Vormarsch
 

Als Horst Herold, Polizeipräsident von Nürnberg, 1967 die ersten Kameras der Bundesrepublik zur Überwachung öffentlicher Plätze installieren ließ, waren die technischen Möglichkeiten noch unausgereift. Die Erhebung und Auswertung der Bilder war aufwendig und störungsanfällig. Trotzdem sank die Kriminalitätsrate in den folgenden zwei Jahren auf den Plätzen, die im Blickfeld des "Bildfunks" lagen, um 26 Prozent. Die kriminalistische Fachwelt war begeistert und strömte nach Nürnberg. Wenige Jahre später wurde Horst Herold Präsident des Bundeskriminalamtes und die elektronische Überwachung zur Kriminalitätsprävention begann ihren "Siegeszug". 1
Schätzungen sprechen heute von 100.000 Kameras, die von privater, kommunaler oder polizeilicher Seite in Deutschland ihren Dienst tun. 2 Die Kameras in Kaufhäusern, Banken, Bahnhöfen und zuweilen Arbeitsplätzen ergeben ein für die Bürgerinnen und Bürger nicht durchschaubares engmaschiges Überwachungsnetz. 3 In manchen städtischen Zentren kann man daher durchaus von einer flächendeckenden Überwachung sprechen. Durch die Vielzahl unterschiedlicher - privater und öffentlicher - BetreiberInnen ist der Kameraeinsatz insgesamt nicht systematischer Natur, sondern verfolgt eher jeweils bestimmte strategische Ziele der BesitzerInnen. Diese Ziele haben entweder öffentlichen Charakter - z.B. die Beobachtung sogenannter Kriminalitätsschwerpunkte zur Gefahrenabwehr, oder privaten - z.B. den Schutz eines Gebäudes. Ein Austausch findet dabei nicht statt. Erst dort, wo private Sicherheitsunternehmen Videoüberwachung betreiben, kommt es zu einer Schnittstelle zwischen privater und öffentlicher Videoüberwachung, da diese Unternehmen Ihr Material oft - und gerne - an Sicherheitsbehörden weiterreichen. 4

Kein Recht auf informationelle Selbstbestimmung?

Seit Horst Herolds Videoinitiative 1967 kam es immer wieder zum Einsatz von Kameras im Rahmen polizeilicher Fahndung - weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit (und oft ohne Erfolg). Erst als 1996 die Leipziger Stadtverwaltung die Überwachung von Kriminalitätsschwerpunkten medienwirksam ankündigte, kam eine öffentliche Diskussion um das Für und Wider der Videoüberwachung zustande. Eine inzwischen entstandene Datenschutz-Lobby war sensibilisiert durch staatliche Volkszählungsversuche und hatte durch die gleichnamige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den Rücken gestärkt bekommen. Zahlreiche bürgerrechtliche Bedenken wie auch kriminalpolitische Zweifel konnten so artikuliert werden. In dem sogenannten Volkszählungsurteil 5 entwickelte das Bundesverfassungsgericht erstmals das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Im Hinblick auf "künftige Bedingungen der modernen Datenverarbeitung" stellte es fest, dass eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung, in der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß, nicht mit diesem Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu vereinbaren ist. "Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen" 6 .
Genau diese Unsicherheit besteht aber bei der Videoüberwachung von öffentlichen oder privaten Plätzen und Gebäuden. Denn die wenigsten wissen, was hinter den anonymen Kameras passiert. Ob die Daten an Monitore übertragen werden, hinter denen Menschen sitzen, die die Aufnahmen in Echtzeit mitverfolgen, ob sie zusätzlich oder "nur" gespeichert werden - wenn ja wie lange - oder ob die Daten sogar digitalisiert und weiterverarbeitet werden, bleibt für PassantInnen im Dunkeln. Zwar könnte durch Hinweistafeln über die Verwendung des Videomaterials, also z.B. eine eventuelle Speicherung, informiert werden. Das ändert aber nichts daran, dass die Daten zunächst einmal erhoben worden sind. Der/die BürgerIn müsste sich dann selbst um eine Löschung bemühen. Das Beispiel Telefonüberwachung in der Bundesrepublik zeigt jedoch, dass Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden trotz klarer gesetzlicher Regelung einmal erhaltenes Material nur äußerst ungern wieder abgeben. 7

Der kriminalpolitische Nutzen ist zweifelhaft

"Videoüberwachung kann Kriminalität verhindern", sagen ihre BefürworterInnen.
Doch gerade der europäische Schrittmacher in Sachen Videoüberwachung, London, aber auch deutsche Städte, in denen Videoüberwachung bereits praktiziert wird - wie Frankfurt oder Leipzig -, zeigen, dass der präventive Nutzen der Überwachungstechnik äußerst gering und äußerst einseitig ist. Denn die sichtbare Überwachung von sogenannten Kriminalitätsschwerpunkten führt lediglich zu einer Verdrängung potentieller NormbrecherInnen in benachbarte, nicht überwachte Gebiete oder in die sowieso schon "unsichere" urbane Peripherie - und damit zu einer Kriminalitätsverlagerung. Dies ist empirisch überprüfbar, 8 erschließt sich aber auch schon aus theoretischen Überlegungen: Wenn die Taschendiebin oder der Haschischverkäufer sich mit Videokameras konfrontiert sehen und nicht mehr genau wissen, ob sie/er beobachtet werden, so werden beide nicht nach Hause und einer geregelten Arbeit (nach-)gehen (denn hätten sie eine, würden sie dies vermutlich sowieso tun), sondern eine Straße weiter, wo nicht überwacht wird.
Leider ist dieser Verdrängungs-Effekt der Kameraüberwachung für Geschäftsleute und StadtpolitikerInnen schon ausreichend, um an dem Projekt festzuhalten. Der Soziologe Baldo Blinkert 9 sieht das Hauptziel dieser Versuche darin, die Innenstadtbereiche auf technisch effiziente Weise "clean" zu machen und störende Elemente auszusortieren, wie etwa DrogendealerInnen und -konsumentInnen, BettlerInnen, Punks und 'NonkonformistInnen'. Sichergestellt werden solle das reibungslose Konsumieren einer kaufkräftigen Mittelschicht. Damit diese dabei den Spaß nicht verliere, müsse ihr eine saubere Stadt geboten werden.
Dass dies nicht immer so funktioniert, wie gewünscht, zeigt das Beispiel der "Konstabler Wache" in Frankfurt, die lange Zeit als Umschlagsplatz für kleine Mengen von Heroin und Cannabis diente und damit für Frankfurter SicherheitspolitikerInnen einen Kriminalitätsschwerpunkt darstellte, der den dort angesiedelten Einzelhandel schwer beeinträchtigte. Nach der Installation der Kameras wichen die DealerInnen einfach in eine direkt unter der "Konstabler Wache" liegende Ladenpassage aus. Die dort angesiedelten LadenbesitzerInnen beklagen nun den Verdrängungseffekt. 10

Einseitige Sicht von Kriminalität und rassistische Kontrollraster

Videoüberwachung ist nach anderen Instrumenten der Kriminalpolitik (wie z.B. der Schleierfahndung) ein weiteres Anzeichen für die Konzentration auf bestimmte Formen von Kriminalität und ihre einseitige Wahrnehmung. Videoüberwachung richtet sich nicht gegen strategisch handelnde (Wirtschafts-) Kriminelle und GeldwäscherInnen sondern gegen TaschendiebInnen, kriminalisierte DrogenkonsumentInnen und KleindealerInnen. Vor allem in privatisierten Räumen wie Einkaufszentren und Bahnhöfen dient sie auch der Aussortierung von Obdachlosen und sozial Schwachen. Alle vier Gruppen gehören aber gar nicht oder nicht primär in den Zuständigkeitsbereich der Kriminalpolitik, sondern müssen vielmehr einer vernünftigen Gesellschaftspolitik anvertraut werden.
Doch anstatt tatsächliche Ursachen von Kriminalität wahrzunehmen und anzugehen, benutzt die Politik Videoüberwachung auch dazu, die an den Grenzen per Schleierfahndung betriebene Abschottungspolitik in die Innenstädte hineinzutragen: Eine Studie der Universität Hull (Großbritannien) kam zu dem Ergebnis, dass 40 % der (durch Kamera-Zoom) gezielt Beobachteten nicht wegen eines konkreten Anlasses observiert wurden, sondern allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Außerdem dauerten 30% der gezielten Beobachtungen bei Farbigen länger als neun Minuten, während diese Länge der Überwachungen bei Weißen nur 10% ausmachte.
Momentan werden die meisten Überwachungssysteme noch von Menschen "visuell begleitet" und ausgewertet. Eine Aufzeichnung erfolgt in der Regel nur dann, wenn hierfür ein konkreter Anlass besteht. Möglich ist aber auch eine Kurzzeitspeicherung, die nach einer festgelegten Zeit wieder überspielt wird, womit die Entscheidung über eine längerfristige Speicherung herausgezögert wird. 11 Solange aber keine elektronisch-automatisierte Selektion von relevanten Aufnahmen erfolgt, kann man nicht von "Totalkontrolle" sprechen. Denn die Überwachung der Monitore bzw. die Auswertungen der Speicherungen müssen durch Menschen vorgenommen werden, und die Kosten vor allem viel Geld. Äußerst problematisch wird es indes, wenn dieser Arbeitsschritt entfallen und die Überwachung durch kostengünstige Elektronik automatisiert werden kann. Das in der Videoüberwachung liegende totalitäre Potential muss somit nur noch durch die Technik geweckt werden.

Nur ein kleiner Schritt zur Totalkontrolle

Vorgemacht hat dies im Februar diesen Jahres die us-amerikanische Polizei: Bei einem Football-Spiel in Tampa wurden die Gesichter aller 75.000 ZuschauerInnen, die sich in dem Stadion befanden, von 20 Kameras der Firma Grapho Technologies gescannt, von den angeschlossenen Computern digitalisiert und mit einer Datenbank abgeglichen, in der mehrere Tausend digitale Fotos aus Polizei- und Gerichtsakten abgespeichert worden waren - von TaschendiebInnen bis zu TerroristInnen. Der Erfolg: Die Polizei wurde von den Computern auf 19 Personen aufmerksam gemacht, die per Haftbefehl gesucht worden waren. 12 Die Herstellerfirma betonte zwar, dass lediglich ein Abgleich der digitalisierten Daten mit der Verbrecherkartei vorgenommen wurde. ExpertInnen haben jedoch in diesem Zusammenhang erklärt, es wäre problemlos möglich gewesen, die erhobenen Daten aller BesucherInnen des Football-Spieles zu speichern, um sie bei anderen Gelegenheiten für weitere Abgleichungen zu nutzen. 13 Ebenso wie die Gesichtserkennung ist auch die automatisierte Erkennung von Autokennzeichen möglich - und wird bereits im Londoner Bankenviertel praktiziert. 14 Bewegungsbilder einzelner Personen oder automatisch erstellte Verzeichnisse der Personen, die einen bestimmten Ort besucht haben, sind somit technisch problemlos realisierbar, wenn sie mit entsprechenden Datenbanken abgeglichen werden können - im worst case mit der Personalausweisdatei.
Die jetzt in Deutschland geforderte Videoüberwachung von Kriminalitätsschwerpunkten ist im Vergleich zu dieser Art der Strafverfolgung und "Gewaltprävention" noch relativ harmlos. Doch selbst wenn Videoüberwachung in klare gesetzliche Regelungen gegossen werden würde, so bestünde in Verbindung mit den Möglichkeiten der Digitalisierung eine enorm hohe Missbrauchsgefahr.
Die CDU bestreitet momentan noch, sie wolle eine flächendeckende Überwachung. Doch ob diese Haltung beibehalten wird, wenn Kameras einmal installiert sind, ist fraglich. Denn wenn Kriminalität aus den Innenstadtbereichen in Randgebiete verdrängt wird, so stehen die dortigen SicherheitspolitikerInnen unverzüglich vor der Frage, ob sie sich nicht auch mit Kameras helfen. Wo das hinführt, wird schnell klar: So wie die Telefonüberwachung seit der Schaffung ihrer gesetzlichen Grundlage 1968 inzwischen eine Standardmaßnahme geworden ist, könnte auch die Videoüberwachung auf der Dorfstraße und dem städtischen Marktplatz bald ein gewohntes Bild sein.

Sebastian Schiek studiert Politikwissenschaft in Berlin.

Anmerkungen:

1 Dietl 2000, 89 ff.
2 Frankfurter Rundschau (FR) v. 23.02.2001, 5.
3 BDSB-Tätigkeitsbericht, BT-Drs. 14/5555, 21 f.
4 Weichert, CILIP 60, 14.
5 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Bd. 65, 1.
6 BVerfGE 65, 43 f.
7 Wirth, CILIP 56, 26 ff.
8 Weichert, CILIP 60, 17.
9 FR v. 01.08.2000, 5.
10 FR v. 12.02.2001, 13.
11 Weichert, CILIP 60, 16 f.
12 Heise online v. 01.02.2001, http://www.heise.de/newsticker/data/klp-01.02.01-001/.
13 Heise online v. 12.03.2001, http://www.heise.de/newsticker/data/klp-12.03.01-000/.
14 BDSB-Tätigkeitsbericht, BT-Drs. 14/5555, 189 f.

Literatur:

Bundesbeauftragter für den Datenschutz, Tätigkeitsbericht 1999-2000, in: Bundestagsdrucksache 14/5555, 21 ff. (BDSB-Tätigkeitsbericht)
Dietl, Wilhelm, Die BKA-Story, 2000.
Weichert, Thilo, Audio und Videoüberwachung, in: CILIP 60, 12 ff.
Wirth, Antonia, Telefonüberwachung in der Bundesrepublik Deutschland, in: CILIP 56, 26 ff.