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Privatisierung im Sozialrecht - das erinnert sofort an die Rentenreform
mit der Einführung einer kapitalgedeckten, privaten Zusatzvorsorge sowie
die Diskussionen um Pflicht- und Wahlleistungen und mehr Eigenbeteiligung
in der gesetzlichen Krankenversicherung. "Explodierende" Kosten und Veränderungen
der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden zur Begründung der grundlegenden
Veränderungen der sozialen Sicherungssysteme angeführt. Die Privatisierung
sozialer Risiken hat jedoch neben einer erheblichen finanziellen Mehrbelastung
der Privathaushalte eine Verstärkung sozialer Ungleichheiten und Diskriminierungen
zur Folge und bedeutet die Abkehr von mehreren Grundprinzipien des Sozialstaats.
Soziale Sicherheit und Sozialversicherung
Die Grundlagen der Sozialstaatlichkeit in Deutschland leiten sich aus
dem Sozialstaatsprinzip her, das die Gebote der sozialen Sicherheit und
der sozialen Gerechtigkeit enthält. Der Staat ist danach unter anderem
verpflichtet, ein menschenwürdiges Existenzminimum für alle zu ermöglichen,
und die Lebensverhältnisse im obigen Sinne zu gestalten. Kernelement der
sozialen Sicherheit ist dabei die Absicherung existenzieller Risiken wie
Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter oder Erwerbsunfähigkeit durch die Sozialversicherung.
Die Vorteile der Sozialversicherung gegenüber der Privatversicherung sind
dabei vor allem die Möglichkeiten des sozialen Ausgleichs. Privatversicherungen
arbeiten nach dem strengen Äquivalenzprinzip von Leistung und Gegenleistung.
Die Leistungen sind abhängig von den Prämien der VersicherungsnehmerInnen.
Ein Versicherungsschutz für bereits vorhandene Schäden oder Schadensanlagen
bei Vertragsschluss (z.B. Vorerkrankungen) besteht in der Privatversicherung
in der Regel nicht. Demgegenüber gilt in der Sozialversicherung das Prinzip
unbedingten Schutzes, so dass in der gesetzlichen Krankenversicherung
auch Vorerkrankungen abgesichert sind. Die Beiträge werden nach der individuellen
Leistungsfähigkeit bemessen, Familienmitglieder sind bei mangelndem eigenen
Einkommen kostenlos mitversichert. Sozialer Ausgleich zwischen den Versicherten
wird möglich durch die Versicherungspflicht großer Teile der Bevölkerung.
Zentraler Anknüpfungspunkt für die Versicherungspflicht ist das Bestehen
eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses. Die Beiträge zur Sozialversicherung
werden nach dem Bruttoeinkommen berechnet und von ArbeitnehmerInnen und
ArbeitgeberInnen paritätisch finanziert.
Grundsätzlich unterscheiden sich die Leistungen der Sozialversicherung
auch von denen der Sozialhilfe. Bei letzterer werden Leistungen nur subsidiär
erbracht und nur dann, wenn das eigene Einkommen oder das Unterhaltspflichtiger
nicht reicht oder herangezogen werden kann. Da die Sozialversicherung
aber auf dem Versicherungsprinzip beruht, erwerben die Versicherten Anwartschaften
auf die Leistungen. Diese sind auch grundsätzlich nicht von einer Bedürftigkeit
abhängig.
Veränderungen der Ausgangslagen
Die zentralen Säulen der sozialen Sicherungssysteme gehen in ihren Ursprüngen
auf die Bismarckschen Sozialgesetze des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück,
wurden in den 50ern grundlegend weiterentwickelt und bilden seitdem immer
noch das entscheidende Grundgerüst.
Die damals vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Rahmenbedingungen
unterliegen jedoch seit Jahrzehnten grundlegenden Veränderungen. Massenarbeitslosigkeit
und immer weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse
bewirken ein Absinken der Einnahmen der Sozialversicherung. Auf der Ausgabenseite
stellen vor allem der Generaltrend der Überalterung der Gesellschaft (demographischer
Wandel) und medizinischer Fortschritt in Form von neuen Diagnose- und
Behandlungsmethoden Herausforderungen für die Sozialversicherungen dar.
Das Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen erfordert eine Neuausrichtung
auf den Feldern Kindererziehung und Pflege. Eine stärkere Verantwortung
der Gesellschaft für diese Bereiche berührt neben dem eigentlichen Sozialrecht
auch das Familien-, Unterhalts- und Steuerrecht.
Demographischer Wandel und sinkende Einnahmen bildeten den Hauptanlass
für Reformen einzelner Sozialversicherungszweige. Im Ergebnis laufen diese
Reformen auf eine Privatisierung von Risiken hinaus. Dies soll im Folgenden
beispielhaft dargestellt werden.
Rentenversicherung
In Rentenreformen wurde bisher vor allem auf der Ausgabenseite gespart
durch Veränderungen der Anpassungsformel der Rente (was einen schlechteren
Ausgleich der Inflation bedeutete) und Abschläge bei der Rentenhöhe bei
einem früheren Eintritt ins Rentenalter.
Kern der Riesterrentenreform ist das stufenweise Absenken des derzeitigen
Rentenniveaus, das durch eine vom Staat durch Beitragszuschüsse oder Steuervorteile
geförderte betriebliche und private, kapitalgedeckte Altersvorsorge kompensiert
werden soll. Dadurch sind niedrigere Beiträge zur gesetzliche Rentenversicherung
möglich. Durch das Zusammenspiel von gesetzlicher Rentenversicherung (sog.
1. Stufe), betrieblicher Altersvorsorge (2. Stufe) und zusätzlicher privater
Vorsorge (3. Stufe) soll so eine ausreichende Absicherung im Alter erreicht
werden. Obligatorisch sind die 2. und 3. Stufe nicht. Zu bedenken ist
aber, dass in Zukunft ein alleiniges Bauen auf die Alterssicherung durch
die gesetzliche Rentenversicherung oftmals nur zu einer Rente in der Nähe
der Sozialhilfe führt. 1 Die staatliche
Förderung knüpft an eigene Beitragszahlungen der Versicherten an. Bei
der betrieblichen Altersvorsorge ist eine finanzielle Beteiligung des/
der ArbeitgeberIn nicht zwingend, sondern abhängig von der gewählten Form
der Vorsorge.
Die Riesterrentenreform bedeutet den Abschied von mehreren Grundprinzipien
der bisherigen Alterssicherung. Zunächst wird die Aufkündigung der paritätischen
Beitragszahlungen zur Sozialversicherung durch ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen
- wie schon bei Einführung der Pflegeversicherung - weiter fortgeschrieben.
Durch das Absenken der Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung
sinken die Kosten für die ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen gleichermaßen,
die zur Kompensation gedachte eigenständige Zusatzvorsorge finanzieren
die ArbeitnehmerInnen jedenfalls in der 3. Stufe allein (bzw. mit staatlicher
Förderung).
Versicherung gegen Umverteilung
Private Vorsorgeverträge kennen keine Umverteilungskomponenten, da sie
nach dem versicherungsrechtlichen Äquivalenzprinzip arbeiten. Die Folge
hiervon ist, dass Zeiten, in denen nur ein sehr niedriges Einkommen zur
Verfügung steht oder einfach keine Beiträge gezahlt werden können, zu
beitragsfreien Zeiten werden. Bei Arbeitslosigkeit oder Kindererziehung
werden dann zwar nach wie vor Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung
gutgeschrieben, nicht jedoch in der Zusatzvorsorge. Personen mit brüchigen
Erwerbsbiographien (besonders Frauen!) müssen daher starke Einbußen bei
der Rentenhöhe in Kauf nehmen.
Eine weitere Folge des Äquivalenzprinzips ist, dass Frauen aufgrund ihrer
höheren Lebenserwartung für die gleiche Rente bis zu 15 % höhere Beiträge
als Männer zahlen müssen. 2 Im Gesetzgebungsverfahren
wurde abgelehnt, die Zertifizierung der staatlich förderungsfähigen Vorsorgeverträge
daran zu knüpfen, dass sogenannte Unisex-Tarife für sie angeboten werden.
Die offizielle Begründung: Männer würden diese Produkte dann nicht mehr
wählen, was reine "Frauenfonds" zur Folge hätte. 3
Das dies haarsträubend ist, zeigt zum einen die detaillierte Regelung
in der Pflegeversicherung über Mindestanforderungen an private Pflegeversicherungsverträge,
wo geschlechtsdifferenzierende Tarife gerade verboten werden.
4 Zum anderen kann es ja wohl nicht sein, dass durch
Auslagerung der Alterssicherung aus der gesetzlichen Rentenversicherung
(die private Zusatzvorsorge ersetzt diese ja z.T.) frauendiskriminierende
Tatbestände eingeführt werden und dies auch noch staatlich subventioniert
wird.
Fraglich ist ferner, ob Geringverdienende die private Zusatzvorsorge überhaupt
abschließen. Da keine Pflicht besteht, die für die gesetzliche Rentenversicherung
gesparten Beiträge in eine private Absicherung zu stecken, liegt die Vermutung
nahe, dass GeringverdienerInnen vor diesen zusätzlichen Ausgaben zurückschrecken,
mit der Folge, dass sich gerade hier das Absinken des Rentenniveaus stark
bemerkbar machen wird. Angaben von privaten Versicherungsunternehmen,
dass sich ihre Riesterprodukte bisher als Flop erwiesen haben
5, bestärken die Befürchtung, dass nicht eben viele
diese neue "Möglichkeit" nutzen.
Überlegenes Kapitaldeckungsverfahren?
Ein grundsätzlicher Kritikpunkt an der Einführung der privaten Zusatzvorsorge,
die auf dem Kapitaldeckungsverfahren basiert, ist ferner, dass die an
sie geknüpften Erwartungen auf einem zu großen Vertrauen in den Markt
basieren. Kapitaldeckungsverfahren bedeutet, dass die Rente durch selbst
angespartes Kapital finanziert wird. Die gesetzliche Rentenversicherung
funktioniert nach dem Umlageverfahren, bei dem die Renten eines Jahres
durch die Beitragszahlungen desselben Jahres finanziert werden. Das Risiko
des Kapitaldeckungsverfahren besteht darin, dass die erwarteten Renditen
bei der Kapitalbildung nicht erreicht werden. Die geschichtliche Entwicklung
der Alterssicherung zeigt, dass Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren sich
mehrmals abwechselten. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit Weltwirtschaftskrisen
und Hyperinflationen wurde in den 50ern wieder auf das Umlageverfahren
zurückgegriffen, da nur so eine Stabilität und verlässliche Alterssicherung
im Sinne einer Lebensstandardsicherung garantierbar schien.
6 Die nach der Riesterreform staatlich förderbaren Anlageformen
müssen demgegenüber nur eine Nominalwertzusage enthalten, was dazu führen
kann, dass die Ersparnisse massiv entwertet werden, wenn die Renditen
hinter den Erwartungen zurückbleiben. Kritisiert wird ferner, dass das
neu angelegte Kapital dazu beiträgt, das internationale Spekulationskarussel
weiter anzuheizen.
Die aufgezeigten Nachteile der privaten Zusatzvorsorge gelten in weniger
starkem Maße für die betriebliche Vorsorge. 7
Allerdings können auch die positiven Aspekte der Stärkung der betrieblichen
Altersvorsorge nicht darüber hinwegtrösten, dass eine Verlagerung der
Verantwortung für die Alterssicherung auf die Privathaushalte stattgefunden
hat. Für viele droht diese Privatisierung zum Armutsrisiko zu werden.
Eine Sicherheit, dass durch die freiwillige Zusatzvorsorge die Kürzungen
des Leistungsniveaus kompensiert werden, besteht nicht. Von den Beitragssenkungen
profitieren letztlich nur die Unternehmen. Darüber hinaus tragen die Änderungen
dazu bei, soziale Ungleichheiten zu verstärken. Ob das Ziel, die Alterssicherung
auf eine robustere Basis zu stellen, erreicht werden kann, ist aufgrund
der Risiken des Kapitaldeckungsverfahrens sehr fragwürdig.
Krankenversicherung
In der Krankenversicherung tritt Privatisierung durch die Rückverlagerung
des Krankheitsrisikos auf die/ den EinzelneN durch Kürzungen von Leistungen
(Zahnersatz, Nichtübernahme der Kosten für sogenannte Bagatellarzneimittel,
schrittweises Auslaufen des Sterbegeldes) und höhere Selbstbeteiligungen
(Medikamente, Hilfsmittel) auf.
Besonders höhere Eigenbeteiligungen an den Kosten für einzelne Leistungen
drohen dabei zu dem Mittel für Einsparungen zu werden. Auch wenn die Bundesgesundheitsministerin
derzeit keine Aufsplittung in Pflicht- und Wahlleistungen oder höhere
Selbstbeteiligungen plant 8, lassen
doch die nicht abreißenden Diskussionen in allen Parteien gewisse Zweifel
an dieser Aussage aufkommen. Die Vorschläge reichen von einem Einfrieren
des Beitragsanteils der ArbeitgeberInnen zur Krankenversicherung, über
die Wahlmöglichkeit von Eigenbeteiligungen an Leistungen bei gleichzeitigem
Absenken des individuellen Versicherungsbeitrages bis zu der radikalen
Zusammenstreichung dessen, was für alle als medizinische Grundversorgung
gewährleistet werden soll.
Aufgrund der Eigenbeteiligungen muss schon jetzt ein Teil der Kosten für
die Gesundheit wieder privat getragen werden, was chronisch Kranke und
Personen mit kleineren Einkommen überdurchschnittlich trifft. Die Befreiungsmöglichkeiten
von den Zuzahlungen sind z.T. mit hohem Verwaltungsaufwand verbunden,
weil Kostenbelege aufgehoben werden müssen, so dass sie praktisch ineffektiv
bleiben. 9 Durch Selbstbeteiligungen
werden also Kosten auf Versicherte verlagert und zudem schleichend der
Abbau der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung vorangetrieben.
Die Idee, dass es möglich sein soll, nur noch eine medizinische Grundversorgung
gegen niedrigere Beiträge zu wählen und Wahlleistungen weitgehend und
nur im Bedarfsfall selbst zu zahlen, hätte eine Umverteilung von Kosten
von den Gesunden zu den Kranken zur Folge. Denn für die Minimalversorgung
entscheidet sich tendenziell nur jemand, die oder der damit rechnet, die
selbst zu finanzierenden Wahlleistungen nicht auszuschöpfen. Das Propagieren
einer Wahlmöglichkeit ist zudem gegenüber Einkommensschwachen recht zynisch.
Die geschilderten Versuche, die Ausgaben der Krankenversicherung zu senken,
bleiben letztlich ohne Effekt, da sämtliche Einsparungen z.B. von steigenden
Medikamentenpreisen aufgezehrt werden. Die Pharmaindustrie rechnet auch
in diesem Jahr mit hohen Renditen. 10
Im Ergebnis erreichen die geschilderten und geplanten Maßnahmen also lediglich
die Verlagerung der Kosten auf die Privathaushalte.
Pflegeversicherung
Die Pflegeversicherung ist in ihrer Ausgestaltung als Sozialversicherung
im Grunde purer Etikettenschwindel, da sie de facto von den ArbeitnehmerInnen
alleine finanziert wird. Bei ihrer Einführung wurde der Buß- und Bettag
als gesetzlicher Feiertag gestrichen, so dass die jetzt von den ArbeitgeberInnen
entrichteten hälftigen Beiträge hierdurch kompensiert werden. Auch wenn
die ArbeitnehmerInnen die Pflegeversicherung also schon jetzt allein finanzieren,
drohen weitere Kosten in Form von Beitragserhöhungen oder durch Einführung
einer privaten Zusatzvorsorge 11,
da die Pflegeversicherung die Kosten langfristig wohl nicht decken kann.
Positiv an der Ausgestaltung der Pflegeversicherung als Sozialversicherung
ist allerdings, dass nun Umverteilungselemente vorhanden sind und die
gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Pflege zum ersten Mal betont
wird. Zuvor war sie eine rein private Aufgabe und blieb nicht zuletzt
aufgrund der Subsidiarität der Sozialhilfe an Verwandten und hier in der
Regel den Frauen hängen.
"Kostenexplosion" und grundsätzliche Tendenzen
Die Bereiche der Kostenverlagerung auf die Privathaushalte und die Privatisierung
von Risiken lassen sich beliebig ergänzen. Schon lange ist z.B. das BAföG
keine wirklich angemessene Studienfinanzierungsmöglichkeit mehr. Über
die geänderte Berechnung des notwendigen Bedarfs wurde der Sozialhilferegelsatz,
über eine Begrenzung der berücksichtigungsfähigen Miete das Wohngeld gekürzt.
Derzeit hat die Diskussion um Einsparmöglichkeiten bei Arbeitslosengeld
und -hilfe Hochkonjunktur.
An diesen Beispielen sind die grundsätzlichen Tendenzen beim Umbau des
Sozialstaates deutlich geworden. Diese bestehen in einer neuen Betonung
der "Subsidiarität" sozialstaatlicher Leistungen bei gleichzeitiger Stärkung
des Versicherungsprinzips und damit Schwächung des Umverteilungsgedankens.
Begleitet wird dies von einem Ausbau privater Sicherungsformen, was vor
allem die Steigerung privater Ausgaben für die soziale Sicherung zur Konsequenz
hat und sich damit überdurchschnittlich zu Lasten der weniger Leistungsfähigen
auswirkt.
Die Entwicklungen werden flankiert von Mechanismen, die insgesamt darauf
zielen, diese zu legitimieren und eine grundsätzliche Kritik am Abbau
des Sozialstaats zu erschweren.
Zu nennen ist hier vor allem der öffentliche Entwertungsdiskurs, der eine
politische Demontage der solidarischen sozialen Sicherungssysteme erst
ermöglicht hat. In erster Linie wird die weitere Finanzierbarkeit in Frage
gestellt. Es ist von einer Kostenexplosion die Rede. Diese Diagnose ist
allerdings mit Vorsicht zu genießen. Aussagen über die Kosten des Sozialstaats
lassen sich mit der Sozialleistungsquote treffen, die der Anteil des Sozialbudgets
am Bruttoinlandsprodukt ist. Hiermit wird der Anteil der Wirtschaftskraft
gemessen, der für soziale Ziele aufgewandt wird. Das Sozialbudget umfasst
daher weit mehr als nur die Ausgaben für die Sozialversicherungen. An
der Finanzierung des Sozialbudgets sind Unternehmen, Staat und private
Haushalte beteiligt. 12
Die Sozialleistungsquote liegt seit den letzten fünf Jahren immer ungefähr
bei 32 %, die Schätzung für 2001 beträgt 32,1 %. 13
Auch in den 25 Jahren davor war sie keinen großen Schwankungen unterworfen.
14 Das bedeutet, dass sich gemessen
an der Wirtschaftskraft die Ausgaben für Soziales insgesamt nicht nennenswert
erhöht haben. Von einer "Explosion" kann daher nicht die Rede sein. Der
Blick auf die Finanzierungsverteilung zwischen Unternehmen, Staat und
Privaten ist jedoch interessant. Hiernach ist vor allem der Anteil der
Unternehmen an den Kosten gesunken, während er bei den Privaten ungefähr
gleich blieb. 15 Allerdings ist zu
berücksichtigen, dass die Gesamtbelastung der Privathaushalte höher ist,
da im Sozialbericht im wesentlichen nur die Beitragszahlungen an die Sozialversicherungen
erfasst, indirekte Belastungen durch Selbstbeteiligungen etc. aber gerade
nicht berücksichtigt werden. Das zeigt noch einmal, dass im Ergebnis die
Reformen vor allem zu einer Kostenverlagerung und insgesamt nicht zu einer
Kostensenkung geführt haben.
Die Unternehmen profitieren allerdings von den vorgenommenen Veränderungen.
Das dies wiederum kaum zu beschäftigungswirksamen Investitionen führen
wird, hat die Vergangenheit immer wieder überdeutlich gezeigt. Ein direkter
Zusammenhang zwischen sinkendem Sozialbudget und steigenden Investitionen
besteht jedenfalls nicht. 16 Die Gründe
für fehlende Investitionen sind offensichtlich auch woanders zu suchen.
Der aktivierende Staat
Der Entwertungsdiskurs stellt ferner die Anpassungsfähigkeit der Sicherungssysteme
an den demographischen Wandel in Frage und wirft ihnen das Setzen falscher
Anreize, ein Einschnüren der wirtschaftlichen Dynamik und Globalisierung
sowie mangelnde Rentabilität vor. Hierbei werden allerdings fehlerhafte
Vergleiche vorgenommen, da häufig die Chancen und Risiken verschiedener
Sicherungssysteme in idealen und realen Situationen miteinander verglichen
werden, ohne wirtschaftliche Rahmenbedingungen (Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum)
angemessen zu berücksichtigen. 17
Dabei ist nicht feststellbar, ob z.B. das Kapitaldeckungsverfahren in
der Rentenversicherung besser auf diese Veränderungen reagiert. 18
Der Diskurs hat aber bewirkt, dass seine Prämissen nicht mehr hinterfragt
werden und so der Diskurs Realität wurde. 19
Ein anderer Aspekt ist, dass sich das Bild vom traditionellen Sozialstaat
wandelt und der Staat heute von vielen als "aktivierender" verstanden
wird. Dieser ist durch das Motto des "Förderns und Forderns" geprägt.
20 "Eigenverantwortung" wird gestärkt, Zumutbarkeitskriterien
werden verschärft (z.B. gibt es kaum noch Berufs- bzw. Qualifikationsschutz
in der Arbeitslosenversicherung oder beim Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente)
und Mitwirkungspflichten werden ausgebaut. 21
Dahinter verbirgt sich ein Mehr an sozialer Kontrolle und Auslese verbunden
mit einer unterschwelligen Verurteilung individualistischen Anspruchsdenkens.
22
Insgesamt ist eine Abkehr von den grundsätzlichen Elementen des Sozialstaatsprinzips
feststellbar. Ungleichheiten werden zementiert, das Ziel der sozialen
Sicherheit im Sinne von kalkulierbarer Rechtssicherheit wird Schritt für
Schritt aufgegeben.
Alternativen?
Auch wenn nach dem bisher Gesagten klar wird, dass Privatisierung im
Sozialbereich bestehende Probleme eher verschärft als löst, wäre ein Festhalten
am bisher oder vorher Bestehenden wenig überzeugend.
Das Problem ist, dass das System noch nie perfekt war. Ein Suchen nach
grundsätzlichen Alternativen muss in den Vordergrund treten, sollen langfristig
die Ziele der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit tatsächlich in die
Realität umgesetzt werden.
Zum einen hat das bestehende Sozialversicherungssystem Grenzen. Sozialversicherungsverhältnisse
sind in aller Regel an das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses
gekoppelt. Das größte Problem hieran ist also, dass Schwankungen auf dem
Arbeitsmarkt sich im Bereich der Sozialversicherung negativ auswirken.
Die Kopplung an abhängige Beschäftigung bewirkt außerdem, dass Ausgrenzungen
derjenigen stattfinden, die in unsteter Beschäftigung stehen oder noch
keine Möglichkeit hatten zu arbeiten. Da es kein System der Grundsicherung
(wie beispielsweise in der Schweiz) gibt, verschärft die Sozialversicherung
die soziale Deklassierung und die Verfestigung der Chancenlosigkeit der
"Outsider".
Das Prinzip der Lebensstandardsicherung bevorteilt z.B. in der Rentenversicherung
diejenigen, denen es schon während ihres Erwerbslebens finanziell gut
ging, da die spätere Rente abhängig von der Dauer der Beschäftigung und
der Höhe des durchschnittlichen Einkommens ist. 23
Das Sozialversicherungssystem ist zudem einseitig an der männlichen Normalerwerbsbiographie
orientiert. Um Belangen von Frauen wirklich gerecht zu werden, wäre eine
Radikalreform nötig. 24
Die Sozialversicherung nimmt zwar soziale Umverteilung vor (durch Ausgleich
für Kindererziehung etc.), allerdings nur zwischen den Versicherten. Beamte
und Selbständige sind nicht in das System einbezogen und tragen so auch
nichts zu seiner Finanzierung bei. Vonnöten ist daher ein Einbeziehen
bisher nicht Versicherter in die Sozialversicherung, ein Abschaffen der
Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen und das Berücksichtigen
von Vermögenserträgen bei der Berechnung der Beitragslast.
Nicht zu vergessen ist schließlich, dass alle noch so guten Ansätze im
Bereich des Sozialrechts durch ein ungerechtes Steuersystem konterkariert
würden. Auch hier ist eine grundlegende Umgestaltung, die an sozialstaatlichen
Zielen orientiert ist, mehr als notwendig.
Claudia Perlitius hat Jura in Berlin studiert.
Fußnoten:
1 Schmähl, Winfried, Auf dem Weg zur
nächsten Rentenreform in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,
B 35-36/ 2000, 14.
2 Veil, Mechthild, Die Riester-Rente:
Geschlechterspezifische Wirkungen der privaten und der betrieblichen Vorsorge,
in: WSI-Mitteilungen 2002, 93.
3 Frankfurter Rundschau (FR)
v. 04. 05. 2002, 9.
4 Vgl. § 110 Abs. 1 und Abs. 3 Sozialgesetzbuch
(SGB) XI.
5 FR v. 19. 04. 2002.
6 Tennstedt, Florian, Private Vorsorge
und sozialstaatliche Intervention - Ein Rückblick auf die historischen
Diskussionen zur Begründung des deutschen Sozialstaats, in: WSI-Mitteilungen
2001, 482.
7 Veil, a.a.O., 95
8 FR v. 11. 04. 2002, 9.
9 Bieback, Armer Rechtsstaat 2000, 46.
10 Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 18. 12. 2001, 15.
11 FR v. 18. 04. 2002.
12 Sozialbericht der Bundesregierung
2001, 370 ff.
13 Sozialbericht der Bundesregierung
2001, 387; Trube/ Wohlfahrt, WSI-Mitteilungen 2001, 32.
14 Bieback, Armer Rechtsstaat 2000,
30.
15 Sozialbericht der Bundesregierung
2001, 473.
16 Sitte, Ralf, Wohin führt ein "Umbau"
des Sozialstaates?, in: WSI-Mitteilungen 1998, 715.
17 Hengsbach, Friedhelm, Solidarität
im Sturzflug? Eine sozialethische Reflexion, in: WSI-Mitteilungen
2001, 472.
18 Krupp, Hans-Jürgen, Ist das Kapitaldeckungsverfahren
in der Alterssicherung dem Umlageverfahren überlegen?, in: WSI-Mitteilungen
1997, 294.
19 Hengsbach, a.a.O., 472.
20 FR v. 26. 04. 2002; Trube/
Wohlfahrt, WSI-Mitteilungen 2001, 27 ff.
21 vgl. § 2 Abs. 2 und 3 SGB III.
22 Trube/ Wohlfahrt, WSI-Mitteilungen
2001, 27 ff.
23 Bieback, Forum Recht (FoR)
2001, 51.
24 Scheiwe, Kirsten, Geht die Gleichstellungspolitik
im "Regelgestrüpp" des Arbeits- und Sozialrechts unter?, in: Streit
2000, 151; Bieback, FoR 2001, 48 ff.
Literatur:
Karin Bieback, Strafe für ein langes Leben und Kinder?, in: Forum
Recht 2001, 48 - 51.
Karl-Jürgen Bieback, 25 Jahre Umbau des Sozialleistungssystems
- eine Bilanz, in: Rottleuthner, Hubert (Hrsg.), Armer Rechtsstaat, Schriften
der Vereinigung für Rechtssoziologie, Band 26, Baden-Baden 2000.
Trube, Achim/ Wohlfahrt, Norbert, "Der aktivierende Sozialstaat"
- Sozialpolitik zwischen Individualisierung und einer neuen politischen
Ökonomie der inneren Sicherheit, in: WSI-Mitteilungen 2001, 27 - 35.
Sozialbericht der Bundesregierung 2001, www.bma.de.
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