Heft 3 / 2002:
Auf eigenes Risiko
Folgen der Privatisierung
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Claudia Perlitius Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zum ersten Artikel des Forums Zur Rubrik Ausbildung Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Frage nicht, was der Staat für dich tun kann
Soziale Sicherheit wird zum Privatproblem
 

Privatisierung im Sozialrecht - das erinnert sofort an die Rentenreform mit der Einführung einer kapitalgedeckten, privaten Zusatzvorsorge sowie die Diskussionen um Pflicht- und Wahlleistungen und mehr Eigenbeteiligung in der gesetzlichen Krankenversicherung. "Explodierende" Kosten und Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden zur Begründung der grundlegenden Veränderungen der sozialen Sicherungssysteme angeführt. Die Privatisierung sozialer Risiken hat jedoch neben einer erheblichen finanziellen Mehrbelastung der Privathaushalte eine Verstärkung sozialer Ungleichheiten und Diskriminierungen zur Folge und bedeutet die Abkehr von mehreren Grundprinzipien des Sozialstaats.

Soziale Sicherheit und Sozialversicherung

Die Grundlagen der Sozialstaatlichkeit in Deutschland leiten sich aus dem Sozialstaatsprinzip her, das die Gebote der sozialen Sicherheit und der sozialen Gerechtigkeit enthält. Der Staat ist danach unter anderem verpflichtet, ein menschenwürdiges Existenzminimum für alle zu ermöglichen, und die Lebensverhältnisse im obigen Sinne zu gestalten. Kernelement der sozialen Sicherheit ist dabei die Absicherung existenzieller Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter oder Erwerbsunfähigkeit durch die Sozialversicherung.
Die Vorteile der Sozialversicherung gegenüber der Privatversicherung sind dabei vor allem die Möglichkeiten des sozialen Ausgleichs. Privatversicherungen arbeiten nach dem strengen Äquivalenzprinzip von Leistung und Gegenleistung. Die Leistungen sind abhängig von den Prämien der VersicherungsnehmerInnen. Ein Versicherungsschutz für bereits vorhandene Schäden oder Schadensanlagen bei Vertragsschluss (z.B. Vorerkrankungen) besteht in der Privatversicherung in der Regel nicht. Demgegenüber gilt in der Sozialversicherung das Prinzip unbedingten Schutzes, so dass in der gesetzlichen Krankenversicherung auch Vorerkrankungen abgesichert sind. Die Beiträge werden nach der individuellen Leistungsfähigkeit bemessen, Familienmitglieder sind bei mangelndem eigenen Einkommen kostenlos mitversichert. Sozialer Ausgleich zwischen den Versicherten wird möglich durch die Versicherungspflicht großer Teile der Bevölkerung.
Zentraler Anknüpfungspunkt für die Versicherungspflicht ist das Bestehen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses. Die Beiträge zur Sozialversicherung werden nach dem Bruttoeinkommen berechnet und von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen paritätisch finanziert.
Grundsätzlich unterscheiden sich die Leistungen der Sozialversicherung auch von denen der Sozialhilfe. Bei letzterer werden Leistungen nur subsidiär erbracht und nur dann, wenn das eigene Einkommen oder das Unterhaltspflichtiger nicht reicht oder herangezogen werden kann. Da die Sozialversicherung aber auf dem Versicherungsprinzip beruht, erwerben die Versicherten Anwartschaften auf die Leistungen. Diese sind auch grundsätzlich nicht von einer Bedürftigkeit abhängig.

Veränderungen der Ausgangslagen

Die zentralen Säulen der sozialen Sicherungssysteme gehen in ihren Ursprüngen auf die Bismarckschen Sozialgesetze des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück, wurden in den 50ern grundlegend weiterentwickelt und bilden seitdem immer noch das entscheidende Grundgerüst.
Die damals vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Rahmenbedingungen unterliegen jedoch seit Jahrzehnten grundlegenden Veränderungen. Massenarbeitslosigkeit und immer weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse bewirken ein Absinken der Einnahmen der Sozialversicherung. Auf der Ausgabenseite stellen vor allem der Generaltrend der Überalterung der Gesellschaft (demographischer Wandel) und medizinischer Fortschritt in Form von neuen Diagnose- und Behandlungsmethoden Herausforderungen für die Sozialversicherungen dar.
Das Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen erfordert eine Neuausrichtung auf den Feldern Kindererziehung und Pflege. Eine stärkere Verantwortung der Gesellschaft für diese Bereiche berührt neben dem eigentlichen Sozialrecht auch das Familien-, Unterhalts- und Steuerrecht.
Demographischer Wandel und sinkende Einnahmen bildeten den Hauptanlass für Reformen einzelner Sozialversicherungszweige. Im Ergebnis laufen diese Reformen auf eine Privatisierung von Risiken hinaus. Dies soll im Folgenden beispielhaft dargestellt werden.

Rentenversicherung

In Rentenreformen wurde bisher vor allem auf der Ausgabenseite gespart durch Veränderungen der Anpassungsformel der Rente (was einen schlechteren Ausgleich der Inflation bedeutete) und Abschläge bei der Rentenhöhe bei einem früheren Eintritt ins Rentenalter.
Kern der Riesterrentenreform ist das stufenweise Absenken des derzeitigen Rentenniveaus, das durch eine vom Staat durch Beitragszuschüsse oder Steuervorteile geförderte betriebliche und private, kapitalgedeckte Altersvorsorge kompensiert werden soll. Dadurch sind niedrigere Beiträge zur gesetzliche Rentenversicherung möglich. Durch das Zusammenspiel von gesetzlicher Rentenversicherung (sog. 1. Stufe), betrieblicher Altersvorsorge (2. Stufe) und zusätzlicher privater Vorsorge (3. Stufe) soll so eine ausreichende Absicherung im Alter erreicht werden. Obligatorisch sind die 2. und 3. Stufe nicht. Zu bedenken ist aber, dass in Zukunft ein alleiniges Bauen auf die Alterssicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung oftmals nur zu einer Rente in der Nähe der Sozialhilfe führt. 1 Die staatliche Förderung knüpft an eigene Beitragszahlungen der Versicherten an. Bei der betrieblichen Altersvorsorge ist eine finanzielle Beteiligung des/ der ArbeitgeberIn nicht zwingend, sondern abhängig von der gewählten Form der Vorsorge.
Die Riesterrentenreform bedeutet den Abschied von mehreren Grundprinzipien der bisherigen Alterssicherung. Zunächst wird die Aufkündigung der paritätischen Beitragszahlungen zur Sozialversicherung durch ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen - wie schon bei Einführung der Pflegeversicherung - weiter fortgeschrieben. Durch das Absenken der Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung sinken die Kosten für die ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen gleichermaßen, die zur Kompensation gedachte eigenständige Zusatzvorsorge finanzieren die ArbeitnehmerInnen jedenfalls in der 3. Stufe allein (bzw. mit staatlicher Förderung).

Versicherung gegen Umverteilung

Private Vorsorgeverträge kennen keine Umverteilungskomponenten, da sie nach dem versicherungsrechtlichen Äquivalenzprinzip arbeiten. Die Folge hiervon ist, dass Zeiten, in denen nur ein sehr niedriges Einkommen zur Verfügung steht oder einfach keine Beiträge gezahlt werden können, zu beitragsfreien Zeiten werden. Bei Arbeitslosigkeit oder Kindererziehung werden dann zwar nach wie vor Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung gutgeschrieben, nicht jedoch in der Zusatzvorsorge. Personen mit brüchigen Erwerbsbiographien (besonders Frauen!) müssen daher starke Einbußen bei der Rentenhöhe in Kauf nehmen.
Eine weitere Folge des Äquivalenzprinzips ist, dass Frauen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung für die gleiche Rente bis zu 15 % höhere Beiträge als Männer zahlen müssen. 2 Im Gesetzgebungsverfahren wurde abgelehnt, die Zertifizierung der staatlich förderungsfähigen Vorsorgeverträge daran zu knüpfen, dass sogenannte Unisex-Tarife für sie angeboten werden. Die offizielle Begründung: Männer würden diese Produkte dann nicht mehr wählen, was reine "Frauenfonds" zur Folge hätte. 3 Das dies haarsträubend ist, zeigt zum einen die detaillierte Regelung in der Pflegeversicherung über Mindestanforderungen an private Pflegeversicherungsverträge, wo geschlechtsdifferenzierende Tarife gerade verboten werden. 4 Zum anderen kann es ja wohl nicht sein, dass durch Auslagerung der Alterssicherung aus der gesetzlichen Rentenversicherung (die private Zusatzvorsorge ersetzt diese ja z.T.) frauendiskriminierende Tatbestände eingeführt werden und dies auch noch staatlich subventioniert wird.
Fraglich ist ferner, ob Geringverdienende die private Zusatzvorsorge überhaupt abschließen. Da keine Pflicht besteht, die für die gesetzliche Rentenversicherung gesparten Beiträge in eine private Absicherung zu stecken, liegt die Vermutung nahe, dass GeringverdienerInnen vor diesen zusätzlichen Ausgaben zurückschrecken, mit der Folge, dass sich gerade hier das Absinken des Rentenniveaus stark bemerkbar machen wird. Angaben von privaten Versicherungsunternehmen, dass sich ihre Riesterprodukte bisher als Flop erwiesen haben 5, bestärken die Befürchtung, dass nicht eben viele diese neue "Möglichkeit" nutzen.

Überlegenes Kapitaldeckungsverfahren?

Ein grundsätzlicher Kritikpunkt an der Einführung der privaten Zusatzvorsorge, die auf dem Kapitaldeckungsverfahren basiert, ist ferner, dass die an sie geknüpften Erwartungen auf einem zu großen Vertrauen in den Markt basieren. Kapitaldeckungsverfahren bedeutet, dass die Rente durch selbst angespartes Kapital finanziert wird. Die gesetzliche Rentenversicherung funktioniert nach dem Umlageverfahren, bei dem die Renten eines Jahres durch die Beitragszahlungen desselben Jahres finanziert werden. Das Risiko des Kapitaldeckungsverfahren besteht darin, dass die erwarteten Renditen bei der Kapitalbildung nicht erreicht werden. Die geschichtliche Entwicklung der Alterssicherung zeigt, dass Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren sich mehrmals abwechselten. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit Weltwirtschaftskrisen und Hyperinflationen wurde in den 50ern wieder auf das Umlageverfahren zurückgegriffen, da nur so eine Stabilität und verlässliche Alterssicherung im Sinne einer Lebensstandardsicherung garantierbar schien. 6 Die nach der Riesterreform staatlich förderbaren Anlageformen müssen demgegenüber nur eine Nominalwertzusage enthalten, was dazu führen kann, dass die Ersparnisse massiv entwertet werden, wenn die Renditen hinter den Erwartungen zurückbleiben. Kritisiert wird ferner, dass das neu angelegte Kapital dazu beiträgt, das internationale Spekulationskarussel weiter anzuheizen.
Die aufgezeigten Nachteile der privaten Zusatzvorsorge gelten in weniger starkem Maße für die betriebliche Vorsorge. 7 Allerdings können auch die positiven Aspekte der Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge nicht darüber hinwegtrösten, dass eine Verlagerung der Verantwortung für die Alterssicherung auf die Privathaushalte stattgefunden hat. Für viele droht diese Privatisierung zum Armutsrisiko zu werden. Eine Sicherheit, dass durch die freiwillige Zusatzvorsorge die Kürzungen des Leistungsniveaus kompensiert werden, besteht nicht. Von den Beitragssenkungen profitieren letztlich nur die Unternehmen. Darüber hinaus tragen die Änderungen dazu bei, soziale Ungleichheiten zu verstärken. Ob das Ziel, die Alterssicherung auf eine robustere Basis zu stellen, erreicht werden kann, ist aufgrund der Risiken des Kapitaldeckungsverfahrens sehr fragwürdig.

Krankenversicherung

In der Krankenversicherung tritt Privatisierung durch die Rückverlagerung des Krankheitsrisikos auf die/ den EinzelneN durch Kürzungen von Leistungen (Zahnersatz, Nichtübernahme der Kosten für sogenannte Bagatellarzneimittel, schrittweises Auslaufen des Sterbegeldes) und höhere Selbstbeteiligungen (Medikamente, Hilfsmittel) auf.
Besonders höhere Eigenbeteiligungen an den Kosten für einzelne Leistungen drohen dabei zu dem Mittel für Einsparungen zu werden. Auch wenn die Bundesgesundheitsministerin derzeit keine Aufsplittung in Pflicht- und Wahlleistungen oder höhere Selbstbeteiligungen plant 8, lassen doch die nicht abreißenden Diskussionen in allen Parteien gewisse Zweifel an dieser Aussage aufkommen. Die Vorschläge reichen von einem Einfrieren des Beitragsanteils der ArbeitgeberInnen zur Krankenversicherung, über die Wahlmöglichkeit von Eigenbeteiligungen an Leistungen bei gleichzeitigem Absenken des individuellen Versicherungsbeitrages bis zu der radikalen Zusammenstreichung dessen, was für alle als medizinische Grundversorgung gewährleistet werden soll.
Aufgrund der Eigenbeteiligungen muss schon jetzt ein Teil der Kosten für die Gesundheit wieder privat getragen werden, was chronisch Kranke und Personen mit kleineren Einkommen überdurchschnittlich trifft. Die Befreiungsmöglichkeiten von den Zuzahlungen sind z.T. mit hohem Verwaltungsaufwand verbunden, weil Kostenbelege aufgehoben werden müssen, so dass sie praktisch ineffektiv bleiben. 9 Durch Selbstbeteiligungen werden also Kosten auf Versicherte verlagert und zudem schleichend der Abbau der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung vorangetrieben.
Die Idee, dass es möglich sein soll, nur noch eine medizinische Grundversorgung gegen niedrigere Beiträge zu wählen und Wahlleistungen weitgehend und nur im Bedarfsfall selbst zu zahlen, hätte eine Umverteilung von Kosten von den Gesunden zu den Kranken zur Folge. Denn für die Minimalversorgung entscheidet sich tendenziell nur jemand, die oder der damit rechnet, die selbst zu finanzierenden Wahlleistungen nicht auszuschöpfen. Das Propagieren einer Wahlmöglichkeit ist zudem gegenüber Einkommensschwachen recht zynisch.
Die geschilderten Versuche, die Ausgaben der Krankenversicherung zu senken, bleiben letztlich ohne Effekt, da sämtliche Einsparungen z.B. von steigenden Medikamentenpreisen aufgezehrt werden. Die Pharmaindustrie rechnet auch in diesem Jahr mit hohen Renditen. 10 Im Ergebnis erreichen die geschilderten und geplanten Maßnahmen also lediglich die Verlagerung der Kosten auf die Privathaushalte.

Pflegeversicherung

Die Pflegeversicherung ist in ihrer Ausgestaltung als Sozialversicherung im Grunde purer Etikettenschwindel, da sie de facto von den ArbeitnehmerInnen alleine finanziert wird. Bei ihrer Einführung wurde der Buß- und Bettag als gesetzlicher Feiertag gestrichen, so dass die jetzt von den ArbeitgeberInnen entrichteten hälftigen Beiträge hierdurch kompensiert werden. Auch wenn die ArbeitnehmerInnen die Pflegeversicherung also schon jetzt allein finanzieren, drohen weitere Kosten in Form von Beitragserhöhungen oder durch Einführung einer privaten Zusatzvorsorge 11, da die Pflegeversicherung die Kosten langfristig wohl nicht decken kann.
Positiv an der Ausgestaltung der Pflegeversicherung als Sozialversicherung ist allerdings, dass nun Umverteilungselemente vorhanden sind und die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Pflege zum ersten Mal betont wird. Zuvor war sie eine rein private Aufgabe und blieb nicht zuletzt aufgrund der Subsidiarität der Sozialhilfe an Verwandten und hier in der Regel den Frauen hängen.

"Kostenexplosion" und grundsätzliche Tendenzen

Die Bereiche der Kostenverlagerung auf die Privathaushalte und die Privatisierung von Risiken lassen sich beliebig ergänzen. Schon lange ist z.B. das BAföG keine wirklich angemessene Studienfinanzierungsmöglichkeit mehr. Über die geänderte Berechnung des notwendigen Bedarfs wurde der Sozialhilferegelsatz, über eine Begrenzung der berücksichtigungsfähigen Miete das Wohngeld gekürzt. Derzeit hat die Diskussion um Einsparmöglichkeiten bei Arbeitslosengeld und -hilfe Hochkonjunktur.
An diesen Beispielen sind die grundsätzlichen Tendenzen beim Umbau des Sozialstaates deutlich geworden. Diese bestehen in einer neuen Betonung der "Subsidiarität" sozialstaatlicher Leistungen bei gleichzeitiger Stärkung des Versicherungsprinzips und damit Schwächung des Umverteilungsgedankens. Begleitet wird dies von einem Ausbau privater Sicherungsformen, was vor allem die Steigerung privater Ausgaben für die soziale Sicherung zur Konsequenz hat und sich damit überdurchschnittlich zu Lasten der weniger Leistungsfähigen auswirkt.
Die Entwicklungen werden flankiert von Mechanismen, die insgesamt darauf zielen, diese zu legitimieren und eine grundsätzliche Kritik am Abbau des Sozialstaats zu erschweren.
Zu nennen ist hier vor allem der öffentliche Entwertungsdiskurs, der eine politische Demontage der solidarischen sozialen Sicherungssysteme erst ermöglicht hat. In erster Linie wird die weitere Finanzierbarkeit in Frage gestellt. Es ist von einer Kostenexplosion die Rede. Diese Diagnose ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Aussagen über die Kosten des Sozialstaats lassen sich mit der Sozialleistungsquote treffen, die der Anteil des Sozialbudgets am Bruttoinlandsprodukt ist. Hiermit wird der Anteil der Wirtschaftskraft gemessen, der für soziale Ziele aufgewandt wird. Das Sozialbudget umfasst daher weit mehr als nur die Ausgaben für die Sozialversicherungen. An der Finanzierung des Sozialbudgets sind Unternehmen, Staat und private Haushalte beteiligt. 12
Die Sozialleistungsquote liegt seit den letzten fünf Jahren immer ungefähr bei 32 %, die Schätzung für 2001 beträgt 32,1 %. 13 Auch in den 25 Jahren davor war sie keinen großen Schwankungen unterworfen. 14 Das bedeutet, dass sich gemessen an der Wirtschaftskraft die Ausgaben für Soziales insgesamt nicht nennenswert erhöht haben. Von einer "Explosion" kann daher nicht die Rede sein. Der Blick auf die Finanzierungsverteilung zwischen Unternehmen, Staat und Privaten ist jedoch interessant. Hiernach ist vor allem der Anteil der Unternehmen an den Kosten gesunken, während er bei den Privaten ungefähr gleich blieb. 15 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Gesamtbelastung der Privathaushalte höher ist, da im Sozialbericht im wesentlichen nur die Beitragszahlungen an die Sozialversicherungen erfasst, indirekte Belastungen durch Selbstbeteiligungen etc. aber gerade nicht berücksichtigt werden. Das zeigt noch einmal, dass im Ergebnis die Reformen vor allem zu einer Kostenverlagerung und insgesamt nicht zu einer Kostensenkung geführt haben.
Die Unternehmen profitieren allerdings von den vorgenommenen Veränderungen. Das dies wiederum kaum zu beschäftigungswirksamen Investitionen führen wird, hat die Vergangenheit immer wieder überdeutlich gezeigt. Ein direkter Zusammenhang zwischen sinkendem Sozialbudget und steigenden Investitionen besteht jedenfalls nicht. 16 Die Gründe für fehlende Investitionen sind offensichtlich auch woanders zu suchen.

Der aktivierende Staat

Der Entwertungsdiskurs stellt ferner die Anpassungsfähigkeit der Sicherungssysteme an den demographischen Wandel in Frage und wirft ihnen das Setzen falscher Anreize, ein Einschnüren der wirtschaftlichen Dynamik und Globalisierung sowie mangelnde Rentabilität vor. Hierbei werden allerdings fehlerhafte Vergleiche vorgenommen, da häufig die Chancen und Risiken verschiedener Sicherungssysteme in idealen und realen Situationen miteinander verglichen werden, ohne wirtschaftliche Rahmenbedingungen (Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum) angemessen zu berücksichtigen. 17 Dabei ist nicht feststellbar, ob z.B. das Kapitaldeckungsverfahren in der Rentenversicherung besser auf diese Veränderungen reagiert. 18 Der Diskurs hat aber bewirkt, dass seine Prämissen nicht mehr hinterfragt werden und so der Diskurs Realität wurde. 19
Ein anderer Aspekt ist, dass sich das Bild vom traditionellen Sozialstaat wandelt und der Staat heute von vielen als "aktivierender" verstanden wird. Dieser ist durch das Motto des "Förderns und Forderns" geprägt. 20 "Eigenverantwortung" wird gestärkt, Zumutbarkeitskriterien werden verschärft (z.B. gibt es kaum noch Berufs- bzw. Qualifikationsschutz in der Arbeitslosenversicherung oder beim Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente) und Mitwirkungspflichten werden ausgebaut. 21 Dahinter verbirgt sich ein Mehr an sozialer Kontrolle und Auslese verbunden mit einer unterschwelligen Verurteilung individualistischen Anspruchsdenkens. 22
Insgesamt ist eine Abkehr von den grundsätzlichen Elementen des Sozialstaatsprinzips feststellbar. Ungleichheiten werden zementiert, das Ziel der sozialen Sicherheit im Sinne von kalkulierbarer Rechtssicherheit wird Schritt für Schritt aufgegeben.

Alternativen?

Auch wenn nach dem bisher Gesagten klar wird, dass Privatisierung im Sozialbereich bestehende Probleme eher verschärft als löst, wäre ein Festhalten am bisher oder vorher Bestehenden wenig überzeugend.
Das Problem ist, dass das System noch nie perfekt war. Ein Suchen nach grundsätzlichen Alternativen muss in den Vordergrund treten, sollen langfristig die Ziele der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit tatsächlich in die Realität umgesetzt werden.
Zum einen hat das bestehende Sozialversicherungssystem Grenzen. Sozialversicherungsverhältnisse sind in aller Regel an das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses gekoppelt. Das größte Problem hieran ist also, dass Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt sich im Bereich der Sozialversicherung negativ auswirken. Die Kopplung an abhängige Beschäftigung bewirkt außerdem, dass Ausgrenzungen derjenigen stattfinden, die in unsteter Beschäftigung stehen oder noch keine Möglichkeit hatten zu arbeiten. Da es kein System der Grundsicherung (wie beispielsweise in der Schweiz) gibt, verschärft die Sozialversicherung die soziale Deklassierung und die Verfestigung der Chancenlosigkeit der "Outsider".
Das Prinzip der Lebensstandardsicherung bevorteilt z.B. in der Rentenversicherung diejenigen, denen es schon während ihres Erwerbslebens finanziell gut ging, da die spätere Rente abhängig von der Dauer der Beschäftigung und der Höhe des durchschnittlichen Einkommens ist. 23 Das Sozialversicherungssystem ist zudem einseitig an der männlichen Normalerwerbsbiographie orientiert. Um Belangen von Frauen wirklich gerecht zu werden, wäre eine Radikalreform nötig. 24
Die Sozialversicherung nimmt zwar soziale Umverteilung vor (durch Ausgleich für Kindererziehung etc.), allerdings nur zwischen den Versicherten. Beamte und Selbständige sind nicht in das System einbezogen und tragen so auch nichts zu seiner Finanzierung bei. Vonnöten ist daher ein Einbeziehen bisher nicht Versicherter in die Sozialversicherung, ein Abschaffen der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen und das Berücksichtigen von Vermögenserträgen bei der Berechnung der Beitragslast.
Nicht zu vergessen ist schließlich, dass alle noch so guten Ansätze im Bereich des Sozialrechts durch ein ungerechtes Steuersystem konterkariert würden. Auch hier ist eine grundlegende Umgestaltung, die an sozialstaatlichen Zielen orientiert ist, mehr als notwendig.

Claudia Perlitius hat Jura in Berlin studiert.

Fußnoten:

1 Schmähl, Winfried, Auf dem Weg zur nächsten Rentenreform in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35-36/ 2000, 14.
2 Veil, Mechthild, Die Riester-Rente: Geschlechterspezifische Wirkungen der privaten und der betrieblichen Vorsorge, in: WSI-Mitteilungen 2002, 93.
3 Frankfurter Rundschau (FR) v. 04. 05. 2002, 9.
4 Vgl. § 110 Abs. 1 und Abs. 3 Sozialgesetzbuch (SGB) XI.
5 FR v. 19. 04. 2002.
6 Tennstedt, Florian, Private Vorsorge und sozialstaatliche Intervention - Ein Rückblick auf die historischen Diskussionen zur Begründung des deutschen Sozialstaats, in: WSI-Mitteilungen 2001, 482.
7 Veil, a.a.O., 95
8 FR v. 11. 04. 2002, 9.
9 Bieback, Armer Rechtsstaat 2000, 46.
10 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18. 12. 2001, 15.
11 FR v. 18. 04. 2002.
12 Sozialbericht der Bundesregierung 2001, 370 ff.
13 Sozialbericht der Bundesregierung 2001, 387; Trube/ Wohlfahrt, WSI-Mitteilungen 2001, 32.
14 Bieback, Armer Rechtsstaat 2000, 30.
15 Sozialbericht der Bundesregierung 2001, 473.
16 Sitte, Ralf, Wohin führt ein "Umbau" des Sozialstaates?, in: WSI-Mitteilungen 1998, 715.
17 Hengsbach, Friedhelm, Solidarität im Sturzflug? Eine sozialethische Reflexion, in: WSI-Mitteilungen 2001, 472.
18 Krupp, Hans-Jürgen, Ist das Kapitaldeckungsverfahren in der Alterssicherung dem Umlageverfahren überlegen?, in: WSI-Mitteilungen 1997, 294.
19 Hengsbach, a.a.O., 472.
20 FR v. 26. 04. 2002; Trube/ Wohlfahrt, WSI-Mitteilungen 2001, 27 ff.
21 vgl. § 2 Abs. 2 und 3 SGB III.
22 Trube/ Wohlfahrt, WSI-Mitteilungen 2001, 27 ff.
23 Bieback, Forum Recht (FoR) 2001, 51.
24 Scheiwe, Kirsten, Geht die Gleichstellungspolitik im "Regelgestrüpp" des Arbeits- und Sozialrechts unter?, in: Streit 2000, 151; Bieback, FoR 2001, 48 ff.

Literatur:

Karin Bieback, Strafe für ein langes Leben und Kinder?, in: Forum Recht 2001, 48 - 51.
Karl-Jürgen Bieback, 25 Jahre Umbau des Sozialleistungssystems - eine Bilanz, in: Rottleuthner, Hubert (Hrsg.), Armer Rechtsstaat, Schriften der Vereinigung für Rechtssoziologie, Band 26, Baden-Baden 2000.
Trube, Achim/ Wohlfahrt, Norbert, "Der aktivierende Sozialstaat" - Sozialpolitik zwischen Individualisierung und einer neuen politischen Ökonomie der inneren Sicherheit, in: WSI-Mitteilungen 2001, 27 - 35.
Sozialbericht der Bundesregierung 2001, www.bma.de.