Der „Künast-Beschluss“ des Landgerichtes Berlin vom 9. September 2019 wurde breit rezipiert und löste Empörung aus. Er zeigt zum einen, welches Ausmaß sexistischer und misogyner Hassrede im Netz herrscht. Zum anderen illustriert er, woran ihre juristische Ahndung scheitern kann. Dabei waren es hier nicht Schutzlücken im Gesetz, die ihr im Weg standen – es war schlicht menschliches Versagen.
Es ging um insgesamt 22 Facebook-Kommentare, gegen die sich die Grünen-Bundestagsabgeordnete Renate Künast zur Wehr setzte. Die ehemalige Fraktionsvorsitzende und Verbraucherschutzministerin war dort mit einer ganzen Parade der Verwerflichkeit belegt worden: „Schlampe“, „Sondermüll“, „Drecks Fotze“ sind wohl die krassesten Beispiele. Gerade der verstörend sexistische Charakter ist kennzeichnend für Hassrede im Netz und zeigt sich auch in weiteren Beispielen: „Knatter sie doch mal einer so richtig durch, bis sie wieder normal wird!“ oder „Wurde diese ‚Dame‘ vielleicht als Kind ein wenig viel gef…und hat dabei etwas von ihren Verstand (sic) eingebüßt“ musste Künast über sich lesen.
All diese Kommentare wurden auf Facebook getätigt. Anlass war der Post eines welt.de-Artikels aus dem Jahr 2015. Dieser befasste sich unter der Überschrift „Grünen-Politikerin Künast gerät in Erklärungsnot“ mit einem Zwischenruf, den Künast 1986 noch als Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses getätigt hatte. Während eines Wortbeitrages einer Grünen-Abgeordneten in einer Debatte über häusliche Gewalt hatte ein CDU-Abgeordneter eine Zwi-schenfrage gestellt: Wie die Rednerin zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, dass die Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern aufgehoben werden solle. An dieser Stelle habe Renate Künast laut Protokoll dazwischengerufen: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“ Die Welt-Autoren fragen nun: „Klingt das nicht, als wäre Sex mit Kindern ohne Gewalt okay?“ Im Rest des Artikels lassen sie dann Künast selbst zu Wort kom-men. Die Politikerin äußert, dass sie damals lediglich darauf hinweisen wollte, dass der Vor-wurf des CDU-Abgeordneten ins Leere gehe. Selbst habe sie jedoch nie dafür gestimmt, „soge-nannte einvernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen zu legalisieren“.
Der Artikel erhitzte die Gemüter. Ein*e Facebook-Nutzer*in verwendete ein Foto von Künast und dazu eine ihr in den Mund gelegte abgewandelte Version des Zitats aus dem Artikel. Dieses lautete nun: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt.“ Auf Facebook drehten die Nutzer*innen unter diesem Post nun frei und hauten in die Tasten.
Die rechtlichen Instrumente gegen Hassrede
Wer derartige Äußerungen nicht dulden möchte, dem gibt das deutsche Recht zwei Instrumente in die Hand: Einerseits die Strafanzeige etwa wegen Beleidigung, andererseits den zivilrechtli-chen Weg, der aus Unterlassungsklage und Klage auf Geldentschädigung besteht. Beide In-strumente setzen indes voraus, dass die Identität der Äußernden bekannt ist. Bei Beleidigungen im Netz ist genau dies jedoch häufig nicht der Fall, sodass die gerichtliche Durchsetzung etwa zivilrechtlicher Ansprüche eigentlich zum Scheitern verurteilt wäre. In dieser Lage bietet § 14 Abs. 3 Telemediengesetz einen Ausweg. Hiernach darf der Betreiber (zum Beispiel Facebook) die personenbezogenen Daten von Nutzern herausgeben, wenn dies zur Durchsetzung zivil-rechtlicher Ansprüche wegen der Verletzung absolut geschützter Rechte aufgrund rechtswidri-ger Inhalte erforderlich ist. Rechtswidrige Inhalte sind dabei solche, welche die in § 1 Absatz 3 des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes aufgelisteten Straftatbestände erfüllen. Dazu gehören unter anderem die klassischen Beleidigungsdelikte aus den §§ 185-187 Strafgesetzbuch (StGB).
Die Entscheidung des Landgerichts Berlin
Diesen Weg beschritt Renate Künast. Um zivilrechtliche Ansprüche gegen die betreffenden Nutzer*innen geltend zu machen, begehrte sie die Herausgabe der personenbezogenen Daten. Konkret ging es um Namen und E-Mail-Adressen ebenso wie IP-Adressen. Das Landgericht Berlin lehnte den Auskunftsanspruch allerdings vollständig ab. In keinem einzigen der 22 bean-standeten Kommentare sah es rechtswidrige Inhalte.
In seinem Beschluss fasst das Gericht zu Beginn zutreffend die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit zusammen. Es sind die klassischen Topoi: So müssten die Gerichte den Anlass und Kontext der Äußerung ausreichend berücksichtigen. Auch sei eine Äußerung nur ausnahmsweise als Schmähkritik zu behandeln, wenn sie eine die Öf-fentlichkeit wesentlich berührende Frage betreffe. Diese Grundsätze wendet die Kammer an-schließend auf die 22 beanstandeten Kommentare an. Dabei fördert es Erstaunliches zutage: Alle 22 sollen samt und sonders zulässige Meinungsäußerungen darstellen. Gewiss, sie seien „teil-weise sehr polemisch und überspitzt und zudem sexistisch.“ Allerdings habe Künast sie in ge-wisser Weise selbst zu verantworten: Mit ihrem Zwischenruf habe sie sich nämlich zu einer die Öffentlichkeit in erheblichem Maße berührenden Frage geäußert und damit Widerstand in der Bevölkerung provoziert. Auch habe sie den Zwischenruf bislang nicht öffentlich revidiert oder klargestellt und müsse als Politikerin ohnehin in stärkerem Maße Kritik hinnehmen. Alle Kom-mentare hätten Sachbezug und seien daher nicht als Beleidigungen nach § 185 StGB zu werten.
Jedem der 22 Kommentare widmet das Gericht ein paar Zeilen. Sie wirken stellenweise wie ihre eigene Parodie. Zur Äußerung „Wurde diese ‚Dame‘ vielleicht als Kind ein wenig viel gef…und hat dabei etwas von ihren Verstand eingebüßt“ schreibt die Kammer, dies stelle eine „polemi-sche und überspitzte, aber nicht unzulässige Kritik dar.“ Es gehe schließlich um eine auf Kün-asts ursprüngliche Äußerung bezogene Kritik. Das Gericht schreibt: „Dass die Äußerung se-xualisiert ist, ist das Spiegelbild der Sexualisiertheit des Themas. Eine Diffamierung und damit eine Beleidigung nach § 185 StGB lässt sich hieraus nicht ableiten.“ Auch die Äußerung „Knat-ter sie doch mal einer so richtig durch, bis sie wieder normal wird!“ sei eine „sicherlich ge-schmacklose Kritik, die mit dem Stilmittel der Polemik sachliche Kritik“ übe. Allerdings gehe es dem Äußernden „erkennbar nicht darum, die Antragstellerin als Person zu diffamieren, sondern an der von ihr getätigten Äußerung Kritik zu üben.“ Somit scheide eine Beleidigung nach § 185 StGB aus. Überdies werde Künast „nicht, wie sie dies meint, zum Gegenstand sexueller Fanta-sien gemacht.“
Am ehesten scheint der Kammer noch der Begriff „Drecks Fotze“ Bauchschmerzen zu bereiten. Sie schreibt: „Der Kommentar ‚Drecks Fotze‘ bewegt sich haarscharf an der Grenze des von der Antragstellerin noch hinnehmbaren.“ Dennoch müsse sich Künast die Äußerung gefallen lassen. Denn das Thema ihrer damaligen Äußerung befinde sich ebenfalls im sexuellen Bereich. Die Forderung der Entpönalisierung des gewaltfreien Geschlechtsverkehrs mit Kindern weise ein erhebliches Empörungspotential in der Gesellschaft auf, weshalb die Antragstellerin sich als Politikerin „auch sehr weit überzogene Kritik“ gefallen lassen müsse. Und weiter: „Dass mit der Aussage allein eine Diffamierung der Antragstellerin beabsichtigt ist, ohne Sachbezug zu der im kommentierten Post wiedergegebenen Äußerung, ist nicht feststellbar.“
Allseitige Ablehnung
Der Beschluss ist in vieler Hinsicht bemerkenswert, aber in einem Aspekt geradezu einzigartig: Er eint die Öffentlichkeit und das juristische Fachpublikum in kaum je dagewesener geschlos-sener Ablehnung. Die FAZ etwa fragt: „Sind nun alle Schleusen offen?“ Rechtsprofessor Vol-ker Boehme-Neßler nennt die Entscheidung einen Skandal, „ein krasses Fehlurteil“, das die Verfassung grob missachte. Rechtsprofessorin Elisa Hoven verweist auf schwere handwerkli-che Fehler und kann sich den Beschluss „kaum erklären.“ Auch Udo Di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, äußert Unverständnis.
Diese Einhelligkeit der Kritik ist selbst bei kontroversen gerichtlichen Entscheidungen unüblich. Sie fiel auch Thomas Fischer auf, der sich wunderte, dass nicht einmal die sonst übliche Erinne-rung des Richterbundes oder der Bundesjustizministerin folgten, welche doch normalerweise Respekt und Zurückhaltung im Umgang mit unabhängigen Richtern einfordern würden. Einzig Jost Müller-Neuhof im Tagesspiegel wagte sich aus der Deckung und sprach sich gegen eine Skandalisierung der Entscheidung aus. Doch selbst er verteidigte sie nicht in allen Punkten und ging davon aus, dass sie von der Rechtsmittelinstanz zumindest in Teilen aufgehoben werden würde.
Grobe rechtliche Fehler
Tatsächlich fällt in der Entscheidung eine Reihe handwerklicher Fehler auf, die nicht nur ihr Ergebnis zweifelhaft wirken lässt, sondern auch den Weg dorthin. Zunächst ist bemerkenswert, dass die Kammer in keiner einzigen der beanstandeten Äußerungen eine Schmähkritik erblicken kann. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist unter dem Begriff Schmähkritik eine Äußerung zu verstehen, bei der nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Während normalerweise zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht abgewogen werden muss, ist eine Schmähkritik per se unzulässig. Bei solchen Äußerungen würde die Meinungsfreiheit regelmä-ßig hinter den Ehrenschutz zurücktreten.
Die Einstufung als Schmähkritik hat also weitreichende Folgen, weshalb das Bundesverfas-sungsgericht anmahnt, dass sie nicht vorschnell getroffen werden solle. Wenn eine Äußerung eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage betreffe, könne Schmähkritik daher nur ausnahmsweise vorliegen. Eine solche Ausnahme sei dann erreicht, wenn eine Äußerung in jedem denkbaren Sachzusammenhang stets als persönlich diffamierende Schmähung aufgefasst werden müsse. Dies sei zum Beispiel bei der Verwendung besonders schwerwiegender Schimpfwörter etwa aus der Fäkalsprache der Fall.
Das Landgericht Berlin lehnt die Einstufung der beanstandeten Kommentare als Schmähkritik gänzlich ab. Bei manchen Äußerungen mag diese Wertung noch vertretbar erscheinen – man denke an „geisteskrank“ oder „gehirnamputiert“. Diese beiden Wörter entstammen nicht unbe-dingt der Fäkalsprache und müssen wohl auch nicht in jedem denkbaren Sachzusammenhang als persönliche Schmähung verstanden werden. Beide könnten sich bei wohlwollender Lesart auch bloß als eine extreme Betonung der Ansicht verstehen, dass man die (vermeintlichen) Po-sitionen der angegriffenen Person ablehne. Spätestens bei „Drecks Fotze“ sollte die Grenze der Schmähkritik aber erreicht sein. Schließlich ist der Begriff in höchstem Maße sexistisch und misogyn und hat offensichtlich keinen Sachbezug mehr. Auch die umgekehrte Betrachtung ist erhellend. Denn wenn „Drecks Fotze“ keine Schmähkritik sein soll – was dann? Würde man dem Landgericht Berlin hier folgen, wäre die Kategorie der Schmähkritik vollständig entkernt und ihrer Bedeutung beraubt. Sie müsste im Grunde genommen aufgegeben werden.
Selbst wenn man aber die Annahme einer Schmähkritik ablehnt, ist hiermit die Prüfung nicht zu Ende, sondern fängt gerade erst an. Denn nun ist eine Abwägung vorzunehmen. Hier ist auf der einen Seite die Meinungsfreiheit zu berücksichtigen, auf der anderen Seite das Persönlichkeits-recht. Diese Abwägung hat das Landgericht Berlin vollständig unterlassen. Würde man sie durchführen, käme man ohne Zweifel zum Ergebnis, dass hier das Persönlichkeitsrecht der Meinungsfreiheit vorgeht. Denn zum einen handelt es sich um eine Vielzahl von besonders her-abwürdigenden Äußerungen, die auch nach der Auffassung des Landgerichts Berlin allein auf-grund ihres Kontextes nicht als Schmähkritik aufzufassen sind. Zum anderen wäre zu berück-sichtigen, dass die Äußerung Künasts bereits aus dem Jahr 1986 stammt und damit über dreißig Jahre alt ist. Sie wurde ohne ihr Zutun durch den Artikel der Welt wiederaufgewärmt. In dem ursprünglichen Facebook-Post war Künast darüber hinaus noch eine verfälschte Version ihres Zitats in den Mund gelegt worden, die sie nie getätigt hatte. Ihre tatsächliche politische Position während der 1980er hatte sie bereits innerhalb des Welt-Artikels klargestellt. Sie hatte dabei auch Bedauern geäußert, nicht stärker gegen Tendenzen zur Entkriminalisierung von Pädosexu-alität gekämpft zu haben. All dies wäre zu berücksichtigen gewesen und hätte eine Abwägung ohne Zweifel zu Gunsten Künasts ausfallen lassen.
Und ein Fehler im Tatsächlichen
Neben diesen Schwächen in der rechtlichen Würdigung fällt auch ein nicht unbedeutender Feh-ler im Tatsächlichen auf. So führt das Gericht aus, dass Künast ihren damaligen Zwischenruf „bislang nicht öffentlich revidiert oder klargestellt“ habe. Das verwundert. Denn in dem ur-sprünglichen welt.de-Artikel – der ja immerhin Anlass aller beanstandeten Äußerungen war – war sie schließlich durchaus zu Wort gekommen. Sie erklärte ihren Zwischenruf „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“ dahingehend, dass sie lediglich den Vorwurf des CDU-Abgeordneten richtigstellen wollte. Sie selbst habe sich aber nie für die Legalisierung von Se-xualität zwischen Kindern und Erwachsenen ausgesprochen, wenn sie sich auch vorwerfe, nicht aktiv genug dagegen eingetreten zu sein. Diese Klarstellung scheint auch dem Gericht aufge-fallen zu sein. So schreibt es, dass Künast nun ihren Einwurf „anders verstanden wissen“ wolle.
Beides auf einmal kann aber nicht richtig sein: Entweder hat Künast ihren Zwischenruf bislang nicht öffentlich klargestellt, oder sie möchte ihren Zwischenruf eben anders verstanden wissen. Dieser Widerspruch scheint den Richter*innen nicht aufzufallen. Ihre Einschätzung aber, Kün-ast habe ihren damaligen Zwischenruf bislang nicht revidiert oder klargestellt, ist schlicht falsch.
Die Frage nach den wirklichen Gründen
Die öffentliche Empörung über den Beschluss hat sich inzwischen wieder etwas gelegt und Künast unterdessen Beschwerde eingelegt. In einem ähnlich gelagerten Fall – ebenfalls vor dem Landgericht Berlin – hat Künast Anfang Dezember 2019 bereits einen Teilsieg gegen den Kurznachrichtendienst Twitter erlangt. Dort ging es um ein ihr fälschlich unterschobenes wörtli-ches Zitat („Ja zu Sex mit Kindern“). In ähnlicher Weise untersagte auch das Landgericht Frankfurt am Main Anfang Dezember 2019 eine*r Facebook-Nutzer*in, den Eindruck zu erwe-cken, Künast habe die Äußerung „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist der Sex mit Kin-dern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt“ getätigt. Beide Entscheidungen sind sicherlich Schritte in die richtige Richtung.
Angesichts seiner schwerwiegenden Mängel wird der Beschluss vom September 2019 in den weiteren Instanzen wohl kaum Bestand haben. Tatsächlich ist er dermaßen schwach, dass man sich fragen kann, was die Richterinnen und Richter zu ihm veranlasst haben kann. Boehme-Neßler spricht zutreffend von einem „Blick ins Gruselkabinett pervertierter juristischer Argu-mentation.“ Auch wenn dies ins Reich der Spekulation führt, so liegt es doch nahe zu fragen: Was treibt die Kammer zu einer solchen Entscheidung?
Man könnte versucht sein, den Richter*innen eine politische Motivation zu unterstellen. So er-stattete die Kanzlei Bernard Korn & Partner Strafanzeige wegen Rechtsbeugung, da die Rich-ter*innen ihre Entscheidung aufgrund ihrer politischen Überzeugungen getroffen hätten. Die von ihnen vertretene Auffassung sei evident unvertretbar und missachte die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes offenkundig. Es sei fernliegend, dass der Beschluss lediglich Fol-ge grober handwerklicher Fehler sein könne.
Möglicherweise war es auch einfach das mit starken Emotionen behaftete Thema, das die Rich-ter*innen zu ihrer Entscheidung motivierte. Der Komplex Pädosexualität und ihre vermeintliche Verharmlosung hat bekanntlich erhebliches Sprengpotential. Er erhitzt wohl nicht nur auf Face-book die Gemüter, sondern auch in Beratungszimmern am Landgericht. Vielleicht waren die Richter*innen einfach der Ansicht, die Beleidigungen träfen Renate Künast zu Recht.
Bedenkenswert erscheint mir zuletzt noch eine weitere Theorie, die beispielweise Philip Banse und Ulf Buermeyer im Recht-und-Politik-Podcast „Lage der Nation“ in den Raum stellten. Sie fragten, ob die Berliner Richter*innen mit einer „bewussten Provokation“ dem Bundesverfas-sungsgericht den Spiegel vorhalten und illustrieren wollten, wohin dessen liberale Rechtspre-chung führen könne. Mit einem „subtilen Hack“ habe das Gericht womöglich die Absicht ver-folgt, das Bundesverfassungsgericht zu einer Klarstellung seiner Rechtsprechung zu bewegen.
Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt mit einer liberalen Linie für Aufsehen gesorgt. Dabei ging es um Fälle, in denen es den Instanzgerichten vorwarf, Meinungsäußerun-gen vorschnell als Schmähkritik eingestuft zu haben. Im Fall einer als „durchgeknallt“, „wider-wärtig“ und „geisteskrank“ bezeichneten Staatsanwältin sei die Ebene der Schmähkritik bei-spielsweise nicht erreicht. Auch die Bezeichnung des ehemaligen Grünen-Abgeordneten Vol-ker Beck als „Obergauleiter der SA-Horden“ stelle keine Schmähkritik dar. In beiden Fällen verwies das BVerfG die Verfahren an die untere Instanz für eine erneute Prüfung zurück.
Diese Karlsruher Linie war bereits zuvor als zu meinungsfreundlich kritisiert worden. Ob die Berliner Richter*innen nun tatsächlich ein Exempel statuieren und zeigen wollten, wohin eine solch „laxe“ Rechtsprechung im Extremfall führen könne, lässt sich von außen gewiss nicht beurteilen. Schmeichelhaft ist diese Lesart des Beschlusses ohnehin nicht. Aber sie ist dennoch beruhigender als die Annahme, dass die Berliner Richter ihn tatsächlich ernst meinten.
Weiterführende Literatur:
Ulrike Lembke, Kollektive Rechtsmobilisierung gegen digitale Gewalt. Eine Publikation der Heinrich-Böll-Stiftung, Dezember 2017, https://www.gwi-boell.de/sites/default/files/e-paper_43_kollektive_rechtsmobi.pdf
Elisa Hoven, Nicht Ausdruck, sondern Bedrohung der Meinungsfreiheit, FAZ Einspruch, 5.11.2019, https://www.faz.net/einspruch/hate-speech-nicht-ausdruck-sondern-bedrohung-der-meinungsfreiheit-16470198.html
Wolfgang Janisch, Herabwürdigung als Waffe, Süddeutsche Zeitung, 9.10.2019, https://www.sueddeutsche.de/kultur/renate-kuenast-hate-speech-bundesverfassungsgericht-