Die Privatisierungswelle der letzten zwanzig Jahre ist ebenso wie der pauschale Ruf nach Deregulierung ein Musterbeispiel für geglückte neoliberale Politik. Letzterer gelang es weltweit, die Debatten um die „richtige“ Steuerung gesellschaftlicher Prozesse solange an sich zu ziehen, dass dabei nachhaltige Ergebnisse diktiert werden konnten. Insofern handelt es sich bei dem Phänomen der Privatisierung um den leading case der (Wirtschafts-)Politik des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Der einseitige Blickwinkel in dieser Zeit ist heute – von wenigen Ausnahmen abgesehen – immer noch keiner differenzierenden Betrachtungsweise gewichen. Dabei kann das Einnehmen einer kritischen Perspektive in letzter Konsequenz über die Grenzen neoliberaler aber auch anderer, wie linker Politik aufklären. Erst mit der Erkenntnis dieser Grenzen sollte versucht werden, die Erfolgsdefizite linker Politik zu beheben.
Das Lehrstück
Die vielfältigen Erscheinungsformen privatisierter Bereiche sind Glaubensprodukte. Das Schlagwort der Privatisierung und seine Umsetzung verdankt dabei ebenso wie das Konzept der Deregulierung seine anhaltende Karriere dem Erfolg einer schleichenden, konservativen Revolution, einer Revolution, die sich mit nachhaltigem Erfolg gegen die gesellschaftliche Phase des Keynesianismus oder Interventionismus der Jahre zwischen 1965 und 1980 stemmte. Vater und Mutter sind Ronald Reagan und Margaret Thatcher, ihr Kind heißt: Neoliberalismus.
Im Zentrum dieser paradigmatischen Wende steht, dass sich der Staat auf die Wahrnehmung genuin hoheitlicher Aufgaben zurückziehen solle, und alle sonstigen Bereiche, derer er sich in der Vergangenheit teils inflationär angenommen hatte, auf eine andere Ebene abgeben müsse, nämlich die des Marktes. Die grundlegende Behauptung des Neoliberalismus ist dabei, dass wir mit den Mitteln des freien Marktes die betreffenden Lebenssachverhalte besser bewältigen können, und das bisherige mit der Steuerung betraute System, also in der Regel der Staat, daher zurückzutreten habe. Es geht aber nicht nur um das Vertrauen auf eine bessere Steuerungsleistung des Marktes. An diese wird zwar gemeinhin geglaubt, die Grundidee liegt aber viel tiefer verborgen. Hiernach ist der Neoliberalismus in der Annahme verwurzelt, dass nur ein minimalistischer Staat gerecht sei. Der umverteilende Staat der siebziger Jahre habe insbesondere übersehen, dass er als organisatorisches Gebilde nur zum Zwecke des Schutzes der individuellen Rechte der Bürger existiere. Staatliche Steuerung und Umverteilung pervertiere dabei aber gerade die freiheitlichen Rechte der Bürger, da ihnen etwas von ihrem Kuchen gegen ihren Willen genommen, also abgezwungen werde. Mit diesen weit beachteten, hier stark vereinfacht dargestellten Thesen zu einem radikalen Individualismus gab der U.S.-amerikanische Philosoph Robert Nozick 1 den kompromisslosen Marktbefürworterinnen und -befürwortern die ethische Absolution, die wirtschaftswissenschaftliche Segnung hatten sie mit den Werken Milton Friedmans und Friedrich von Hayeks ohnehin im Gepäck.
Etappen des Erfolgs
Alles Weitere ist mehr oder weniger bekannt. Seit etwa 1980 galt jahrelang politisch das Primat der Ökonomie, die Heilsversprechen der Wirtschaft und ihrer Theoretikerinnen und Theoretiker wurden spätestens nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in den Staaten des Warschauer Paktes weltweit für bare Münze genommen. Dabei gelang es, ein Klima zu entfachen, das mit großer Durchsetzungsmacht für sich warb. Aus den USA schwappte vor allem die Forderung nach Deregulierung, aus Großbritannien die nach Privatisierung staatlicher Daseinsvorsorge in die Welt. Global frei verfügbares Kapital tat sein übriges, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die Anhängerinnen und Anhänger des Neoliberalismus beherrschten dabei die Klaviatur des Diskurses in einer Weise, aus der heraus sie die Macht erhielten, den Teilnehmerkreis und die Inhalte des Diskurses zu bestimmen. Wieder einmal wurde der Kampf um die Macht über die Kontrolle der Kommunikation erlangt. 2 Für die Legitimation dieser Form der Machtausübung ist das nicht ohne Bedeutung, da hierdurch immer ein Element der Zustimmung mitschwingt. Nicht ohne Gewicht dürfte dabei auch die Inszenierung dieses Diskurses sein. Wirtschaftliche Effektivität ist als theoretisches Konzept viel zu trocken, als dass damit Massen überzeugt werden könnten. Daher wurden und werden die Vorteile privatisierter und deregulierter Bereiche immer als besonders attraktiv, spektakulär, spannend oder – das mag erstaunen – gar als sexy 3 angepriesen. Der grauen undurchdringlichen Behördenwelt werden dabei Emotionen entgegengesetzt. Mit dieser aus der Werbung bekannten Strategie wird in unserer zunehmenden show society teils sehr erfolgreich versucht, weithin Akzeptanz zu sichern.
Die Produkte dieser Bewegung sind quer durch die Gesellschaft zu beobachten und können hier auch nicht nur annähernd erschöpfend aufgezählt werden, kurzum: wir können auf nahezu jedem Gebiet Privatisierungsentwicklungen beobachten oder müssen mit ihnen rechnen.
Neoliberale Meinungsführung heute?
Die Meinungsführerschaft der Neoliberalen ist heute freilich gebrochen, wenn auch nur im wissenschaftlichen und feuilletonistischen Diskurs. Gleichwohl lässt sich das Rad der Geschichte hiermit nicht zurückdrängen, wohl auch deshalb, weil erkannt wurde, dass vor der „Revolution“ doch manches im Argen gelegen hatte, und zähneknirschend zugestanden werden musste, dass die neoliberale Kritik zumindest ab und an auch ins Schwarze getroffen hat. So werden heute nur wenige den hoheitlich diktierten Preisen im Telefonverkehr von damals eine Träne hinterher weinen.
Statt dessen wird heute ein „Dritter Weg“ 4 beschritten, oder sich um eine aktivierende 5 Politik oder einen funktionalen 6 Staat gekümmert. Hier übernimmt der Staat wiederum eine eigenverantwortliche und gestaltende Rolle, soll dabei allerdings vor allem auf die vielschichtigen Kräfte unserer Gesellschaft setzen. Bei diesem Konzept eines vertikalen Pluralismus sollen alle verhandelbaren Felder nach unten, und das heißt sowohl an den Markt als auch an die zivile Gesellschaft, abgegeben werden. Die Diskursführung der Neoliberalen wurde diesen damit durch die Formulierung neuer, im Einzelnen sehr vielschichtiger Leitideen und Visionen 7 streitig gemacht, mit denen der zivilgesellschaftliche Sektor für die Erledigung von Steuerungsaufgaben besonders in Beschlag genommen werden soll. Margaret Thatchers Diktum der frühen 80er Jahre, „there is no society, only individuals“, verfängt damit gemeinhin nicht mehr als die eine Leitidee über allen anderen. Was damit gewonnen wurde und wird, wird sich erst noch zeigen müssen. Dies gilt um so mehr, als der aktivierende Staat heute angesichts stets mobiler und globaler Finanzströme in seinen nationalen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkter ist als früher. Eine globale Zivilgesellschaft, die diesem Phänomen Kräfte und Visionen entgegensetzen könnte, ist dabei aber noch fern jeder Bildung. 8
Die neoliberale Selbstüberschätzung
Es verwundert wenig, dass die Umsetzung eindimensionaler, vereinfachender und undifferenzierter Vorstellungen meist zu Katastrophen führt oder zumindest von gravierenden Nebenwirkungen begleitet wird. Die griechische Mythologie hat in diesem Zusammenhang die Göttin Nemesis hervor gebracht: die Göttin des gerechten Maßes. Sie bestraft die menschliche Selbstüberschätzung (Hybris) und sorgt mit Ihrem Zorn dafür, dass Träume, derer wir uns anmaßen, in sich zusammen brechen. Die Hybris der Neoliberalen war ihr Glauben ans eigene Fach und damit verbunden ihre Blindheit für die Logik anderer (Steuerungs-)Systeme.
Mit dem Primat der Ökonomie haben die Neoliberalen versucht, die Wirkungskräfte ihres Faches auf andere Subsysteme wie die der Kultur, der sozialen Sicherung, des Gesundheitswesens, der Medien, der Politik, des Sports, der Verwaltung, der Schule, der Umwelt und vieler mehr zu übertragen. Da all diese Subsysteme mit knappen Gütern ausgestattet sind, und in allen diesen Systemen die Güter Geld kosten, meinten die Wortführerinnen und -führer der „Revolution“, diese mit ihrem wirtschaftlichem Blickwinkel und Analyseinstrumentarium beackern zu können. So gut wie alle Subsysteme unserer Gesellschaft sind bei einem derartigen Vorgehen privatisierungsfähig. Wenn wir aber allein von der Möglichkeit einer wirtschaftlichen Betrachtung zum Primat derselbigen kommen wollen, übersehen wir immer den Charakter dieser Systeme und begehen damit notgedrungen tief greifende Fehler. Dies muss aus wissenschaftstheoretischer Sicht auch so sein, da wir bei der Übertragung rein (wirtschafts-)wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Deutung anderer Wissenschaftsbereiche die eigene, zumindest relativ gesicherte methodische Kompetenz überschreiten – was natürlich für jede Wissenschaftsrichtung gilt und wohl immer ein Problem interdisziplinärer Tätigkeit sein wird. Der Markt als Supertheorie kann hier jedenfalls nicht durchgreifen. Sicherlich, aus Sicht der reinen Lehre des Marktes ist ein Abweichen von seinen „reinen“ Grundmechanismen ein Verstoß gegen seine theoretischen Annahmen, aber das ist auch der Fall aus der Sicht der anderen Subsysteme. Eine reine Lehre kann es daher bei einer derartigen Ausgangslage per se nicht geben, da bei der Verschränkung von Wirkungsmechanismen aus verschiedenen Systemen immer der Kompromiss im Vordergrund stehen muss. Wer diese Kompromisse nicht eingehen will, wird immer irgendwo im System scheitern.
Der defizitäre Blick der Ökonomie auf andere Systeme
Die oder der geübte Neoliberale mögen an dieser Stelle einwenden, dass die wirtschaftliche Analyse immer mehr im Blick hat als nur den wirtschaftlichen Prozess. Gerade die Eigenlogik der durch Marktinstrumente zu steuernden Subsysteme werde dabei als Rahmenbedingung in das ökonomische Modell eingestellt, Überlegungen über die Wechselwirkungen würden angestellt. Das mag im Ansatz so sein. Solange diese Prototypen von Ökonomen aber den Rahmen nur als Blackbox ohne besondere Kenntnis der Eigenlogik des Rahmens in Rechnung stellen, ist nicht viel gewonnen, wenn sie gleichwohl am Vorrang der Steuerung durch Marktinstrumente (Privatisierung, Deregulierung, Staatsversagen) festhalten. Dann bleiben sie bei allem In-Rechnung-Stellen in ihrem Glauben an ihr System als Supersystem verfangen.
Das ist sicherlich auch von anderer Warte her nicht anders. Sobald jemand aus seinem Steuerungssystem heraus argumentiert, wird sie oder er in aller Regel die Eigenlogik dieses Systems nicht überwinden können. Dies kann dazu führen, dass die „eigene“ Lösung als die Superlösung aufgebaut wird. In allen Wissenschaften wird zwar immer wieder versucht, einen „Herkules“ für derartige erkenntnistheoretische Probleme als methodisches Vorbild zu schaffen. 9 Sich eine derartige allumfassend aufgeklärte Idealperson zu denken, die alles überblickt, fällt aber schon für sein eigenes System schwer. Wie soll das dann übergreifend funktionieren?
Hinzu kommt, dass jedes System seinen eigenen blinden Fleck hat, immer ein Gebiet, das bei der (Selbst-)Beobachtung gänzlich ausgeblendet wird. 10 In den Wirtschaftswissenschaften ist diese Leerstelle in aller Regel die Thematisierung aller Fragen der (sozialen) Gerechtigkeit. Aus Sicht der Theorie ist das sogar folgerichtig, denn die Frage nach dem, was denn nun gerecht sei, ist mit positiver Wissenschaft nicht zu beantworten und muss wertenden Instanzen zur Beurteilung übertragen werden. Wenn wir das aber machen, können wir nicht nachträglich einwerfen, die vorgenommene Wertung sei ein Verstoß gegen die reine Lehre. Das muss sie schließlich auch sein, weil sonst aus Sicht der Ökonomie nur eine einzige Wertung richtig sein kann, nämlich die des Nichteingreifens. Dann aber brauchen wir die Wertungsfrage erst gar nicht delegieren und können gleich feststellen, dass alle Ergebnisse der reinen Lehre gerecht seien.
Die Kunst der optimalen Steuerung?
Wenn wir all das Gesagte wörtlich nehmen, kann es eine optimale Steuerung gesellschaftlicher Prozesse nicht geben, also demnach auch nicht die Kunst derselbigen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn wir Kunst mit der Umsetzung genau der einen oder anderen, wenn auch aufgeklärten Metatheorie gleichsetzen. Dann aber würde das Ding „Theorie“ heißen, mit Kunst soll hier gerade der gestalterische, pragmatische und letztlich auch wertende Aspekt betont sein. Theorie als Bezeichnung geht gerade deswegen fehl, weil eine theoretische Vermittlung der Erkenntnisse zweier oder mehrerer Systeme immer auf die erkenntnistheoretischen Hürden stoßen wird. Bei alldem kann es also nicht um die Wissenschaft der richtigen Lösung (des einen oder anderen, jeweils unversöhnlich gegenüberstehenden Systems), sondern nur noch um den praktischen Kompromiss oder um pragmatische Lösungen gehen. In dieser Fertigkeit gestaltender Art liegt optimale Steuerung bzw. die Kunst derselben.
Eine hegemoniale Übung des einen oder anderen Systems, wie eben die des pauschalen Privatisierungs- und Deregulierungsverlangens, muss bei einer solchen Kunstlehre von vornherein nahe dem Ideologieverdacht stehen. Das gilt im Beispiel für die reine Marktlösung, gilt aber ebenso für die reine Staats- oder xyz-Systemlösung (wie bspw.: es darf nur Universitäten in staatlicher Hand geben). Das heißt freilich nicht, dass wir jeden Versuch einer theoretischen Vermittlung aufgeben sollten. Die Durchdringung der Wirksamkeitsbedingungen verschiedener Steuerungsinstrumente wie die des Rechts oder die des Marktes ist vielmehr nach wie vor eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt Kompromissvorschläge machen zu können (die aus Sicht der jeweiligen Lehren dann immer Verstöße gegen ihre eigenen Lehren enthalten!).
Eine solche systemübergreifende Analyse steckt jedoch immer noch in den Kinderschuhen und krankt meist daran, dass sie aus gewohnten Schubladendiskussionen nicht heraus kommt. 11 Eben diesen Sachverhalt müssen wir uns stets vor Augen führen, wenn wir wissenschaftliche Debatten begutachten, die Vorstudien für die zu treffenden Kompromisse liefern: Jede Teilnehmerin oder jeder Teilnehmer dieses Diskurses versucht, Terrain für ihr oder sein Teilsystem von Steuerungsleistungen zu gewinnen.
Der Glaube …
Das geschieht im Übrigen fast immer unbewusst. Deregulierungs- und Privatisierungsanhängerinnen und -anhänger glauben, sie seien im Recht, genauso wie das reine Sozialstaatsbefürworterinnen und -befürworter tun. Sie sichern ihren Glauben vermeintlich objektiv ab und würden jede Strategie der Sicherung eigenen Terrains empört von sich weisen, wenn nicht gar sich in ihrer wissenschaftlichen Ehre verletzt sehen. Und das werden sie im Regelfall sogar in redlicher Weise tun. Sie werden tatsächlich glauben, der Ideologievorwurf sei unberechtigt, und ihn ehrlich als unrichtig verneinen. Ihren Vorschlag stellen sie dagegen meist als nachhaltig überzeugt wissenschaftliches, d.h. um größtmögliche Wahrheit bemühtes, Ergebnis vor. Deswegen geht der oft bemühte Ideologievorwurf der Kritik von links, aber auch von rechts in aller Regel in der Praxis fehl und hilft als Analysekonzept nur wenig. Er hilft nur in einem, die jeweilige Situation beschreibenden Sinn, nämlich in dem Sinne, dass hierbei die Gründe einer gesellschaftlichen Entscheidung offen gelegt werden. Hiermit wird aber niemand erreicht, der oder die nicht ohnehin schon vom Ideologievorwurf überzeugt ist. Deswegen ist es manchmal umso bedauerlicher, wenn sich die Kritische Theorie zeitaufwendig mit derartigen Ideologieanalysen beschäftigt, sich in der theoretischen Analyse befriedigt und dabei übersieht, wie wenig Wirkungskraft sie entfaltet. 12 Tatsächlich liegt das Problem, wie so oft, tiefer, in diesem Fall in der Tiefe des Unbewussten.
Neben der Erkenntnis, dass es keine Metaerkenntnis der einen richtigen Lösung geben kann, ist es damit der Glaube, den wir in unsere Kunstlehre einzustellen haben. Es ist eben nicht das Konzept einer umfassenden Sichtweise oder das einer aufgeklärten, alle Wechselwirkungen berücksichtigenden Steuerungstheorie, das uns leiten sollte. Das wird uns als aufgeklärte Menschen schwer fallen, nehmen wir für uns doch gerade in Anspruch, den Glauben zumindest jenseits der Religion durch das Konzept der Vernunft, und damit dem der Rationalität ersetzt zu haben. Dabei wird jedoch meist verkannt, dass auch dieses Konzept brüchig ist, und in letzter Konsequenz dank Nichtwissens des Glaubens an die Vernunft bedarf. 13 Bei komplexen Problemen mögen wir mit rationalen Erwägungen häufig zu einer Lösung kommen. Wenn wir aber dabei die Richtigkeit dieser Lösung behaupten, geht Rationalität immer einher mit Glauben. Vertreterinnen und Vertreter eines analytischen Wissenschaftsbegriffs meinen, diesem Dilemma mit der vorläufigen Richtigkeit der Erkenntnis bis zum Gegenbeweis entkommen zu können. 14 Das hilft aber auch hier aus gleich zwei Gründen nicht weiter. Zum einen bedeutet auch dies Glauben an die vorläufige Richtigkeit. Zum anderen aber hilft diese Konzeption praktisch nicht weiter, da wir in komplexen Entscheidungssituationen wie der, wie soll ein bestimmter Lebenssachverhalt gesteuert werden?, immer mehrere vorläufige, sich widersprechende wissenschaftliche Lösungsvorschläge haben werden. Das gleiche gilt im Übrigen für die Diskurstheorie, die das Problem der richtigen Lösung durch das Führen eines idealen, optimalen Diskurses zu lösen versucht, 15 damit aber an eine Utopie glaubt.
„Der große Fehler des Rationalismus besteht darin, dass er abstrakte Prinzipien als ein Letztes ansieht, in dessen bewundernder Betrachtung unser Intellekt rührend verweilen mag.“ 16 Entscheidungen, die mit der Begründung getroffen werden, ein Weg müsse so und nicht anders eingeschlagen werden, da es für diesen (wirtschafts-/xyz-)wissenschaftlich keine Alternative gibt, sind auf diesem Hintergrund eben keine guten Entscheidungen, da sie dem wissenschaftlichen Ergebnis oder der Abstraktionshöhe des Gesagten unhinterfragt Glauben schenken und den Intellekt bloß befriedigen. Derartige Entscheidungen bleiben nach Gesagtem theoretisch immer angreifbar. Gleichwohl müssen Entscheider und Entscheiderinnen die Begründungen der verschiedenen Wissenschaften zur Kenntnis nehmen, dabei aber versuchen, den jeweiligen Glauben in Rechnung stellen. Am Ende bleiben dann wieder nur die Abwägung und der Kompromiss, damit die Relativität des Ergebnisses. Dabei geht es um eine praktische und in letzter Konsequenz auch subjektive Entscheidung. Bei dieser praktischen und sozialen Entscheidung sind freilich eine jede Entscheiderin und ein jeder Entscheider wieder der Gefahr ausgesetzt, dass ihr oder sein Plazet ideologisch motiviert ist. Das braucht hier aber nicht zu stören, da die Entscheider und Entscheiderinnen eben gerade im Akt der Entscheidung keine Vertreter der Wissenschaft sind. Sie müssen praktische Lösungen präsentieren, sie müssen vermitteln, die reine Lehre der einen oder anderen Wissenschaft zu vertreten, kann dabei kein gutes Vermittlungsergebnis sein. Gerade eine solche Vorgehensweise aber ist die Domäne der Politik, die nun mal multipolar ist.
… und die Hoffnung?
Diejenigen, die statt einer solchen Vermittlung von Lösungsvorschlägen einseitig auf den Zug einer Leitwissenschaft aufspringen, und den Vorgaben derselben sklavisch folgen, sind bloß Gläubige. Sie beherrschen gerade nicht die Kunstfertigkeit, von der hier die Rede ist. Gleichwohl sind diese Gläubigen nach wie vor zuhauf im Tagesgeschehen unterwegs und hinterlassen dort ihre Spuren. Es soll nicht resignierend klingen, wenn angesichts dieses Befundes nur eindringlich daran erinnert werden kann, „richtig“ zu wählen, wenn es schon keine richtigen Entscheidungen geben kann. Im Wahlakt selbst bekennen wir uns letztlich angesichts aller aufgezeigten Schwierigkeiten der wissenschaftlichen und damit auch elitären Entscheidungsfindung zu einer Alternative, nämlich zur Erkenntnisfindung des Parlaments. Dass diese Wahlentscheidung angesichts der Beherrschung der Diskurse nicht so autonom ist, wie wir es in der Theorie gerne hätten, ist ein Makel, mit dem wir aber wohl oder Übel leben müssen. Zur Abhilfe können wir dann nur versuchen, an den Bedingungen der Diskurse selbst anzusetzen. Wenn all das nichts bringt, müssen wir auf den Zorn der Nemesis hoffen.
Anmerkungen:
1 Von diesem entwickelt in: Anarchy, State, and Utopia, Cambridge (Mass.) 1974.
2 Hierzu Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1974.
3 Bei der Restprivatisierung der Lufthansa wurde das LH-Papier beispielsweise als „sexy Aktie“ vorgestellt, siehe Tagesspiegel v. 30.09.1997.
4 Vgl. nur Anthony Giddens, The Third Way, Cambridge (Engl.) 1999.
5 Zu diesem Begriff umfassend Susanne Baer, „Der Bürger“ im Verwaltungsrecht zwischen Obrigkeit und aktivierendem Staat, 2000, S. 484 ff. (Manuskript, erscheint 2002).
6 Carl Böhret / Götz Konzendorf, Ko-Evolution von Gesellschaft und funktionalem Staat. Ein Beitrag zur Theorie der Politik, 1997.
7 Michael Brumlik, Was heißt „zivile Gesellschaft“? – Versuch, den Pudding an die Wand zu nageln, Blätter für deutsche und internationale Politik 36 (1991), S. 987 ff.; auch Friedrich Jaeger, Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 2001.
8 Hierzu sehr anschaulich Jerry Mander / Edward Goldsmith (Hrsg.), Schwarzbuch Globalisierung. Eine fatale Entwicklung mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern, 2002.
9 Vgl. für die Rechtswissenschaft Ronald Dworkin, Law’s Empire, Cambridge (Mass.) 1986, S. 239 ff.
10 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, S. 97 ff.
11 Hierzu Lawrence Lessig, The New Chicago School, 27 J. Legal Stud., 661 ff. (1998).
12 In diesem Sinne bedauernd Richard Rorty, Achieving our Country, Cambridge (Mass.) 1999 zum Wirkungsproblem linker Theorie.
13 Hierzu Pierre Schlag, Enchantment of Reason, Durham (North Carolina) 1998.
14 Vgl. nur Karl Popper, Logik der Forschung, 8. Auflage 1984.
15 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, 1981, Band 1, Seite 47 ff.
16 William James, Der Pragmatismus, 1977, S. 170.
Weiterführende Literatur:
Benz, Angelika, Regulierung, Deregulierung und Reregulierung – Staatsentlastung?, in: Beck, Joachim u.a. (Hrsg.), Arbeitender Staat, 1995.
Bourdieu, Pierre, Gegenfeuer (Übersetzung von „Contre-feux: Propos pour servir à la résistance contre l’invasion Néo-Libérale“), 1998.
Gusy, Christoph, Privatisierung als Herausforderung an Rechtspolitik und Rechtsdogmatik, in: ders. (Hrsg.), Privatisierung von Staatsaufgaben, 1998.
Müller, Markus M. / Sturm, Roland, Ein neuer regulativer Staat in Deutschland?, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1998, S. 507 ff.
Schuppert, Gunnar Folke, Rückzug des Staates?, Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 1995, S. 761 ff.
Voigt, Rüdiger (Hrsg.), Abschied vom Staat – Rückkehr zum Staat?, 1993.