Privatisierung im Sozialrecht – das erinnert sofort an die Rentenreform mit der Einführung einer kapitalgedeckten, privaten Zusatzvorsorge sowie die Diskussionen um Pflicht- und Wahlleistungen und mehr Eigenbeteiligung in der gesetzlichen Krankenversicherung. „Explodierende“ Kosten und Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden zur Begründung der grundlegenden Veränderungen der sozialen Sicherungssysteme angeführt. Die Privatisierung sozialer Risiken hat jedoch neben einer erheblichen finanziellen Mehrbelastung der Privathaushalte eine Verstärkung sozialer Ungleichheiten und Diskriminierungen zur Folge und bedeutet die Abkehr von mehreren Grundprinzipien des Sozialstaats.
Soziale Sicherheit und Sozialversicherung Die Grundlagen der Sozialstaatlichkeit in Deutschland leiten sich aus dem Sozialstaatsprinzip her, das die Gebote der sozialen Sicherheit und der sozialen Gerechtigkeit enthält. Der Staat ist danach unter anderem verpflichtet, ein menschenwürdiges Existenzminimum für alle zu ermöglichen, und die Lebensverhältnisse im obigen Sinne zu gestalten. Kernelement der sozialen Sicherheit ist dabei die Absicherung existenzieller Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter oder Erwerbsunfähigkeit durch die Sozialversicherung. Veränderungen der Ausgangslagen Die zentralen Säulen der sozialen Sicherungssysteme gehen in ihren Ursprüngen auf die Bismarckschen Sozialgesetze des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück, wurden in den 50ern grundlegend weiterentwickelt und bilden seitdem immer noch das entscheidende Grundgerüst. Rentenversicherung In Rentenreformen wurde bisher vor allem auf der Ausgabenseite gespart durch Veränderungen der Anpassungsformel der Rente (was einen schlechteren Ausgleich der Inflation bedeutete) und Abschläge bei der Rentenhöhe bei einem früheren Eintritt ins Rentenalter. Versicherung gegen Umverteilung Private Vorsorgeverträge kennen keine Umverteilungskomponenten, da sie nach dem versicherungsrechtlichen Äquivalenzprinzip arbeiten. Die Folge hiervon ist, dass Zeiten, in denen nur ein sehr niedriges Einkommen zur Verfügung steht oder einfach keine Beiträge gezahlt werden können, zu beitragsfreien Zeiten werden. Bei Arbeitslosigkeit oder Kindererziehung werden dann zwar nach wie vor Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung gutgeschrieben, nicht jedoch in der Zusatzvorsorge. Personen mit brüchigen Erwerbsbiographien (besonders Frauen!) müssen daher starke Einbußen bei der Rentenhöhe in Kauf nehmen. Überlegenes Kapitaldeckungsverfahren? Ein grundsätzlicher Kritikpunkt an der Einführung der privaten Zusatzvorsorge, die auf dem Kapitaldeckungsverfahren basiert, ist ferner, dass die an sie geknüpften Erwartungen auf einem zu großen Vertrauen in den Markt basieren. Kapitaldeckungsverfahren bedeutet, dass die Rente durch selbst angespartes Kapital finanziert wird. Die gesetzliche Rentenversicherung funktioniert nach dem Umlageverfahren, bei dem die Renten eines Jahres durch die Beitragszahlungen desselben Jahres finanziert werden. Das Risiko des Kapitaldeckungsverfahren besteht darin, dass die erwarteten Renditen bei der Kapitalbildung nicht erreicht werden. Die geschichtliche Entwicklung der Alterssicherung zeigt, dass Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren sich mehrmals abwechselten. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit Weltwirtschaftskrisen und Hyperinflationen wurde in den 50ern wieder auf das Umlageverfahren zurückgegriffen, da nur so eine Stabilität und verlässliche Alterssicherung im Sinne einer Lebensstandardsicherung garantierbar schien.6 Die nach der Riesterreform staatlich förderbaren Anlageformen müssen demgegenüber nur eine Nominalwertzusage enthalten, was dazu führen kann, dass die Ersparnisse massiv entwertet werden, wenn die Renditen hinter den Erwartungen zurückbleiben. Kritisiert wird ferner, dass das neu angelegte Kapital dazu beiträgt, das internationale Spekulationskarussel weiter anzuheizen. Krankenversicherung In der Krankenversicherung tritt Privatisierung durch die Rückverlagerung des Krankheitsrisikos auf die/ den EinzelneN durch Kürzungen von Leistungen (Zahnersatz, Nichtübernahme der Kosten für sogenannte Bagatellarzneimittel, schrittweises Auslaufen des Sterbegeldes) und höhere Selbstbeteiligungen (Medikamente, Hilfsmittel) auf. Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung ist in ihrer Ausgestaltung als Sozialversicherung im Grunde purer Etikettenschwindel, da sie de facto von den ArbeitnehmerInnen alleine finanziert wird. Bei ihrer Einführung wurde der Buß- und Bettag als gesetzlicher Feiertag gestrichen, so dass die jetzt von den ArbeitgeberInnen entrichteten hälftigen Beiträge hierdurch kompensiert werden. Auch wenn die ArbeitnehmerInnen die Pflegeversicherung also schon jetzt allein finanzieren, drohen weitere Kosten in Form von Beitragserhöhungen oder durch Einführung einer privaten Zusatzvorsorge 11, da die Pflegeversicherung die Kosten langfristig wohl nicht decken kann. „Kostenexplosion“ und grundsätzliche Tendenzen Die Bereiche der Kostenverlagerung auf die Privathaushalte und die Privatisierung von Risiken lassen sich beliebig ergänzen. Schon lange ist z.B. das BAföG keine wirklich angemessene Studienfinanzierungsmöglichkeit mehr. Über die geänderte Berechnung des notwendigen Bedarfs wurde der Sozialhilferegelsatz, über eine Begrenzung der berücksichtigungsfähigen Miete das Wohngeld gekürzt. Derzeit hat die Diskussion um Einsparmöglichkeiten bei Arbeitslosengeld und -hilfe Hochkonjunktur. Der aktivierende Staat Der Entwertungsdiskurs stellt ferner die Anpassungsfähigkeit der Sicherungssysteme an den demographischen Wandel in Frage und wirft ihnen das Setzen falscher Anreize, ein Einschnüren der wirtschaftlichen Dynamik und Globalisierung sowie mangelnde Rentabilität vor. Hierbei werden allerdings fehlerhafte Vergleiche vorgenommen, da häufig die Chancen und Risiken verschiedener Sicherungssysteme in idealen und realen Situationen miteinander verglichen werden, ohne wirtschaftliche Rahmenbedingungen (Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum) angemessen zu berücksichtigen. 17 Dabei ist nicht feststellbar, ob z.B. das Kapitaldeckungsverfahren in der Rentenversicherung besser auf diese Veränderungen reagiert. 18 Der Diskurs hat aber bewirkt, dass seine Prämissen nicht mehr hinterfragt werden und so der Diskurs Realität wurde. 19 Alternativen? Auch wenn nach dem bisher Gesagten klar wird, dass Privatisierung im Sozialbereich bestehende Probleme eher verschärft als löst, wäre ein Festhalten am bisher oder vorher Bestehenden wenig überzeugend.
Fußnoten: 1 Schmähl, Winfried, Auf dem Weg zur nächsten Rentenreform in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35-36/ 2000, 14. Literatur: Karin Bieback, Strafe für ein langes Leben und Kinder?, in: Forum Recht 2001, 48 – 51. |