Hierzulande und weltweit beruht das System des Strafvollzugs vor allem auf dem Entzug von Freiheit als Strafe. Dabei können nicht nur die derzeitigen Bedingungen des Vollzugs angeklagt, sondern die Sinnhaftigkeit der Einsperrung als Strafform grundsätzlich in Frage gestellt werden.
Seit dem Mittelalter ist die Geschichte der Zivilisation eng verknüpft mit der Geschichte des Strafens. In „Überwachen und Strafen“ skizziert Foucault die Entstehung der Gefängnisse ab dem Ende des 18. Jahrhunderts. Er beschreibt, wie an die Stelle der Marter ein System der Disziplinierung trat.[1] Statt öffentlich gefoltert zu werden, wurden Straftäter*innen isoliert und mussten an einem durchstrukturierten Tagesablauf teilnehmen. Über die Disziplinierung des Körpers sollte der Geist kontrolliert werden.[2] Um Ausbrüche zu verhindern, wurden Mauern gebaut, später kamen Stacheldraht und bewaffnete Wachposten hinzu. Die vorherrschende rechtstheoretische Schule begriff das Verbrechen als Verbrechen gegen die Ordnung des Souveräns. Mit dem Gesellschaftsvertrag wurde die Macht des Strafens also an den Staat abgegeben, zu dessen Aufgaben die Sicherung der friedlichen Koexistenz aller in ihm lebenden Bürger*innen zählte. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, musste es die Möglichkeit einer „Rückführung“ straffälliger Personen zu „gesellschaftsfähigen Individuen“ geben. Auch wenn Gefängnisse mittlerweile Justizvollzugsanstalten heißen, so ist die Vertragstheorie bis heute Fundament dieses Systems. Dabei ist zu beobachten, dass es sich bei den Disziplinierungs- und Überwachungsprozessen nicht um aus der Gesellschaft ausgelagerte Mechanismen handelt, diese haben vielmehr auch in weiteren Institutionen wie Schulen, Fabriken und Kasernen Einzug gefunden.[3]
Gefängnisse in Deutschland heute
Mittlerweile wird die Gefängnisstrafe als Korrektur auch im Resozialisierungsgedanken des Art. 1 I in Verbindung mit Art. 2 I Grundgesetz (GG) verortet und folgt nach Auffassung der Rechtsprechung bereits aus dem Sozialstaatsprinzip in Art. 20 I GG.[4] Neben den Gefängnissen in Form von Justizvollzugsanstalten gibt es gem. §§ 63 ff. Strafgesetzbuch Einrichtungen des Maßregelvollzugs und der Psychiatrie. Entscheidendes Kriterium bei der Unterbringung ist die Schuldunfähigkeit, also die Unzugänglichkeit der normativen Fehlvorstellung des Täters bei der Tat.[5] Die für diese Beurteilung notwendigen Kategorien wurden mithilfe der modernen Wissenschaften, allen voran der Psychologie, entwickelt. Straftäter*innen können nun durch entsprechende Verfahren „beschrieben, verglichen und klassifiziert“ werden, um anschließend in einer der drei Einrichtungen „korrigiert“ beziehungsweise „behandelt“ zu werden. Neben dem Merkmal der psychischen Gesundheit wird bei der Unterbringung auch in Alter und Geschlecht unterteilt. Obgleich sich architektonisch seit dem 19. Jahrhundert nicht viel geändert hat, konnten hinter den Mauern Fortschritte erstritten werden, etwa die Möglichkeit der Nutzung von Fernsehern. Je nach Art der Einrichtung variieren die Möglichkeiten, eingeschränkt Besuch zu empfangen oder zu arbeiten. Mittlerweile ermöglicht fast jede Einrichtung den Zugang zu kulturellen Angeboten wie Bibliotheken. Allen Einrichtungen gemein ist die umfangreiche Klassifizierung in normales und abnormales Verhalten sowie der Entzug von Freiheit als Strafe.
Warum man Gefängnisse abschaffen sollte
Laut einer Studie des Bundesjustizministeriums wird jede*r zweite Straftäter*in rückfällig.[6] Für den ehemaligen Justizvollzugsanstaltsleiter Thomas Galli liegen die Gründe hierfür klar auf der Hand: Ein System, das nur auf Wegsperren ausgerichtet ist, leiste keine Rehabilitation.[7] Doch nicht nur die hohen Rückfallquoten sprechen gegen den derzeitigen Vollzug. Aus juristischer Sicht stellt das Wegsperren einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 10 Abs. 1 GG dar. Konkret wird neben der Bewegungsfreiheit in die freie Arztwahl, die Wahl des Kommunikationsmittels, die Möglichkeit einer autonomen Einteilung des Tages und die Wahl der Beschäftigung eingegriffen.[8] Als Ultima Ratio staatlicher Gewaltausübung dürfen sich auch diese Eingriffe keiner Verhältnismäßigkeitsprüfung entziehen. Problematisch erscheint dies schon im Hinblick auf Ersatzfreiheitsstrafen, die wegen nicht geleisteter Geldstrafen – häufig etwa wegen Fahrens ohne gültigen Fahrschein – vollzogen werden. Allein im Jahr 2017 saßen 4.700 Personen aufgrund solcher Ersatzfreiheitsstrafen in Gefängnissen.[9] Generell liegt, zumindest in Sachsen, der Anteil an Haftstrafen aufgrund von Vermögensdelikten bei etwa 50 %.[10] Ebenso wie der körperlichen Unversehrtheit kommt auch dem Eigentum ein grundrechtlicher Schutz zu. Um die Ursachen von Kriminalität jedoch zu verstehen, ist bei der Suche nach dem mildesten Mittel zu deren Bewältigung ein genauer Blick auf die Lebenswege straffällig gewordener Personen unerlässlich. Diese seien laut Galli häufig durch frühkindliche Missachtung natürlicher Bedürfnisse, Gewalt und Vernachlässigung geprägt.[11] Sobald sie entlassen wurden, haben viele zusätzlich mit sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung zu kämpfen. Dies erschwert auch die bezweckte Wiedereingliederung, etwa in das Berufsleben, worunter nicht nur der*die Täter*in, sondern auch Freund*innen und Familie leiden. Nicht selten werden Kinder von Straftäter*innen später selbst delinquent. Für den Rechtssoziologen Johannes Feest jedenfalls steht fest, dass Gefängnisse nur die Illusion fördern, Kriminalität würde langfristig bekämpft werden.[12] Es sei an der Zeit, das Gefängnissystem als globales Desaster wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren. Es ist nicht nur gescheitert, es ist auch kontraproduktiv.[13]
Über das Aufbrechen alter Gemäuer
Dem Widerspruch zwischen dem, was Gefängnisse erreichen sollen und dem, was tatsächlich erreicht wird, wird derzeit unterschiedlich begegnet. Die Gefangenengewerkschaft GG/BO etwa setzt sich für bessere Bedingungen hinter Mauern ein. Sie fordern mehr Gewerkschaftsfreiheit, einen gesetzlichen Mindestlohn und die volle Sozialversicherung. Beim Seehaus Leipzig e.V., einem „Vollzug in freien Formen“, können sich jugendliche Straftäter*innen um einen Platz bewerben, welcher ihnen ermöglicht, die verbleibende Haftzeit in einer betreuten Wohngemeinschaft außerhalb von Stacheldraht und Mauern zu verbringen. Vergleichbare Pilotprojekte gibt es in Baden-Württemberg und Brandenburg. International lassen sich ähnliche Konzepte in Norwegen, auf der Insel Bastøy oder den Niederlanden finden.[14] Der Vollzug in freien Formen ist in Deutschland gesetzlich noch nicht normiert. Lediglich der offene Vollzug wird in § 141 Abs. 2 Strafvollzugsgesetz definiert. Dort heißt es, dass diese Anstalten „keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen vorsehen“. Ein Aufbrechen alter Gemäuer kann in jedem Fall nur funktionieren, wenn der gedankliche Unterbau stimmt. Straffällige Personen stellen derzeit eine Gefahr für ein System dar, welches gerade darauf beruht, dass gefolgt und ausgeführt wird. Um neuen, integrativen Ideen des Miteinanderlebens und Alternativen des Strafens einen rechtstheoretischen Raum zu ermöglichen, müssten neue Verfahrensformen entwickelt werden.
Weiterführendes Material:
Sebastian Scheerer, Abschaffung der Gefängnisse, Kriminologisches Journal 2018, 167.
AG Interdisziplinäre Gefängniskritik Leipzig, Audiomitschnitte der Veranstaltungsreihe „Hinter den Mauern lauert das Böse? – eine interdisziplinäre Gefängniskritik“, https://bit.ly/2VUJDcj.
[1] Michel Foucault, Überwachen und Strafen – Die Geburt der Gefängnisse, 1977, 93.
[2] Ebd., 174.
[3] Sebastian Scheerer, Abschaffung der Gefängnisse, Kriminologisches Journal 2018, 171.
[4] Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 35, 202, 236.
[5] Michael Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, 387.
[6] Jörg-Martin Jehle et al., Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen: Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2010 bis 2013 und 2004 bis 2013, 2016, https://bit.ly/2JCPYlO (Stand: 21.03.2020).
[7] Thomas Galli, Endstation Knast – Ein Gefängnisdirektor packt aus, 2019, Einbandtext.
[8] Johannes Feest / Wolfgang Lesting, Strafvollzugsgesetzkommentar, 7. Aufl., 2016, 28 Rn. 20.
[9] BT-Drs. 19/803, 3.
[10] Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, https://www.statistik.sachsen.de/html/476.htm (Stand 21.03.2010).
[11] Thomas Galli, Endstation Knast – Ein Gefängnisdirektor packt aus, 2019, 185-187.
[12] Johannes Feest, Manifest zur Abschaffung von Strafanstalten und anderen Gefängnissen, https://bit.ly/345xB26 (Stand 21.03.2020).
[13] Sebastian Scheerer (Fn. 3), 175.
[14] Hans Claus, Huizen. Naar een duurzame Penitentiaire aanpak. 2013.