Immer häufiger werden Aktivist_innen an Bord ziviler Seenotrettungsorganisationen strafrechtlich verfolgt, ihre Schiffe festgesetzt und das Anlanden in Häfen untersagt. Doch wie verhält sich die vermeintliche Rechtfertigung des Unterlassens von Rettungsmaßnahmen auf Hoher See und der Schließung von Häfen im Lichte des Völkerrechts?
Als Kapitänin der „Sea-Watch 3“ entschied sich Carola Rackete im Juni 2019, über 50 zuvor auf See Gerettete im nächstliegenden Hafen Lampedusa auszuschiffen – ohne eine Erlaubnis Italiens.
Das Seenotrettungsschiff hatte bereits mehrere erfolglose Anfragen an europäische Häfen gestellt, um die Geretteten an Land bringen zu dürfen. Rackete stellte sich damit auch gegen die Anweisung der sogenannten libyschen Küstenwache, die Geretteten zurück nach Libyen zu bringen. Da unklar ist, inwieweit die libyschen Seegrenzen von der Regierung der Nationalen Einheit oder von Milizen kontrolliert werden, wird im Folgenden lediglich von der „sogenannten“ libyschen Küstenwache gesprochen. Berichten zufolge bedrohen bewaffnete Warlords, die als Küstenwache arbeiten, Geflüchtetenboote und bringen Geflüchtete gewaltsam zurück auf libysches Festland.[1] In Italien wurde Rackete für das Anlegen in Lampedusa ohne Erlaubnis festgenommen und unter Hausarrest gestellt.
Grundsätzlich benötigen Schiffe generell eine Anlegeerlaubnis der zuständigen Behörde, damit sie einen Hafen anfahren dürfen. Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob bei Seenotfällen, die in ihrem Ausmaß humanitären Katastrophen gleichen, von der Anlegeerlaubnis abzusehen ist. Kann das Völkerrecht, insbesondere seine Schutzpflichten, die Schließung von Häfen gegenüber auf See geretteten Personen rechtfertigen und wohin sind die Geretteten überhaupt auszuschiffen?
Die Pflicht zur Rettung auf See
Bei seenotleidenden Flüchtenden muss neben den Menschenrechten und dem internationalen Flüchtlingsrecht auch das internationale Seerecht bedacht werden. Eine Seenotrettungspflicht besteht nach internationalem Seerecht in allen Meereszonen. Das UN-Seerechtsübereinkommen (SRÜ) teilt die Weltmeere in folgende Zonen: Das Küstenmeer verläuft höchstens 12 Seemeilen jenseits des küstenstaatlichen Landgebietes und gehört zum Territorium des Küstenstaates, weshalb nationales Recht anzuwenden ist. Dem folgt die Anschlusszone, die Ausschließliche Wirtschaftszone und schließlich die Hohe See. Letztere stellt einen Bereich der Weltmeere dar, in dem keine nationale Rechtsordnung anwendbar ist. Dort gilt das Prinzip der Freiheit der Meere, wonach jeder Staat Schiffe unter seiner Flagge mit Anwendung der jeweiligen Rechtsordnung fahren lassen kann.
Nach Art. 98 SRÜ verpflichtet jeder Vertragsstaat „den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes […], jede Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten.“ Der Wortlaut des Art. 98 SRÜ verspricht eine unbedingte Pflicht zur Seenotrettung. Nach Sinn und Zweck der Norm ist allein das Schutzbedürfnis der in Seenot befindlichen Menschen ausschlaggebend. Unerheblich ist es, ob die Seenotlage schuldhaft entstanden ist. Schiffe dürfen und müssen Seenotrettung leisten, sobald sie von einem Unglücksfall erfahren. Dies gilt für zivile Rettungsschiffe ebenso wie für alle anderen Schiffe. Anschließend sind die Schiffbrüchigen an einen sicheren Ort zu bringen, an dem das Leben der Geretteten nicht mehr in Gefahr ist, wie es sich aus dem Annex 1.3.2. des Internationalen Übereinkommens über den Such- und Rettungsdienst auf See ergibt. Die Maritime Safety Commitee-Richtlinien gehen von einem sicheren Ort nur dann aus, wenn nicht die Sicherheit oder das Leben der Überlebenden gefährdet ist. Bei Flüchtenden ist dabei vor allem auch die Gefahr vor Verfolgung und Kettenabschiebung zu beachten. Von einer Kettenabschiebung ist laut Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auszugehen, wenn in dem Staat, in welchen zurück abgeschoben wird, das reale Risiko einer menschenrechtsverachtenden Bedrohung durch Weiterschiebung in den Herkunftsstaat besteht.[2]
Offensichtlich ist die Rechtslage nicht darauf ausgerichtet, Szenarien wie sie sich zurzeit auf dem Mittelmeer abspielen, zu klären. Viel zu uneindeutig sind die Zuständigkeiten der Küstenwachen oder zivilen Schiffen sowie der Ort der Ausschiffung, der über das weitere Verfahren der Geretteten entscheidet. Somit ist auch nicht geklärt, ob das Recht zum Anlanden am nächsten Hafen bzw. der Aufenthalt in dessen Küstenmeer infolge einer Seenotrettung die territoriale Souveränität und Gebietshoheit des Küstenstaates überwiegt. Es ist zwar ein völkergewohnheitsrechtliches Nothafenrecht anerkannt, also ein Anlanden in einem Hafen, obwohl keine Anlegeerlaubnis erteilt wurde. Das Nothafenrecht gilt aber erst, wenn sich das zur Rettung dienende Schiff selbst in Seenot befindet. Das heißt, wenn eine unmittelbare und ohne fremde Hilfe unabwendbare Gefahr für das Leben von Besatzungsmitgliedern oder Passagieren droht und nicht durch Versorgung von Land aus geholfen wird.[3]
Der Fall „Hirsi et al v. Italien“
Der EGMR hat 2012 im Fall „Hirsi et al v. Italien“ entschieden, dass auf dem Mittelmeer gerettete Personen nicht zurück nach Libyen verbracht werden dürfen, da dieses Vorgehen völkerrechtswidrig sei.[4] Im Jahr 2009 versuchten 200 Flüchtende und Migrant_innen von Libyen nach Italien mit einem Boot zu gelangen. Auf Hoher See wurden sie von der italienischen Küstenwache abgefangen und zurück nach Libyen gefahren, ohne die Möglichkeit den Flüchtlingsstatus zu beantragen. Nachweislich drohen Geflüchteten in Libyen Folter.[5] Im genannten Fall hätte Italien die Flüchtenden und Migrant_innen daher nicht nach Libyen zurückbringen dürfen. Ein Ausschiffen in einem sicheren Hafen wäre legal gewesen. Was aber sind sichere Häfen? Nach dem Internationalen Flüchtlingsrecht und den Menschenrechten sollte ein sicherer Hafen ein Ort sein, an dem Geflüchtete nicht Verfolgung, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlungen ausgesetzt sind. Hieraus ergibt sich das völkerrechtliche Refoulementverbot. Innerhalb der 12-Meilenzone bedeutet es, dass Flüchtende und Migrant_innen nicht im Küstenmeer zurückgewiesen werden dürfen, sondern zunächst ein Ausschiffen in sichere Häfen stattzufinden hat, um Menschenrechtsverstöße in unsicheren Drittstaaten zu verhindern. Bei Handlungen gegenüber Flüchtenden und Migrant_innen außerhalb der 12-Meilenzone stellt sich die Frage, ob das Refoulementverbot anzuwenden ist, da sich die Betroffenen auf Hoher See befinden und somit keiner nationalen Rechtsordnung unterworfen sind. Es wäre also eine extraterritoriale Anwendung des internationalen Rechts nötig. Extraterritorial ist entweder ein Territorium eines anderen Staates oder ein staatsfreies Gebiet wie die Hohe See. Außerhalb der 12-Meilenzone ergibt sich aus internationalem Völkerrecht zwar keine Pflicht auf Aufenthaltsgewährung, die Schließung von Häfen verstößt aber dennoch gegen das Refoulementverbot. Denn aus praktischen Gründen kann eine Prüfung des Flüchtlingsstatus an Bord eines Schiffes nicht gewährleistet werden, weshalb zumindest ein vorübergehender Aufenthalt an Land gestattet sein muss.
Im Fall „Hirsi et al v. Italien“ übte Italien „de jure“ Jurisdiktion aus – unter anderem nach internationalem Seerecht, indem die Flüchtenden und Migrant_innen auf Schiffe unter italienischer Flagge gebracht wurden. Eine „de facto“ Jurisdiktion fand dadurch statt, dass die Personalien der Menschen an Bord vom italienischen Militär aufgenommen wurden. In dem Urteil des EGMR wurde somit keine Verbindung zum italienischen Festland verlangt, denn dieses betraten die Flüchtenden und Migrant_innen nicht, da sie von Hoher See zurück nach Libyen verbracht wurden. Nur mit einer extraterritorialen Anwendung kann dem Sinn und Zweck der in den völkerrechtlichen Verträgen geschützten Rechte nachgekommen werden. Das Refoulementverbot ist nicht an Staatsterritorien gebunden. Es ist vielmehr als ein „cornerstone of asylum and of international refugee law“[6] zu verstehen. Die jeweiligen staatlichen Organe haben durch ihren funktionalen Territorialbezug zum Hoheitsgebiet beim Ausführen ihrer hoheitlichen Gewalt das Refoulementverbot zu beachten.
Offene Häfen für Geflüchtete
Weder das Seevölkerrecht noch das allgemeine Völkerrecht zeigen eindeutig, wo die Grenzen des Zulässigen bezüglich des Unterlassens von Rettungsmaßnahmen und der Schließung von Häfen liegen. Bis heute liegt die vermeintliche Lösung der Europäischen Union (EU) zur Verhinderung von Migration über das Mittelmeer im Unterstützen der sogenannten libyschen Küstenwache durch die Ausweitung von FRONTEX. Die EU-Grenzschutzagentur wird laut des Recherche-Zentrums „Correctiv“ im Jahr 2021 über ein Budget von 1,6 Milliarden Euro verfügen und „ihre Beamten dürfen neuerdings eigenständig Kontrollen an Grenzen durchführen (…). Sie koordiniert sowohl Einsätze auf dem Mittelmeer als auch den Umgang mit neu ankommenden Flüchtlingen in EU-Staaten und anderen Ländern“.[7] Gleichzeitig mehren sich die Berichte über das gewaltsame Vorgehen der Beamt_innen der europäischen Grenzschutzbehörde. Auch durch die neu beschlossene Beteiligung der EU am UN-Waffenembargo gegen Libyen wird der Einsatz der Marineschiffe auf das östliche Mittelmeer beschränkt. Somit wird offensichtlich die Pflicht umschifft, seenotleidende Flüchtende zwischen der libyschen Küste und Italien retten zu müssen. Die Lösung sollte aber in der Ermöglichung einer legalen Durchreise und sicheren Ankunft in europäischen Staaten liegen. Es erscheint vor allem notwendig, eine Liste zu schaffen, auf der alle sicheren und für Gerettete offenen Häfen an der europäischen Küste aufgeführt sind. Auch muss für die Verteilung der ankommenden Menschen innerhalb Europas das Dublin-System umfassend angepasst werden, um die Küstenstaaten zu entlasten. Unter Betrachtung der aktuellen Lage scheint das Leben der schutzbedürftigen Menschen dem Ziel der gesellschaftlichen Stimmung bezüglich geregelter Migration nachrangig zu sein. Grenzen werden geschlossen und die sich ständig ereignenden Katastrophen auf dem Mittelmeer werden ausgeblendet. Private Organisationen, welche die Lücke der staatlichen Verantwortung durch zivile Seenotrettung zu schließen versuchen, werden kritisiert und strafrechtlich verfolgt. Dabei ist Migration über See kein neues Vorkommen. Seit vielen Jahren suchen Menschen über diesen Weg Schutz vor Verfolgung und eine bessere Zukunft. Das Gefährliche ist nicht nur die Route an sich, sondern auch die meist seeuntauglichen Boote, welche für die Überquerung genutzt werden. Umfassende Such- und Rettungsaktionen auf See sind darum wichtige Instrumente, um das Sterben auf dem Mittelmeer verhindern zu können.
Nicht das Recht allein
Auch wenn es sich bei rechtlichen Fragestellungen viel um Gesetzestechnik handelt, so darf bei der Entwicklung der Gesetzessysteme die politische Auseinandersetzung nicht fehlen. Nur wenn das Recht auch seine Auswirkungen hinsichtlich gesellschaftlicher Prozesse und globalisierter Veränderungen wahrnimmt und reflektiert, kann es normativ und empirisch beachtet und akzeptiert werden. Um Migration vermeintlich „regulieren“ zu können, scheint es für einige plausibel die Flüchtenden und Migrant_innen erst gar nicht Staatsterritorium erreichen zu lassen und stattdessen extraterritoriale Kontrollen in Transitzentren durchzuführen. Zu vergessen ist dabei jedoch nicht, dass neben dem eigenen Grenzschutz auch Menschenrechte zu berücksichtigen sind. Unter Beachtung eben dieser menschenrechtlichen Grundsätze scheint es effektiver und sinnvoller am Ursprung, nämlich den Fluchtursachen, anzusetzen. Sicher ist eine migrationspolitische Regelung zunächst schneller erreicht, die Staaten trifft jedoch nicht zuletzt auch eine humanitäre Verpflichtung Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden. Eine Zusammenarbeit durch Abkommen zwischen nordafrikanischen Staaten und europäischen Mitgliedsstaaten, die vor der Küste Nordafrikas Transitzentren einrichten, in denen der Flüchtlingsstatus kontrolliert werden soll, verstößt gegen völkerrechtliche Verpflichtungen – soweit die Standards in den Transitlagern nicht eingehalten werden. Um die Zuwanderung über das Mittelmeer verringern zu können, sollte nicht eine Extraterritorialisierung von Migrationskontrollen vorgenommen werden, sondern ein legales Erreichen europäischen Territoriums ermöglicht werden. Nur so kann eine Bekämpfung der illegalen Schleuseraktivität erreicht werden. Möglicherweise verursachen auch zivile Seenotrettungsaktionen ein höheres Aufkommen von Schleuserbooten auf See, doch eine Verhinderung der Seenotrettung bedeutet ein Austragen asyl- und migrationspolitischer Probleme der EU auf dem Rücken der leittragenden Flüchtenden und Migrant_innen. Laut dem EGMR genügt für die Anwendung der konventionsstaatlichen Jurisdiktion bereits eine faktische Kontrolle über Personen oder Territorium. Werden Menschen an Bord eines europäischen Schiffes gerettet, so geht damit auch eine zumindest vorübergehende Ausschiffung in den jeweiligen Staat einher. Ansatzpunkt der Fluchtregulation ist somit die Verteilung auf europäische Staaten, um die Küstenstaaten zu entlasten, als auch die Fluchtursachenanalyse und -bekämpfung. Dabei zu vereinen sind nationale und vor allem supranationale Interessen, nämlich ein europäisches Zusammenspiel unter stetiger Beachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen. Insgesamt wird deutlich, dass territoriale Staatsgrenzen immer mehr in Kritik geraten, nicht nur hinsichtlich demokratischer Eingliederung, sondern auch zugunsten des Menschenrechtsschutzes.
Es bleibt zu hoffen, dass die Rechtsprechungslinie des EGMR in ihrer bisherigen Liberalität bezüglich der Jurisdiktion fortgeführt wird und das neueste Urteil vom 13.02.2020[8] kein Beginn einer neuen Praxis des EGMR darstellt. Denn nach letzterem dürfen Betroffene nur auf legalen Wegen Asylgesuche stellen. Wie aber soll das möglich sein, wenn es diese „legalen Wege“ nicht gibt?
Weiterführende Literatur:
Prof. Dr. Anuscheh Farahat, Prof. Dr. Nora Markard, Places of Safety in the Mediterranean: The EU’s Policy of Outsourcing Responsibility, Heinrich-Böll-Stiftung Brussels European Union, 2020.
Samantha Besson, The Extraterritoriality of the European Convention on Human Rights: Why Human Rights Depend on Jurisdiction and What Jurisdiction Amounts to, LJIL 2012, 857-884.
[1] https://undocs.org/S/2017/466 (Stand: 28.03.2020).
[2] EGMR Urt. v. 07.03.2000 – Nr. 43844/98, T. I. v. The United Kingdom.
[3] Douglas Guilfoyle, Art. 98, Rn. 11, in: Alexander Proelß (Hrsg.), United Nations Convention on the Law of the Sea: a commentary, 2017.
[4] EGMR Urt. v. 23.02.2012 – Nr. 27765/98, Hirsi et al v. Italien.
[5] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/02/libya-un-hrc/ (Stand: 28.03.2020).
[6] www.unhcr.org/refworld/docid/438c6d972.html (Stand: 28.03.2020).
[7] https://correctiv.org/top-stories/2019/08/04/frontex-transparenz/ (Stand: 28.03.2020).
[8] EGMR Urt. V. 13.02.2020, Nr. 8675/15 u. 8697/15.