„Es la violencia que no ves“. Die Gewalt, die niemand sieht. Unsichtbare Gewalt, die omnipräsent, weltweit und über alle Zeiten hinweg gravierend in Leben eingreift – Leben beendet. Gewalt von trauriger Aktualität, die sich auf tradierte Machtstrukturen und patriarchale Welterklärungsmuster stützt. Auch jenseits von Hexenverfolgungen in der Frühen Neuzeit und von Staaten, in denen es keine Gewaltschutzgesetze gibt, wie beispielsweise in Russland. So werden in Europa jährlich ungefähr 3.000 Frauen, meist von einer nahestehenden Person, getötet. Weltweit sind es mindestens 50.000 Opfer per annum, die Opfer von Femiziden werden.[1]
Der Begriff Femizid ist angelehnt an das englische „homicide“ (Tötungsdelikt) und geht auf die Soziologin Diana E.H. Russel zurück. Sie definiert den Begriff als „die Tötung von Frauen durch Männer, „weil sie Frauen sind“.[2] Die häufigste Fallgruppe stellen „Trennungstötungen“ dar. In Deutschland wird jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex-)Partner ermordet.[3] Insbesondere die frühere Gesetzgebung (bis in die 1970er Jahre) spiegelte das tradierte Prinzip männlicher Vormundschaft wider, aber es prägt auch heute noch Mentalitäten und Männer, die die Besitzansprüche an Frauen nicht verlieren wollen – und dabei bis zum Äußersten gehen. Auch wenn solche Verbrechen heute strafrechtlich verfolgt werden, so bedient sich die Rechtsprechung dabei Formulierungen, die diese vermeintlichen Eigentumsansprüche reproduzieren – und dabei teilweise in den Tätern vermeintliche Opfer zu sehen. Hier spiegeln sich hierarchische und patriarchale Machtstrukturen, die hinter den Ermordungen stehen.
Im Jahr 2006 verbildlichte die US-amerikanische Juristin Catherine A. MacKinnon die Ausmaße, die sich hinter diesen Zahlen verstecken, mittels eines Vergleiches: Die in den USA jährlich von Männern ermordeten Frauen seien quantitativ nahezu deckungsgleich mit den Opfern, die beim Terroranschlag vom 11. September 2001 ihr Leben verloren: 9/11 hat einen internationalen „War on Terror“ hervorgerufen, der Ermordung tausender Frauen alljährlich wird hingegen kaum Beachtung geschenkt. MacKinnons Fazit in Form einer offenen Frage lautet daher zurecht: “If […] the one problem can be confronted internationally, why not the other?“. [4]
Das Patriarchat ist ein Richter
Anders als in vielen Staaten Südamerikas gibt es Deutschland keinen eigenen Straftatbestand für Femizid im Strafgesetzbuch (StGB). Doch existieren auch hier mehrere Straftatbestände, die die vorsätzliche Tötung eines Menschen unter Strafe stellen. Ob nach §§ 211 (Mord) oder 212 (Totschlag) StGB bestraft wird, scheint maßgeblich davon abzuhängen, wer die Tat begeht. Die Unterscheidung der beiden Normen macht neben einem moralischen wohl vor allem den praktischen Unterschied, wie hoch das Strafmaß zu bemessen ist, denn eine Verurteilung nach § 211 bedeutet grds. lebenslängliche Freiheitsstrafe. „Mörder ist wer, …“ heißt es im § 211 StGB, gefolgt von einer Reihe von Kriterien, die einen Mörder ausmachen. Wenn keines dieser Merkmale greift, kommt § 212 StGB ins Spiel. Dort heißt es: Totschläger ist, „[w]er einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein“. Wenn Frauen jemanden umbringen, sind es meistens Personen, aus ihrem sozialen Umfeld. Oft ist es der langjährige Partner. Oft geht dieser Tat eine langjährige Vorgeschichte häuslicher Gewalt voraus. Bei Männern, die „ihre“ Frauen töten, motiviert meist eine Trennungsabsicht der Frau die Tat. Ulrike Lembke bringt es auf den Punkt: „Frauen wollen unerträgliche Beziehungen beenden, Männer wollen nicht, dass es vorbei ist.“[5] Was bedeutet dieser Umstand für die Rechtsprechung?
Tyrannenmord
Exemplarisch für viele Urteile soll ein Fall aus dem Jahr 2003 als Beispiel dienen, der vor dem Bundesgerichtshof (BGH) landete.[6] Eine Frau brachte ihren Mann um, weil sie darin den einzigen Ausweg für sich und ihre Kinder sah. Das Urteil beschreibt auf mehreren Seiten die Gräueltaten, die der Mann über Jahre hinweg verübte. Das Ausmaß der Misshandlungen war so extrem, dass er einmal sogar glaubte, er habe „seine“ Frau getötet. Mehrmals drohte er ihr, sowohl sie als auch die Kinder zu töten, sollte sie sich von ihm trennen oder Zuflucht in einem Frauenhaus suchen. Die Frau sah keinen anderen Ausweg, als den Mann mit dessen eigenen Revolver im Schlaf zu erschießen. Das Gericht urteilte nach § 211 StGB – also Mord. Zur Begründung stellte der BGH dabei auf das Mordmerkmal der Heimtücke ab. Heimtückisch handelt nach herrschender Meinung, wer eine beim Opfer bestehende Arg- und Wehrlosigkeit bewusst zur Tat ausnutzt.[7] Ist der Beginn eines Angriffs nicht ersichtlich, wie z.B. im Schlaf, gilt die angegriffene Person gemeinhin als wehrlos. Irrelevant ist, was dem Angriff vorausgegangen ist und ob die Person, die vorher Gewalttaten ausübte, sich tatsächlich als „arglos“ bezeichnen sollen dürfte. Heimtücke ist auch deswegen ein problematisches Mordmerkmal, weil es körperlich schwächere Personen, die sich gegen ihre körperlich überlegenden Peiniger zur Wehr setzen, kategorisch zu Mördern erklärt.
Angriff ist die beste Verteidigung?
Für Frauen, die jahrelang in lebensbedrohlichen Situationen leben, scheint der Übergang in die Offensive oftmals der einzig mögliche Ausweg aus der Unterdrückung. Ist diese Form der Selbstverteidigung strafrechtlich legitimiert? Notwehr definiert § 32 StGB als „…die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.“ Das heißt u.a.: Der Angriff, auf den sich die Notwehr bezieht, muss in diesem Augenblick stattfinden oder unmittelbar bevorstehen. Als weiterer Rechtfertigungsgrund käme der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB in Betracht. Diesen lassen Gerichte allerdings ausscheiden, da bei diesem eine Abwägung der zwei aufeinanderprallenden Rechtsgüter vorgenommen werden muss. Und da eine Abwägung Leben gegen Leben nach der Norm i.V.m. mit den Prinzipien des Grundgesetzes ausgeschlossen scheint, entfällt diese Möglichkeit. Jedoch käme als ein möglicher Entschuldigungsgrund der entschuldigende Notstand § 35 StGB in Betracht. Diesen haben die Richter*innen des BGH in diesem Zusammenhang 2003 erstmals eingebracht, ihn allerdings direkt wieder ausscheiden lassen. Die Frage, die aufgeworfen wurde, bezog sich darauf, ob die von dem Mann ausgehende Gefahr eventuell nicht anders abwendbar gewesen wäre. Jedoch kommen die Richter*innen zu dem Schluss: Die Tat war nicht „das einzig geeignete Mittel“, um „der Notstandslage wirksam zu begegnen“. Die Frau hätte behördliche Hilfen in Anspruch nehmen, also Anzeige bei der Polizei erstatten oder Schutz in einem Frauenhaus suchen müssen. Diese Argumentation überzeugt jedoch weder theoretisch noch praktisch. Theoretisch wird ein Täter-Opfer-Narrativ reproduziert, dass den Fehler bei den Opfern sucht: Das Opfer muss den Tatort verlassen, nicht der Täter die Tat. Das Opfer der Gewalt hat nach dieser Logik dem Unrecht zu weichen – selbst dann, wenn eben dies aufgrund von Morddrohungen unmöglich anmutet. Praktisch scheint das Argument bestenfalls realitätsfern und schlimmstenfalls zynisch. Denn dieses Argument hätte nur dann Bestand, wenn die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich sichergestellt wäre. Ein Blick auf die Zahlen der real existierenden Frauenhausplätze sowie der wirksamen Anzeigen bei der Polizei verdeutlicht dies. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat im Jahr 2017 1.096 entsprechende Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im gleichen Jahr wurden 682 Verfahren eingestellt.[8] Und von den 10.950 Frauenhausplätzen, die in Deutschland nach einem aus dem Artikel 23 der Istanbul-Konvention abgeleiteten Schlüssel vorhanden sein müssten, existieren nur rund 6.800.[9] Dennoch kam der BGH zu dem Entschluss, es seien keinerlei Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe ersichtlich und bestätigte das Urteil der vorherigen Instanz: § 211 StGB – Mord.
Von Männern, die Frauen töten
Was sagen Gerichte nun umgekehrt zu Männern, die „ihre“ Frauen töten? Zunächst einmal scheint ein Blick in die Medien, erhellende Einsichten in den diskursiven Umgang mit mordenden Männern zu geben. Dort ist häufig die Rede von „Trennungstötungen“ oder gar „Familien“- oder „Eifersuchtsdramen“ – als handele es sich um schiefgelaufene Telenovela-Liebesgeschichten.[10] Und tatsächlich scheinen vorangegangene „Dramen“ wie Eifersucht oder Trennungsabsichten als Motiv bei der Einschätzung der Richter*innen des BGH, ob ein Mord vorliegt, eine Rolle zu spielen. Oftmals geht diesen Taten voraus, dass die Frau sich trennt oder trennen möchte. Die Begründungen erwecken viel zu häufig Verständnis für den Täter, wie ein Urteil von 2003 veranschaulicht: „Vielmehr können in einem solchen Fall tatauslösend und tatbestimmend auch Gefühle der Verzweiflung und der inneren Ausweglosigkeit sein, die eine Bewertung als ‚niedrig‘ im Sinne der Mordqualifikation namentlich dann als fraglich erscheinen lassen können, wenn – wie hier – die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will“[11]. Die patriarchalen Besitzansprüche, die sich in Urteilen wie diesem spiegeln, sind allzu evident. Wie könnte jemand etwas verlieren, was ihm gar nicht gehört? Substanzielle Ungleichheiten und strukturelle Herrschaftsverhältnisse werden so ganz einfach ausgeblendet. Das Strafmaß wird dann oft gem. Totschlags § 212 StGB, also strafmildernd bemessen.[12]
In Artikel 46 der Istanbul-Konvention wird festgelegt, dass es als strafverschärfend berücksichtig werden muss, wenn die Tat von (Ex-)Partner*innen verübt wird.[13] Dieser völkerrechtliche Vertrag wurde 2011 ausgearbeitet, im Februar 2018 von Deutschland ratifiziert und damit national gültig. Obwohl Deutschland sich verpflichtet hat, die darin enthaltenen Normen umzusetzen, ist von der praktischen Wirksamkeit noch wenig zu spüren. Dennoch handelt es sich bei diesem „schlafenden Recht“ (Susanne Baer) um ein wichtiges juristisches Instrument, das von all jenen genutzt werden kann, die etwas bewirken wollen. Während also die rechtsstaatlichen Strukturen sich nur langsam ändern, wird der Protest auf den Straßen immer lauter. Es hat sich eine Protestwelle formiert, die auch in Europa und Deutschland Fuß zu fassen beginnt.
Wir Alle
Ende November 2019, anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, versammelten sich auf den Straßen von Paris 100.000 Demonstrant*innen. Europaweit war dies die größte Demonstration aus diesem Anlass:[14] Selbst für die ausgeprägte französische Protestkultur ein Rekord in Sachen Mobilisierung gegen geschlechterspezifische Gewalt. Organisiert wurden die Proteste von dem feministischen Kollektiv „Nous-Toutes“ („Wir alle“). Sie kämpfen seit 2017 für Verbesserungen und konkrete Maßnahmen in der Schutzprävention gegen häusliche Gewalt. Die Proteste und ein besonders grausamer Mord an einer 40jährigen Mutter ließen die Justizministerin Nicole Belloubet konstatieren: „Das System schafft es nicht, diese Frauen zu schützen.“[15] Eine Einsicht, die für viele zu spät kam, aber dazu führte, dass einige der geforderten Gesetzesmaßnahmen Ende Dezember 2019 verabschiedet wurden. Es ist nun z.B. leichter möglich, das gemeinsame Sorgerecht in Fällen ehelicher Gewalt aufzuheben. Außerdem soll durch elektronische Fußfesseln bereits vor einer möglichen Verurteilung besserer Schutz gewährleistet werden. Die Fesseln schlagen Alarm, sobald der Träger eine erlaubte Abstandsgrenze zu der zu schützenden Partei überschreitet. Auch wird eine rund um die Uhr erreichbare Notfallhotline[16] eingerichtet.[17] Die neuen Regelungen sind als direkte Folge aus den öffentlichen Protesten hervorgegangen. Sie sind ein Beispiel dafür, wie soziale Bewegungen gesellschaftliche Debatten und Veränderungen in Gang setzen können, die sich nachhaltig auf Strukturen und Institutionen auswirken. Ob die Maßnahmen auch die richtigen sind, bleibt nicht unumstritten. So kritisiert Caroline De Haas, eine Mitbegründerin von „Nous-Toutes“, dass es zum Beispiel immer noch an der Bereitstellung von Fördermitteln für dringend benötigte Frauenhäuser fehle.
Keine mehr
In Chile generiert das Kollektiv Las Tesis mittels Musik Bewusstsein für das Thema. So ist der Protestsong “Un violador en tu camino” unlängst über die chilenischen Grenzen hinaus bekannt geworden. Auch in Südamerika haben Frauen tendenziell keine Strukturen und Institutionen zur Hand, um ihr Recht geltend zu machen. Eine unzureichende Strafverfolgung seitens Polizei und Justiz und fehlendes Wissen über bestehende Rechte und Ansprüche, etwa auf Rechtsschutz, der Betroffenen kommen dabei oft zusammen. Doch auch hier gehen mutige junge Menschen auf die Straße, um gegen den Status Quo anzukämpfen. Hinter dem Titel „Ni Una Menos“[18] (Nicht eine (Frau) weniger) verbirgt sich eine seit Jahren revoltierende feministische Bewegung, die nicht nur Rechte einfordert, sondern auch die Massen. In La Plata (Buenos Aires) gingen 200.000 Menschen auf die Straßen, um gegen Gewalt und für Gleichberechtigung zu protestieren. Einige der Forderungen lauten: Trennung von Staat und Kirche, verbesserte Sexualerziehung in den Schulen und Legalisierung von Abtreibungen, denn die Durchführung steht noch immer unter Strafe. Gefordert wird auch ein substanzieller Schutz für in Not geratene Frauen durch den Staat sowie eine sensiblere Wahrnehmung der staatlichen Organe im Umgang mit geschlechtsspezifischen Gewalttaten. Das öffentliche Bewusstsein wächst. Knapp fünf Jahre ist es her, seitdem die Ermordung der schwangeren 14 Jahre alten Chiara Paez die Bewegung befeuerte und sich Stimmen der Entrüstung von „Ni Una Menos“ manifestierten. Längst ist die Welle des Protestes, auch in Form von Streiks am 8. März, dem internationalen Frauentag, auf den gesamten Kontinent übergeschwappt. In Chile wird derzeit der feministische Kampf mit antineoliberaler und plurinationaler[19] Kapitalismuskritik verbunden. Die Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Verónica Gago fordert dabei eine „konkrete Utopie“[20], die im und „Hier und Jetzt“ Forderungen stellt. Sie schreibt von einer Form der „Verschuldung“, die Lebensrealitäten determinieren würde. Sie strebt ein Aufbrechen dieser vermeintlichen Ontologien an und bekämpft dabei die patriarchalen und neoliberalen Vorstellungen von Lohn und Arbeit, die dahinterstehen. Die Körper von Arbeiterinnen im globalen Süden sind der zentrale Schauplatz und die Versinnbildlichung dieses Kampfes. „Im Kampf gegen die Verschuldung geht es also um die Möglichkeit, die eigene Zukunft zurückzugewinnen, sich anzueignen und kreativ zu gestalten, individuell und kollektiv.“.[21]
Das Gefühl, nicht allein zu sein, stärkt viele der Betroffenen in ihrer Situation und ermöglicht es ihnen, sich gemeinsam einer Gesellschaft zu stellen, die die Augen davor verschließt. 2019 erstatteten in Argentinien doppelt so viele Frauen eine Anzeige bei der Polizei wie noch in den Jahren zu vor. Gleichwohl münden viele der Anzeigen oft in unbefriedigenden Resultaten für die Angehörigen der Opfer.[22] Die Solidarität, die aus der Bewegung erwächst, schafft die Sichtbarkeit von bisher unsichtbaren Rechtssubjekten.
Intersektionaler Perspektivwechsel
Die Straßen werden lauter, soziale Bewegungen erschüttern sie – und die Gesellschaft. Es braucht der Benennung von Ungleichheiten, nur müssen diese auch als strukturelle hierarchische Machtverteilung verstanden werden und nicht als ontologische Gegebenheiten. Denn: Konstruierte Unterschiede führen zu substanziellen Ungleichheiten.[23] Bewegungen wie „Nous Toutes“ oder „Ni una Menos“ schaffen genau das. Sie benennen Ungleichheiten, generieren Bewusstsein in der Öffentlichkeit und bewirken damit auch einen Perspektivwechsel staatlicher Akteur*innen. In Chile werden zudem Unterdrückungen marginalisierter Gruppen nicht länger getrennt voneinander betrachtet, sondern zu einem gemeinsamen Kampf verbunden. Auch in Deutschland braucht es ein gesellschaftliches Bewusstsein, Diskriminierungen intersektional[24] zu denken, um Kräfte zu bündeln.
Theoretische Ausbildung und praktische Realität
Um den intersektionalen Widerstand zu stärken, ist es wichtig, Öffentlichkeitsbewusstsein zu generieren. Zur Bekräftigung der Proteste können sowohl internationale Verträge als auch verfassungsrechtliche Grundsätze dienen. Beispielsweise wäre Artikel 15 der Istanbul Konvention bezüglich der „Aus- und Fortbildung von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen“ zu nennen. Denn wie sich anhand der oben angeführten Beispiele zeigt, ist eine Sensibilisierung für das Thema nicht nur für Polizeibeamt*innen, Lehrer*innen oder Sozialarbeiter*innen von Bedeutung, sondern insbesondere auch für juristische Akteur*innen. Und hier kann die Kritische Rechtswissenschaft Wesentliches beisteuern, intersektional heißt dabei auch, dass sich Wissenschaft und Aktivismus verbinden. Solch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema könnte schon in der Ausbildung beginnen. Dafür bedürfte es beispielsweise nur eines „Femizid-Falls“, der sich in die wöchentliche Strafrechts-AG „einschleicht“. Jedoch müsste diesem genug Platz für eine kritische Auseinandersetzung eingeräumt werden, welcher bei der rein dogmatischen Jurisprudenz in der Ausbildungszeit ohnehin oftmals zu kurz kommt. Zumindest eines scheint klar: Der Status Quo ist nicht zu akzeptieren. Geschlechterspezifische Gewalt und Femizide sind alles andere als eine Randerscheinung, sondern ein strukturelles Problem. Die Gewalt durchzieht alle sozialen Schichten und Kulturen. Folglich bedarf es eines internationalen, transdisziplinären und intersektionalen Protestes, um das Unsichtbare sichtbar zu machen. Zumindest scheint es so möglich, dass die zweite Strophe des Protestsongs „Un violador en tu camino“[25] Wirklichkeit wird: „Es la violencia que ya ves“, Die Gewalt, die ihr jetzt seht.
Weiterführende Literatur:
Susanne Baer/Catherine A. MacKinnon, “Gleichheit, realistisch. Prof. Catherine A. MacKinnon im Gespräch mit Prof. Dr. Dr. h.c. Susanne Baer“. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. 2019: 361 – 375.
Ulrike Lembke/Lena Foljanty, „Die Konstruktion des Anderen in der „Ehrenmord“-Rechtsprechung“. In: Kritische Justiz, 47/3. 2014: 298–315.
Verónica Gago, „Revolution heißt, für die Zukunft sorgen“ in Luxemburg – Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, 3/2019. 2019: 28.
[1] UNODC. “Global Study on Homicide – Gender-related killing of women and girls”. 2018. URL: bit.ly/unodoc2018 (Stand aller Links: 13.02.2020).
[2] Russel, Diana. “The Origin and Importance of the Term Femicide”. 2011. URL: bit.ly/russelfemicide .
[3] BKA Partnerschaftsgewalt – Kriminalstatistische Auswertung 2018: 25.
[4] MacKinnon, Catherine. “Women’s September 11th”. In: Are Women Human?. 2006: 260.
[5] Lembke, Ulrike. „Gewalt im Geschlechterverhältnis“ in Feministische Rechtswissenschaft. 2012: § 11, Rn. 31.
[6] BGH vom 25. März 2003 – 1 StR 483/02.
[7] Exemplarisch zur Heimtücke: BGH 3 StR 120/16.
[8] Berlin. Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. „Datenlage und Statistik zu häuslicher Gewalt in Berlin“. 2017: 8.
[9] Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser. „Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“. 2017.
[10] Exemplarisch: Bild-Zeitung. „Beziehungsdrama – Wenn Liebe gefährlich wird“, URL: https://bit.ly/2JtbuZV .
[11] BGH vom 15.5.2003 – 3 StR 149/03.
[12] Das es auch anders gehen kann, zeigte übrigens das LG Bielefeld vom 23.4.2010 – 10 Ks 46 Js 370/09 1/10.
[13] „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“. Artikel 46 – Strafschärfungsgründe. 2011.
[14] Zeit Online. „Zehntausende demonstrieren in Frankreich gegen Gewalt an Frauen“. URL: https://bit.ly/3dN5Z6h.
[15] Da berichtet sogar der konservative Figaro: Le Figaro. „Féminicides: «notre système ne fonctionne pas», selon Nicole Belloubet“. URL: https://www.lefigaro.fr/flash-actu/feminicides-notre-systeme-ne-fonctionne-pas-selon-nicole-belloubet-20191115 .
[16] Auch in Deutschland gibt es ein „Hilfetelefon“: 08000 116 016.
[17] leparisien.fr. “Violences conjugales“. 2019. URL: https://bit.ly/2UUd9NJ .
[18] niunamenos.org.ar/ .
[19] Plurinational bezieht verschiedene Indigene Völker, die innerhalb eines Staatsgebietes leben, mit ein.
[20] Vgl. Bloch, Ernst. Geist der Utopie. 1918.
[21] Gago, Verónica. „Revolution heißt, für die Zukunft sorgen“ in Luxemburg – Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, 3/2019: 28 – 31.
[22] Naundorf, Karen. „Argentinien: Frauen gegen Männer-Gewalt“. Arte, 2019.
[23] MacKinnon, Catherina A.. „Auf dem Weg zu einer feministischen Jurisprudenz“. In: Streit 1-2/1993: 4-13.
[24] Der Begriff geht auf die Juristin Kimberlé Crenshaw zurück. Vgl.: Crenshaw, Kimberly. “Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color”. In: Stanford Law Review. 43/1991: 1241-1299.