Vor einem Jahr endete die dreißigjährige Präsidentschaft von Omar al-Bashir im Sudan, einem der wenigen arabischen Staaten mit einer aussichtsreichen Demokratisierungsbewegung.[1] Die Erfolge der Protestierenden dort könnten weitere regionale Veränderungen anstoßen.
Im Dezember 2018 kamen in der sudanesischen Hauptstadt Khartum Proteste auf, die sich zunächst gegen das schlechte Wirtschaften der Regierung, dann auch gegen deren Politik richteten. Nach jahrzehntelanger Korruption, Austeritätspolitik und politischer Unterdrückung der Zivilgesellschaft war letztendlich die Verdreifachung der Brotpreise der Auslöser der größten politischen Veränderungen seit 30 Jahren.[2]
Auf den Straßen Khartums forderten die Bürger*innen das Abtreten von Präsident Omar al-Bashir, der 1989 durch einen Putsch ins Amt gelangt war, die Achtung der Menschenrechte und die Abschaffung der strengen Sittengesetze. Im April 2019 führten diese Proteste zum Sturz al-Bashirs. Der Transitional Military Council (TMC) übernahm die Staatsleitung. Doch die Demonstrationen, Blockaden und Sitzstreiks nahmen kein Ende, denn eine zivile Regierungsbeteiligung war weiterhin nicht in Sicht. Am 3. Juni 2019 entluden sich die Spannungen in einem Massaker an Hunderten friedlichen Aktivist*innen durch die Rapid Support Forces (RSF), eine paramilitärische Gruppe, die bis zu dessen Sturz al-Bashir unterstanden hatte.[3] Infolgedessen wurde auf Anweisung des TMC das Internet für Wochen abgeschaltet, mutmaßlich, um die Organisation von Protesten zu erschweren und die Informierung der Weltöffentlichkeit über die massiven Menschenrechtsverletzungen der RSF zu verhindern.[4]
Im Juli 2019 gab der TMC unter dem wachsenden nationalen und internationalen Druck nach und unterzeichnete ein Abkommen mit den Forces of Freedom and Change (FFC), einer Art Dachorganisation aller zivilen oppositionellen Gruppen des Landes. Beide Parteien einigten sich auf die Etablierung einer gemeinsamen Übergangsregierung.[5] Auf die Möglichkeit einer demokratischen Zukunft für den krisengebeutelten Staat blickend, befeuern die politischen Geschehnisse des letzten Jahres einen gewissen Optimismus. Doch in Anbetracht der vor kaum fünf Jahren gescheiterten ägyptischen, syrischen und libyschen Arabellion stellt sich die Frage, inwiefern der Sudan die Rolle eines arabischen Hoffnungsträgers für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie einnehmen kann.
Machtteilhabe des Militärs bleibt bestehen
Im September 2019 trat die Übergangsregierung das Amt an und unterzeichnete die Verfassungserklärung. Die Regierung soll bis zu den ersten demokratischen Wahlen im Jahr 2022 bestehen bleiben. Formelles Staatsoberhaupt ist der aus sechs Zivilist*innen und fünf Militärs bestehende Souveränitätsrat, dessen Vorsitzender für die ersten Monate General Abdel Fattah Burhan ist.[6] Die Beteiligung der Opposition an der Regierung ist ein Erfolg für die sudanesische Protestbewegung und ein Beweis für deren vereinte Kraft. Trotzdem besitzt das Militär noch immer eine einflussreiche Stellung in der Staatsleitung und wird diese wohl auch künftig für sich beanspruchen. Daraus könnte sich eine Gefahr für die Demokratie ergeben. In Ägypten beispielsweise stellte sich das Militär 2011 zunächst Seite an Seite mit den zivilen Kräften gegen Ex-Diktator Husni Mubarak, bevor es zwei Jahre später durch einen Putsch die Demokratisierungsbewegung zum Erliegen brachte.[7] Der Gedanke, dass sich auch im Sudan das Militär eine zivile Protestwelle zu Nutze macht, um einen gealterten Machthaber aus dem Weg zu räumen und die eigene Position zu stärken, erscheint jedenfalls nicht abwegig. In Anbetracht dessen ist durchaus kritisch zu beobachten, dass der „neue“ Sudan nun von Akteur*innen mitgestaltet werden soll, die zu al-Bashirs Zeiten noch dessen engste Vertraute waren. Für einen tiefgreifenden Wandel stehen demgegenüber auch die ernsthaften Bestrebungen, die Strukturen des dreißigjährigen Regimes zu zerschlagen: al-Bashirs Partei, die National Congress Party (NCP), wurde von der Übergangsregierung verboten und enteignet; die Vorstände der sudanesischen Zentralbank und elf weiterer Banken wurden abgesetzt und werden nun von der Übergangsregierung neu besetzt.[8] Sämtliche Beteiligte der Übergangsregierung sind darüber hinaus nach Art. 18 der Übergangsverfassung von der Kandidatur bei künftigen Wahlen ausgeschlossen.[9]
Stabilisierung der sudanesischen Wirtschaft
Im Zuge der Regierungsbildung wurde der Technokrat Abdullah Hamdok vom Souveränitätsrat als Premierminister bestimmt. Hamdok ist Wirtschaftswissenschaftler und Vorsitzender der UN-Wirtschaftskommission für Afrika. Die mit seiner Person verknüpften Hoffnungen zielen vor allem auf eine ökonomische Konsolidierung des Landes ab. Unter al-Bashir verfiel die sudanesische Infrastruktur; Medikamente, Brot und Treibstoff wurden zu dauerhaften Mangelwaren. Der internationale Handel kam fast vollständig zum Erliegen, Importe und Exporte machen gerade einmal 10 bzw. 6 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus.[10] Das Erbe dieser desaströsen Wirtschaftspolitik ist als eine der größten Hürden für die keimende Demokratie zu betrachten. Denn wenn sich die Situation nicht stabilisiert, droht durch die Unzufriedenheit in der Bevölkerung letztlich eine Stärkung antidemokratischer Gruppen.
Als mögliche Einkommensquelle für die Staatskasse könnten die sudanesischen Goldminen dienen. Nachdem die NGO Global Witness im Dezember aufgedeckt hatte, dass General und Mitglied des Souveränitätsrates Mohamed „Hemedti“ Hamdan Daglo und seine Familie die wichtigsten Goldminen im Land kontrollierten und zur Finanzierung der RSF nutzten,[11] sah sich dieser in Anbetracht des öffentlichen Drucks gezwungen, die Rückgabe der Goldminen an die Regierung zu versprechen – die Übergangsverfassung untersagt Mitgliedern der Übergangsregierung eigentlich jegliche privatwirtschaftlichen Geschäfte.[12] Hemedti galt zur Zeit des dreißigjährigen Regimes als rechte Hand von Machthaber al-Bashir. Sollte er seinem Versprechen nachkommen, wäre dies eine Absage an Vetternwirtschaft und ein Signal gegen landesinterne Machtkämpfe, welche beispielsweise in Libyen den seit 2014 andauernden Bürgerkrieg begründeten.[13]
Sudanesinnen fordern ihre Rechte ein
Bemerkenswert an der Übergangsverfassung ist die für das Parlament festgesetzte Frauenquote von 40 %. Vier Minister*innenposten wurden mit Frauen besetzt, mit Asma Abdalla kommt die dritte Außenministerin der arabischen Welt nun aus dem Sudan. Darüber hinaus sitzen die Lehrerin und Frauenrechtsaktivistin Aisha Musa und die Juristin Raja Nicola als zivile Vertreterinnen mit einigen der mächtigsten Männern des Landes im Souveränitätsrat.[14] Die sudanesischen Frauen, die während der Proteste neben ihren männlichen Mitaktivisten in der ersten Reihe standen sowie Sitzstreiks und Proteste organisierten, waren die treibende Kraft der Revolution. Zu Beginn der Proteste demonstrierten mehr Frauen als Männer; zum Sinnbild der Revolution wurde ein Video, dass die Studentin Alaa Saleh zeigt, die auf einem Autodach steht und singt, während um sie herum dutzende Menschen „Revolution“ rufen.[15]
Dass gerade für Frauen die Beteiligung an Demonstrationen im Sudan ein Risiko darstellt, macht die intensive Beteiligung an den Protesten umso bemerkenswerter. Seit 1991 galt der „Khartoum Public Order Act“. Die schwammig formulierten Gesetze führten zur Bestrafung von Frauen, die in der Öffentlichkeit ihre Haare nicht bedeckten oder Hosen trugen. Abgesehen von der Macht, die der „Sittenpolizei“ dadurch über die weibliche Bevölkerung verliehen wurde, zeigte sich in der Anwendung dieser Gesetze auch die tiefe Spaltung der Gesellschaft. In den letzten Jahren war es für Frauen der urbanen Mittel- und Oberschicht nicht unüblich, auch auf den Straßen Hosen zu tragen, sanktioniert wurden währenddessen primär Frauen in den ländlichen und ärmeren Gegenden des Landes.[16]
Grundsätzlich gibt es wenig gesetzliche Regelungen zum Schutz von Frauen. Eine von vier Frauen wird minderjährig verheiratet, neun von zehn Frauen werden genitalverstümmelt.[17] Daher stellte die Abschaffung der Sittengesetze im November letzten Jahres einen bedeutenden Schritt in Richtung Frauenemanzipation dar.[18]
Recht und Justiz in der jungen Republik
Spätestens nach dem Massaker des 3. Juni ist klar, dass die Wahrung der Menschenrechte im Sudan noch keine Selbstverständlichkeit ist. In der Verfassungserklärung sind als Staatsziele bereits die Entwicklung und Festsetzung von Menschenrechten, die Unabhängigkeit der Justiz und die Wiederherstellung des Rechtsstaats aufgenommen worden. Die Unterzeichnenden verpflichteten sich, alle diskriminierenden Gesetze abzuschaffen.[19] Mit der Aufhebung der Sittengesetze ist der erste Schritt getan, allerdings ist der Weg zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit noch weit. Zu sehen ist dies beispielsweise in der Aufklärung des Massakers vom 3. Juni. Im Dezember letzten Jahres hat, nach monatelangen Protesten und Forderungen nach Gerechtigkeit, ein Ermittlungskomitee die Arbeit zur Aufklärung des Massakers aufgenommen. Drei Monate später wurden die Ergebnisse der Untersuchung noch immer nicht veröffentlicht.[20] Ein daraus folgender Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Regierung könnte wiederum radikalen, antidemokratischen und regierungskritischen Gruppen in die Hände spielen.
Problematisch ist auch, dass das Ermittlungskomitee vom Souveränitätsrat eingesetzt wurde, der zur Hälfte aus Militärs besteht, aber gleichzeitig auch gegen das Militär ermitteln muss. Die nun auf dem Prüfstand stehende Kooperationsbereitschaft des Militärs ist aber notwendiger Bestandteil des Erhalts des Regierungsbündnisses. Die sudanesische Übergangsregierung bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen den Rufen nach Gerechtigkeit und dem Erhalt des Regierungsbündnisses. Al-Bashir selbst stand im November wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht und wurde aufgrund seines hohen Alters lediglich zu Hausarrest verurteilt. Seit 2008 steht außerdem ein Haftbefehl vom International Criminal Court (ICC) gegen ihn aus. Die Vorwürfe lauten Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid in der Region Darfur.[21] Nachdem die sudanesische Übergangsregierung seinen Prozess zunächst landesintern führen wollte, forderten Rebell*innen aus Darfur die Auslieferung al-Bashirs an den ICC. Die Gruppen im politisch und wirtschaftlich marginalisierten Westen des Landes sind seit Jahren in bewaffnete Konflikte mit der zentralen Landesregierung verwickelt.[22] Ein Friedensabkommen mit den rebellischen Gruppen würde zur innenpolitischen Stabilität des Landes beitragen und die Demokratisierungsentwicklung stärken.
Perspektiven der demokratischen Bewegung
Die sudanesische Übergangsregierung ist mit zahlreichen Schwierigkeiten, wie der schlechten Wirtschaftslage, der Zerschlagung alter Regimestrukturen und den internen Interessenskonflikten konfrontiert. Die neu errichteten Staatsstrukturen sind fragil und könnten bereits durch kleine, unvorhergesehene Ereignisse in sich zusammenfallen. Und doch bleibt die Hoffnung bestehen, dass der Sudan in der arabischen Welt und in Zentralafrika infolge der zu verzeichnenden positiven Entwicklungen – man denke an die Frauenemanzipation, die Neubesetzung zentraler gesellschaftlicher Positionen und die Entscheidung zur Auslieferung al-Bashirs an den ICC – eine Vorreiterrolle einnehmen wird. Dass im Sudan mit Frauen und Männern, Anhänger*innen aller Religionen, Menschen aus allen Berufsgruppen und aller Ethnien eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen zusammen für eine demokratische Zukunft protestieren, ist eine der größten Stärken der Bewegung und kann einen wichtigen Faktor für ihren Erfolg darstellen. Die sudanesische Bevölkerung hat sich über ein Jahr hinweg als äußerst ausdauernd und widerstandsfähig gezeigt. Jetzt, da die Erfüllung ihrer Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung zum Greifen nah ist, werden die Protestierenden nicht nachgeben. Es bleibt abzuwarten, ob der Sudan seiner Rolle als Hoffnungsträger der Demokratie der arabischen Welt gerecht werden kann.
[1] Ishac Diwan, Will Sudan break through to democracy?, Project Syndicate 2019, http://bit.ly/2WqXkQO (Stand aller Links: 27.03.2020).
[2] Sara Ali Abbas, Aufbruch in Afrika. Soziale Bewegungen in Sudan und Äthiopien, Wiener Institut für internationalen Dialog und Zusammenarbeit 2019, http://bit.ly/2IZ378n; Lee Wengraf, http://bit.ly/33x4i8i.
[3] Sudan’s military and civilian opposition have reached a power-sharing deal, Vox v. 05.07.2019, https://bit.ly/2QQgwUL.
[4] Sudanese communications authority: Junta requested internet shutdown, Radio Dabanga v. 28.06.2019, https://bit.ly/2Ua0iI3.
[5] Sudan Crisis: What you need to know, BBC v. 16.08.2019, https://bbc.in/2wpazXI.
[6] Sudan: Innenpolitik, Auswärtiges Amt v. 28.09.2019, https://bit.ly/3bjFLXj.
[7] Julia Gerlach, Fünf Jahre Arabellion – Das Ende eines Traums?, Blätter für deutsche und internationale Politik, Februar 2016, http://bit.ly/3d6yWKe.
[8] Anti-Corruption Committee dissolves boards of Central Bank of Sudan and 11 other bank, Radio Dabanga v. 09.02.2020, https://bit.ly/392oboV.
[9] Eric Reeves, Sudan: Draft Constitutional Charter for the 2019 Transitional Period, Sudan Research, Analysis and Advocacy v. 06.09.2019, https://bit.ly/3aasBvu.
[10] Ishac Diwan, Will Sudan break through to democracy?, Project Syndicate 2019, http://bit.ly/2WqXkQO.
[11] Exposing the RSF’s Secret Financial Network, Global Witness v. 09.12.2019, http://bit.ly/2QoZIUg.
[12] Khalid Abdelaziz, Michael Georgy, Maha El Dahan, Sudan militia leader grew rich by selling gold, Reuters v. 26.11.2019, https://reut.rs/2WKdx3P.
[13] Julia Gerlach, Fünf Jahre Arabellion – Das Ende eines Traums?, Blätter für deutsche und internationale Politik, Februar 2016, http://bit.ly/3d6yWKe.
[14] Mohammed Amin, Profile: Members of Sudan’s Sovereign Council, Anadolu Agency v. 21.08.2019, https://bit.ly/2QxHyQt.
[15] ‚Nubian queen’ becomes protest symbol, BBC News v. 10.04.2019, http://bit.ly/2wcYmp6.
[16] Sara Ali Abbas, Aufbruch in Afrika. Soziale Bewegungen in Sudan und Äthiopien, Wiener Institut für internationalen Dialog und Zusammenarbeit 2019, http://bit.ly/2IZ378n; Women praise end of strict public order law, BBC v. 29.10.2019, https://bbc.in/394XuzT.
[17] Nita Bhalla, ‚The revolution isn’t over’ say Sudan’s frontline female protestors, Reuters v. 20.09.2019, https://reut.rs/39bawfi.
[18] Women praise end of strict public order law, BBC v. 29.10.2019, https://bbc.in/394XuzT.
[19] Eric Reeves, Sudan: Draft Constitutional Charter for the 2019 Transitional Period, Sudan Research, Analysis and Advocacy v. 06.09.2019, https://bit.ly/3aasBvu.
[20] Sudan’s June Crackdown may have killed 241 people: Rights Group, Al Jazeera v. 06.03.2020, https://bit.ly/2WuZkYk.
[21] Al Bashir Case, ICC, https://bit.ly/2JvLEEZ.
[22] Manfred Öhm, Darfur Konflikt, Bundeszentrale für politische Bildung v. 17.03.2018, https://bit.ly/3dgX1Oz.