Vor allem im Zusammenhang mit Klimaaktivismus wurde in der letzten Zeit in den unterschiedlichsten Medien häufig über zivilen Ungehorsam berichtet: Aktivist*innen blockierten Tagebaue, Kohlebahnen und Straßen und besetzen schon seit 2012 Bäume. Diese Kämpfe haben dazu geführt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel schlechter ignoriert werden können.
Angesichts des Klimawandels fordern Klima- und Umweltaktivist*innen immer radikalere Veränderungen, während die Politik weitestgehend auf den Erhalt des Status quo setzt. Das Handeln oder vielmehr Nicht-Handeln der Politik stellt all diejenigen, die sich im Klima- und Umweltschutz engagieren, vor die große Frage, wie sie damit umgehen sollen. Diese Frage ist eng verknüpft mit den Erfahrungen aus der Umweltbewegung, in deren Vergangenheit sich ganz unterschiedliche Formen des Protestes erkennen lassen: Während die Proteste angesichts der Klimakrise früher vor allem darauf setzten, die Politiker*innen durch Demonstrationen und Kundgebungen zu einem anderen Handeln zu bewegen (z.B. vor der Klimakonferenz in Kopenhagen 2009), gehen zuletzt beispielsweise die Aktivist*innen von Fridays for Future, Ende Gelände und Extinction Rebellion einen Schritt weiter und verbinden ihren Protest öffentlichkeitswirksam mit Aktionen zivilen Ungehorsams. Hier können sie auf die Erfahrungen der älteren Umwelt- und Anti-Atom-Bewegung aufbauen, die mit zivilem Ungehorsam unter anderem Castortransporte erfolgreich blockiert und das Atomkraftwerk Wyhl verhindert hat.[1]
Warum ziviler Ungehorsam?
Ziviler Ungehorsam stellt einen Ausdruck des Widerstands gegen bestimmte politische Maßnahmen dar, für den Mittel genutzt werden, die nicht legal sind und damit zunächst einen Gesetzesbruch bedeuten. Er umfasst aus praktischer Sicht ganz unterschiedliche Protestformen, die am meisten verbreitete Form sind (Sitz-)Blockaden beispielsweise von Bäumen, Gleisen oder auch Baggern (im Tagebau).
Doch welche Perspektive haben die Aktivist*innen aus der Klimabewegung auf den zivilen Ungehorsam? Diese wurde im Rahmen einer empirischen (qualitativ-rekonstruktiven) Analyse von Filmen und Videos von Aktivist*innen herausgearbeitet.[2] Analysiert man die Thematisierung von zivilem Ungehorsam, nimmt die Frage nach seiner Rechtfertigung eine wichtige Rolle ein, woraus sich schließen lässt, dass er offenbar besonders legitimationsbedürftig ist. Ausgangspunkt der Aktionen zivilen Ungehorsams ist, dass viele Aktivist*innen einen Zwang zu handeln benennen, der als sehr dringend wahrgenommen wird. Zwar sind das Wissen um den Klimawandel und die mit ihm zusammenhängenden Gefahren allgemein bekannt, tatsächlich verändert sich aber kaum etwas. So treffen sich zwar die Staats- und Regierungschefs regelmäßig zu Klimakonferenzen, positive Konsequenzen für die Natur und Umwelt ergeben sich daraus aber kaum. Deshalb steigt der Handlungsdruck für die Aktivist*innen: Es sei schon so viel Zeit verstrichen, dass uns nun kaum noch Zeit zu handeln bleibt und die Maßnahmen umso stärker sein müssen. Das zeigt sich an Äußerungen wie „Das Klima ändert sich schon jetzt.“ oder „Es ist fünf vor zwölf.“ – gerade das letzte Motiv entfaltet seine Spannung dadurch, dass auf der politischen Bühne schon seit mehreren Jahrzehnten immer wieder proklamiert wird, es sei fünf vor zwölf. Diese Einschätzungen sind mit der Annahme verbunden, dass diejenigen, die handeln könnten, um eine Veränderung zu schaffen, dies nicht oder zumindest nicht ausreichend tun. Daher ist das Vertrauen vieler Aktivist*innen in die Vertreter*innen von Regierung und Politik gering. Dieser Unterschied wird deutlich, wenn man die Proteste zur Klimakonferenz in Kopenhagen vergleicht mit denen in Paris 2015: Zunächst lag der Schwerpunkt der Aktivist*innen auf den Appellen an die Politiker*innen, denn sie vertrauten und sie hofften auf eine Lösung, die im Rahmen des Klimagipfels gefunden werden würde. Mittlerweile haben die Aktivist*innen bereits diverse Klimagipfel erlebt und wissen, dass diese nicht sehr vielversprechend sind und dass sie von den Politiker*innen keine (ausreichenden) Lösungen erwarten können.
Keine Veränderungen ohne radikale Mittel
Durch die lange Zeit des Wartens auf „echte Veränderungen“ ist eine Verschiebung eingetreten: Daraus folgt für die Aktivist*innen der Drang selbst zu handeln und mehr zu tun als nur zu demonstrieren und auf eine Reaktion der Politik zu hoffen. Über den bloßen Appell an die Politiker*innen hinaus beginnen die Aktivist*innen den Umwelt- bzw. Klimaschutz selbst durchzusetzen, indem sie beispielsweise selbst den Kohleabbau stoppen. Auf diese Weise nehmen sie eine Stellvertreter*innen-Rolle der Politiker*innen ein, die ihre Aufgaben nicht ausreichend erfüllen. Dabei stehen ihnen anders als einem Staat nur wenige Mittel zur Verfügung, die sich zum Teil als nicht erfolgsbringend erwiesen haben (wie Appelle und Demonstrationen), weshalb sie zur Erreichung ihrer Ziele zivilen Ungehorsam benötigen. Ihre Körper werden dabei als Mittel genutzt und sind in diesem Fall eine Art Schutzschild gegen einen Aggressor, das zerstörerische System. So entstehen eindrucksvolle Gegenüberstellungen wie die von ‚kleinen Körpern gegen riesige Maschinen‘. Daneben schadet ziviler Ungehorsam in der Form, in der die Aktivist*innen ihn ausüben nicht, denn er gefährdet niemanden und richtet sich nicht gegen Menschen, sondern gegen Maschinen oder abstrakte Gegner*innen.
Bei der Ausübung von zivilem Ungehorsam grenzen sich die Aktivist*innen von einer Art effektivem Krawall ab, indem ziviler Ungehorsam als ein planvolles und gezielt eingesetztes Mittel zur Erreichung eines ‚höheren Ziels‘ dargestellt wird.
In welchem Kontext steht ziviler Ungehorsam?
Ein zentrales Spannungsfeld ist an dieser Stelle die Frage nach der Tragweite von zivilem Ungehorsam. Innerhalb der Bewegung gibt es zwei unterschiedliche Deutungen von zivilem Ungehorsam: Einige wollen kurzfristig und weitestgehend im Rahmen der derzeitigen politischen Verhältnisse ihre Ziele umsetzen und wieder andere betten ihren Protest in einen größeren Kontext, eine breiter angelegte gesellschaftliche Veränderung, ein. Einige Aktivist*innen sehen zivilen Ungehorsam eng mit einer fundamentalen Kapitalismuskritik verbunden, in der Staat und Demokratie nur eine untergeordnete Rolle spielen. Aus dieser Perspektive wird ziviler Ungehorsam als Teil eines Kampfes für eine andere Gesellschaft und damit als Teil eines transformatorischen oder auch revolutionären Prozesses dargestellt.
Ziviler Ungehorsam erscheint den Aktivist*innen in jedem der zwei Fälle als legitimationsbedürftig. Die Legitimation verläuft dabei über die Betonung seiner Effektivität und der oben bereits geschilderten Alternativlosigkeit. Er führte bereits in der Vergangenheit zu Veränderungen im Bereich der Atomkraft und bewies seinen Erfolg. Zur Legitimation dienen außerdem die aussichtslose Lage, in der sie sich befinden, die zeitliche Dringlichkeit und das Vakuum, das besteht, weil die Politiker*innen trotz einer dringenden Notwendigkeit zu handeln nicht (oder nicht ausreichend) handeln.
Kein Recht auf Widerstand?
Häufig haben die Aktivist*innen im Nachgang zu Aktionen zivilen Ungehorsams Konflikte mit Rechtsnormen, weil diese dazu genutzt werden, um die vorherigen politischen Aktivitäten zu sanktionieren. Auf diese Weise werden Proteste und Bewegungen eingeengt oder zumindest der Versuch dazu unternommen (beispielsweise durch die Verschärfung des sog. Widerstandsparagraphen § 113 Strafgesetzbuch (StGB) und Einführung des § 114 StGB). Legitimationsversuche der Aktivist*innen und ihrer Anwält*innen finden kein Gehör; ziviler Ungehorsam wird in Strafverfahren als Rechtfertigung zumeist abgelehnt und der rechtfertigende Notstand, auf den sich die Aktivist*innen berufen, in Abrede gestellt[3] und nicht auf eine Bestrafung verzichtet[4]. Begründet wird die Nicht-Anerkennung des zivilen Ungehorsams als Notstand damit, dass es für den Fall, dass die Mehrheit einen Fehler machen könnte, verschiedene legale Möglichkeiten gibt, Widerstand gegen bestimmte Gesetze oder politische Handlungen auszudrücken: durch Meinungsäußerungen, Versammlungen und Demonstrationen, durch die Beteiligung an Wahlen oder durch Klagen an Gerichten. Politisches Handeln, das mit bewussten Rechtsverstößen verbunden ist, wird auch nicht vom Recht zum Widerstand nach Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz (GG) umfasst, denn dieses ist auf den Erhalt der bestehenden Ordnung ausgelegt und deshalb auf die Abwehr von Gefahren für die verfassungsmäßige Ordnung beschränkt.[5] Während also das Widerstandsrecht auf die Wahrung der bestehenden Ordnung gerichtet und damit legalitätsbezogen ist, will ziviler Ungehorsam im Gegensatz dazu Legitimität gegen Legalität durchsetzen.
Von dieser (deutschen) Rechtspraxis unterscheidet sich ein bahnbrechendes Urteil eines Schweizer Richters, der Aktivist*innen, die eine Bank blockiert hatten, indem sie, in einer Bankfiliale Tennis gespielt haben (die Bank wirbt mit dem Tennisspieler Roger Federer), um gegen die klimaschädliche Investitionspolitik der Bank zu protestieren. Die Aktivist*innen erhielten Strafbefehle wegen Hausfriedensbruchs und Widerstands gegen Anordnungen der Polizei. Der Richter hat die Aktivist*innen freigesprochen, da er ihren Protest angesichts der drohenden Klimakatastrophe als notwendig und angemessen und damit als durch Notstand gerechtfertigt eingeordnet hat, denn mit ihrem Protest haben die Aktivist*innen den einzigen tauglichen Weg genutzt, damit die Bank reagiert und um Aufmerksamkeit der Medien und Öffentlichkeit für das Thema zu erhalten.[6]
Kann ziviler Ungehorsam doch legitimiert werden?
Ob ziviler Ungehorsam also durch die rechtsstaatliche Ordnung legitimiert sein kann, ist höchst umstritten. Hierbei kann ein Blick auf die theoretische Entwicklung des zivilen Ungehorsams weiterhelfen, die auch mit seiner Praxis begann. Indem Thoreau sich 1846 weigerte, seine Steuern zu zahlen, da mit diesem Geld der derzeitige Krieg mit Mexiko und die Sklaverei in den USA unterstützt würde, wurde er zum Vater des zivilen Ungehorsams. Dafür nahm er in Kauf, eine Nacht im Gefängnis zu verbringen. Diese Erfahrung inspirierte Thoreau zu seinem Essay „Vom Ungehorsam gegen den Staat“. An Thoreaus Überlegungen zu zivilem Ungehorsam haben viele später bekannte Persönlichkeiten praktisch und/oder theoretisch angeknüpft wie John Rawls, Martin Luther King, Jürgen Habermas, Rosa Parks, Mahatma Gandhi oder auch Hannah Arendt. Dabei geht es vor allem um die Frage danach, wann der Gehorsam gegenüber dem Staat endet bzw. unter welchen Umständen ziviler Ungehorsam gerechtfertigt werden kann. Denn zumindest in der klassischen Demokratietheorie und im Staatsrecht besteht die kontingente Annahme, dass sich im Sinne eines Gesellschaftsvertrags der Wille der Bürger*innen in den Gesetzen ausdrückt, die deshalb zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen verpflichtet sind.[7] Diese Annahme wird von den klassischen Theorien zum zivilen Ungehorsams unhinterfragt angenommen und so stellen sie die Frage nach dessen Rechtfertigung als zentrale Frage: Wie sollen Bürger*innen mit staatlichem Handeln umgehen, das sie als ungerecht wahrnehmen? Was müssen Menschen aushalten und was nicht mehr? Einen ganz anderen Ausgangspunkt hat hingegen der anarchistische Ansatz der direkten Aktion.
Vom systemtreuen Handeln nach dem Gewissen …
Thoreau legitimiert seinen Gesetzesbruch mit dem Verweis auf höheres Recht und sein eigenes Gewissen. Er macht sich also eine sehr individualistische Perspektive zu eigen, denn aus seiner Sicht ist ziviler Ungehorsam eine Konsequenz der eigenen Gewissensentscheidungen. Im Rahmen der amerikanischen Bürger*innenrechts- und Antikriegsbewegung in den USA fand die erste intensive sowohl öffentliche als auch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit zivilem Ungehorsam statt. In diesem Zusammenhang entstanden die ersten Texte zum zivilen Ungehorsam und John Rawls entwickelte seine Theorie des zivilen Ungehorsams. Diese für die weitere Entwicklung grundlegende Theorie nimmt eine grundsätzliche Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber Gesetzen an, die nur schwerlich in Frage gestellt werden kann. Rawls definiert zivilen Ungehorsam als eine Handlung, die öffentlich, gewaltlos, vom Gewissen bestimmt ist, die aber gegen Rechtsnormen verstößt und auf eine Änderung von Gesetzen oder der Politik abzielt.[8] Anders als Thoreaus geht Rawls davon aus, dass ziviler Ungehorsam nicht alleine und unsichtbar ausgeübt werden kann, sondern sich an die Mehrheit richten und anderen deutlich machen muss, dass bestimmte Maßnahmen, Regelungen oder Gesetze im Widerspruch zu den allgemein geteilten Gerechtigkeits- und/oder Verfassungsgrundsätzen stehen. Hierin drückt sich aus seiner Sicht gerade im zivilen Ungehorsam eine tiefere Gesetzestreue aus. Deshalb müssen sich Aktivist*innen, die zivilen Ungehorsam betreiben, als Teil der politischen Ordnung verstehen und diese nicht beseitigen wollen. Das zeigt sich auch daran, dass sie für ihre Taten verantwortlich sind und die Strafen für ihr Handeln in Kauf nehmen.[9] Rawls Theorie des zivilen Ungehorsams wurde von verschiedenen Standpunkten weiterentwickelt. Ronald Dworkin[10] und Jürgen Habermas[11] vertreten einen ähnlichen liberalen Ansatz wie Rawls. Anders als Rawls geht Dworkin aber nicht davon aus, dass diejenigen, die zivilen Ungehorsam betrieben haben, bestraft werden müssen oder bei Strafe diese zumindest gemildert werden müsse. Habermas hingegen stellt die kaum praktikable Forderung auf, dass Aktionen des zivilen Ungehorsams den zuständigen Behörden zuvor angekündigt werden sollen.
… und der Kritik daran
Hannah Arendt hingegen ist nicht mit der zentralen Stellung des Gewissens in den Theorien zum zivilen Ungehorsam einverstanden, da ein Gewissen individuell und gerade nicht verallgemeinerbar ist, was letztendlich dazu führen kann, dass ein Gewissen gegen das andere steht. Deshalb führt eine hierauf gestützte Rechtfertigung zu politischen und juristischen Schwierigkeiten und in der Folge zu Beliebigkeit. Außerdem hinterfragt sie die Verbindung des zivilen Ungehorsams mit der Anerkennung des Systems und die vorausgesetzte Bereitschaft der Aktivist*innen, für das eigene Handeln bestraft zu werden. [12] Die Annahme, dass Selbstaufopferung, in diesem Fall durch das Verbüßen einer Strafe, eine Tat rechtfertige, findet sie „offensichtlich absurd“[13]. Ähnlich wie Arendt sieht Robin Celikates zivilen Ungehorsam als Ausdruck einer politischen Praxis der Bürger*innen und betont, dass die Aktivist*innen eine Politisierung des Rechts und eine Demokratisierung politischer Entscheidungsprozesse anstreben. Ziviler Ungehorsam ist deshalb ein Akt der Demokratie und begründet sich in der andauernden Herstellung des Demokratisierungsprozesses. Andere Ansätze rechtfertigen zivilen Ungehorsam aus einem überlegenen Wissen, das anderen Gesellschaftsmitgliedern nicht zugänglich ist. Ziviler Ungehorsam ist aus dieser Sichtweise ein Mittel, um sowohl strukturellen Behinderungen einer gesellschaftlichen Transformation zu begegnen als auch denjenigen, die verhindern, dass Gesellschaftsmitglieder sich der notwendigen Transformation bewusst werden.[14] Ziviler Ungehorsam hat damit die Rolle einer „Notbremse, mit der eine katastrophale gesellschaftliche Entwicklung gestoppt werden soll“[15].
Direkte Aktion vs. ziviler Ungehorsam
Howard Zinn vertritt in seinen Überlegungen, dass auch ungerechte gesellschaftliche Zustände als adäquate Gründe für zivilen Ungehorsam gelten und dass Gewaltlosigkeit wünschenswert, jedoch nicht zwingend ist, insbesondere weil die Grenze zwischen Gewaltlosigkeit und Gewalt teilweise nur schwer zu ziehen ist. Damit weitet er den zivilen Ungehorsam aus.[16] Ein grundsätzlich anderes und weitergehendes Verständnis ist das der direkten Aktion, wie es auch David Graeber vertritt. Das Ziel der Aktivist*innen bei einer direkten Aktion ist, die bestehende Macht zu zerstören und dazu zu Mitteln zu greifen, die aber möglichst im Einklang mit ihren Zielen stehen: Mittel und Zweck müssen einander entsprechen und ununterscheidbar werden, sodass die Art, wie etwas herbeigeführt wird, modellhaft die Veränderung, die herbeigeführt werden soll, darstellt.[17] Zentral ist dabei der Versuch, „im Gehäuse der alten eine neue Gesellschaft aufzubauen“[18]. Die Aktivist*innen versuchen also den Staat weitestgehend zu ignorieren, was einen prinzipiellen Unterschied zum theoretischen Verständnis des zivilen Ungehorsam darstellt. Der entscheidende Unterschied ist hier das Infragestellen der Rechtsordnung.[19]
Theorie und Praxis – ähnlich und doch ganz anders
Die drei unterschiedlichen Blickrichtungen auf zivilen Ungehorsam – praktisch, rechtlich und philosophisch – bilden verschiedene Bereiche des zivilen Ungehorsams ab, die jeweils eigene Logiken haben, aber miteinander verbunden sind. Alle beschreiben das gleiche Phänomen, aber kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ziel war, neben den theoretischen Überlegungen auch die Perspektive der Aktivist*innen einzubeziehen und ihren Theorien Raum zu geben. Genau deshalb ist es nicht angebracht, die Theorien einfach auf die Kämpfe und Bewegungen der Aktivist*innen anzuwenden. Es stehen also unterschiedliche Verständnisse des zivilen Ungehorsams nebeneinander, die sich nicht einfach aufeinander übertragen lassen, aber aneinander abarbeiten.
Die unterschiedlichen Theoretiker*innen mit Ausnahme von Graeber haben in der Auseinandersetzung versucht, zivilen Ungehorsam so zu konstruieren, dass er, auch wenn er eigentlich nicht vorgesehen ist, dennoch sowohl moralisch als in der Folge auch juristisch gerechtfertigt werden kann, dennoch sehen ihn nicht alle als straffrei an. In der (rechts) philosophischen Auseinandersetzung wird ziviler Ungehorsam vielfach als eine politische Praxis verstanden, der eine Art Korrektivfunktion innerhalb der Demokratie zukommt. So kann auf blinde Flecken der Gesellschaft aufmerksam gemacht werden. Teilweise werden sehr detaillierte Anforderungen und Hürden an Handlungen gestellt, damit diese als ziviler Ungehorsam qualifiziert werden können. Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Sichtweise auf den Staat: Einige wie Habermas sehen den Staat mit seinen Institutionen als neutral an, oder andere wie Zinn als Institution, die gegensätzliche Interessen vertritt. Des Weiteren unterscheidet sich das Verständnis hinsichtlich der Zielrichtung des zivilen Ungehorsams (symbolische oder tatsächliche Wirkung), der Rolle von Gewalt und der Rechtfertigung des zivilen UngehorsamsIn den theoretischen Versuchen, zivilen Ungehorsam zu rechtfertigen, zeigen sich die grundsätzlichen Schwierigkeiten: Denn es soll etwas, das nicht in der Rechtsordnung vorgesehen ist und sich schon begrifflich gegen sie stellt, durch sie gerechtfertigt werden.
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Offenheit einiger Kriterien. Einig sind sich die meisten Theoretiker*innen aber darin, dass dieser gewaltfrei sein muss, wobei dieses Kriterium aufgrund seiner Unschärfe viele Fragen aufwirft. Zunächst stellt sich die Frage, was Gewalt in diesen Definitionen bedeutet. Ist damit nur Gewalt im Sinne einer Verletzung der physischen Integrität gegen Menschen gemeint? Und was bedeutet Gewalt generell? Hierzu könnte man weit ausholen, ich belasse es aber bei zwei Hinweisen. Beispielsweise bei den London Riots 2011 wurde die Zerstörung von öffentlichem und privatem Eigentum mit einem Angriff auf Menschenleben gleichgesetzt. Betrachtet man die deutsche Rechtsprechung zum Thema Gewalt, wird diese Problematik im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur „Zweiten-Reihe-Rechtsprechung“ deutlich[20], welches bestätigt, dass das Ketten an Eisenbahngleise oder an ein Einfahrtstor als Nötigung (gemäß § 240 StGB) anzusehen ist und damit Gewalt darstellt. Auch die Aktivist*innen greifen das Merkmal der Gewaltfreiheit auf und setzen es in Bezug zu ihren Körpern, mit denen sie nur das System aufhalten, aber gerade niemandem schaden. An diesen Beispielen zeigt sich, dass die Frage der Gewaltfreiheit schon allein deshalb schwer zu beantworten ist, da es davon abhängt, wie Gewalt definiert wird – und natürlich davon, wer die Definitionsmacht über sie beanspruchen kann. Darüber hinaus könnte auch Zinns Anmerkung einbezogen werden, dass auch die gegebenen realen Unruhen und Formen von Gewalt, die täglich stattfinden und in Kriegen Ausdruck finden, in die Frage nach der Gewaltfreiheit einbezogen werden, weshalb er zu dem Schluss kommt, dass Aktionen so gewaltfrei wie möglich umgesetzt, aber auf eine Forderung nach prinzipieller Gewaltfreiheit verzichtet werden sollte.
Legalität vs. Legitimität
Bei der Frage nach der Rechtfertigung von zivilem Ungehorsam stehen sich Legalität und Legitimität gegenüber, denn es gibt unterschiedliche Deutungsweisen: Die Aktivist*innen setzen sich eigenmächtig über geltendes Recht hinweg und begehen zum Beispiel Hausfriedensbruch, sagen die einen. Die Aktivist*innen von Ende Gelände selbst sehen ihre Aktionen beispielsweise als „ein Zeichen gegen den weiteren Abbau und die Verbrennung von Kohle“[21] und ordnen diese damit als legitim ein. Hier besteht ein Konflikt um die Frage der Grenzen von politischem Aktivismus. Die Perspektiven sind miteinander unvereinbar; Legalität und Legitimität widersprechen einander. Zwar ist eine Handlung nicht legal, sondern rechtswidrig, aber angesichts dessen, was sie anprangert, ist sie nach Auffassung der Aktivist*innen legitim. Diese Diskrepanz zwischen gesetzlichen Regeln einerseits und einem übergesetzlichen Recht oder Notstand andererseits, auf das sich diejenigen, die zivilen Ungehorsam leisten, berufen, wird von den Aktivist*innen, wie es auch Thoreau getan hat, aufgeworfen. Gerade bei den Themen der Klimabewegungen können sie die Legitimität ihrer Kämpfe – insbesondere im Verhältnis zu kleineren Rechtsbrüchen wie Eigentumsverletzungen bei Hausfriedensbruch – eindrücklich darlegen. Es drohen Katastrophen durch den Klimawandel und die Politik verfehlt sogar ihre eigenen Ziele zu seiner Eindämmung.
Ziviler Ungehorsam als Teil eines Kampfes für eine andere Gesellschaft überschreitet die Grenzen, die sich aus den Theorien ableiten lassen, denn diese gehen von einer grundsätzlichen Rechtstreue der Aktivist*innen aus und konstruieren zivilen Ungehorsam in das bestehende System hinein. Daher grenzen die Theorien Aktivismus, der sich gegen das bestehende staatliche System wendet, aus ihren Theorien und nennen diese Form des Aktivismus nicht mehr zivilen Ungehorsam. Stattdessen kann dieser eher als direkte Aktion angesehen werden, da dessen Verständnis offener ist und hier die transformativen Elemente aufgenommen werden. Zumindest ein Teil der Aktivist*innen verfolgt also Ziele, die von den Theorien des zivilen Ungehorsams nicht umfasst sind, denn die klassischen Theorien bleiben genauso wie die juristische Debatte in einem bürgerlichen Rechtsverständnis verhaftet. Die juristische Debatte nimmt keine Hinweise – weder aus der Perspektive der Aktivist*innen noch aus der philosophischen Sichtweise – auf, sondern wendet Normen an, ohne sie in einen größeren Kontext zu setzen und gesellschaftliche Herausforderungen zu erkennen. Die Klassiker in der Rechtsphilosophie haben ihren Mehrwert, wenn Proteste, die sich auf einzelne Maßnahmen im Rahmen einer gesellschaftlichen Ordnung beziehen, betrachtet werden. Anders verhält es sich bei den Klimaprotesten, bei denen es um fundamentale systemische Veränderungen geht. Hier greifen sie zu kurz. Dieser Fokus, um den die Theorien kreisen, verkennt letztlich die politische Dimension und Bedeutung des Konzepts. Die zentrale Rolle des Staates, in die sich den Theorien zufolge der zivile Ungehorsam einfügen muss, wird nicht in Frage gestellt. Daher finden die Aspekte, die zivilen Ungehorsam als Teil einer grundlegenden, transformatorischen Bewegung verstehen, keinen Platz in der bisherigen theoretischen Auseinandersetzung, insbesondere in den breit zitierten Texten der Klassiker. Deshalb muss sich die (Klima-)Bewegung ihre eigene Theorie und ihr eigenes Verständnis, warum sie so handeln wie sie handeln und wie es zu legitimieren ist, selbst erarbeiten.
Weiterführende Literatur:
Andreas Braune (Hg.), Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, 2017.
Friedrich Burschel, Andreas Kahrs, Lea Steinert (Hg.), Ungehorsam! Disobedience! Theorie & Praxis kollektiver Regelverstöße, 2014: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/ungehorsam_disobedience.pdf
Erica Chenoweth, Maria J. Stephan, Why Civil Resistance Works. The Strategic of Non-violent Conflict, 2013.
[1] Vgl. Susanne Falk, Jonas Balieni, Flachlandreisen: Von Heiligendamm ins Wendland …, ak – analyse & kritik 2012, Nr. 568; https://bit.ly/33EMmsH (Stand: 24.03.2020); https://bit.ly/2QWKwOP (Stand: 24.03.2020).
[2] Vgl. Masterarbeit der Autorin, Veröffentlichung in Vorbereitung.
[3] Vgl. bit.ly/33yRn5T (Stand: 16.02.2020).
[4] Vgl. z.B. bit.ly/397URxw (Stand: 16.02.2020) oder bit.ly/2UpDoeu (Stand: 16.02.2020).
[5] Christoph Degenhart, Staatsorganisationsrecht 2006, 157-158.
[6] Vgl. bit.ly/3dggmPY (Stand: 16.02.2020) oder bit.ly/2Ulhw3W (Stand: 16.02.2020).
[7] Vgl. z.B. Morlok, Martin; Michael, Lothar, Staatsorganisationsrecht, 2013, 334.
[8] Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1991, 401.
[9] Vgl. Rawls (Fn. 8), 404-405.
[10] Ronald Dworkin, Ethik und Pragmatik des zivilen Ungehorsams. In: Thomas Meyer e. al. (Hg.): Widerstandsrecht in der Demokratie : Pro und Contra, 1984, 24-42.
[11] Vgl. Jürgen Habermas, Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, In: Peter Glotz (Hg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, 29-53.
[12] Vgl. Hannah Arendt, Ziviler Ungehorsam, In: Zur Zeit. Politische Essays (1943–1975), 1986, 129 (131).
[13] Arendt (Fn. 12), 119.
[14] Vgl. Robin Celikates, Ziviler Ungehorsam und radikale Demokratie. Konstituierende vs. Konstituierte Macht? In: Thomas Bedorf; Kurt Röttgers (Hg.): Das Politische und die Politik, 2010, 274 (284).
[15] Ebenda.
[16] Howard Zinn, Ungehorsam und Demokratie. Neun Irrtümer über Recht und Ordnung, In: Andreas Braune (Hg.): Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, 2017, 162-185.
[17] Vgl. David Graeber, Direkte Aktion. Ein Handbuch, 2009, 19.
[18] Ebenda.
[19] Vgl. David Graeber, Inside Occupy, 2012, 149-150.
[20] BVerfGE 104, 92.
[21] https://bit.ly/33wS67E (Stand: 16.02.2020).