Angesichts der Corona-Pandemie wird dieser Tage oft das Ende des Neoliberalismus ausgerufen. Die Krise zeige, dass der Markt sich nicht allein regulieren könne und der Staat nun unterstützen müsse. Doch ist der Neoliberalismus tatsächlich am Ende? Und was ist mit Neoliberalismus eigentlich gemeint? Ein historischer Überblick über einen umstrittenen Begriff und den Mythos vom schwachen Staat.
Ende April 2020 verkündet der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher, dass die Corona-Krise “der letzte Sargnagel für den Neoliberalismus”[1] sei. Dies wird damit begründet, dass der Markt nicht mehr allein funktionieren könne und es einen starken Staat brauche. Dass Neoliberalismus mit einem schwachen Staat und freien Märkten einhergehe, ist eine moderne Legende. Wenn man allerdings die Ursprünge des neoliberalen Konzepts genau analysiert und die Texte derer liest, die sich selbst als Neoliberale bezeichnen, wird deutlich: Neoliberalismus ist das Gegenteil vom unkontrollierten Markt und Laissez-faire-Liberalismus. Während die Theorie des Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts davon ausgeht, dass der Markt von allein zum gesellschaftlich optimalen Ergebnis kommt, [2] wird im Neoliberalismus angenommen, dass es einen starken Staat braucht, der einen freien Markt und Wettbewerb ermöglicht.[3]
Neoliberalismus, so viel steht fest, ist eines der umstrittensten polit-ökonomischen Konzepte der letzten Jahrzehnte. Während sich Anfang des 20. Jahrhunderts einige Intellektuelle noch selbst als Neoliberale bezeichneten, ist dies heute selten der Fall. Der Begriff wird mittlerweile einerseits als politischer Kampfbegriff verwendet und stellt andererseits eine wertvolle Analysekategorie in den Sozialwissenschaften dar. Was bedeutet also Neoliberalismus?
Die Entstehung einer Idee
Der Begriff taucht zum ersten Mal 1938 in Paris auf, als der US-amerikanische Journalist Walter Lippman Ökonomen, Soziologen, Journalisten und Führungskräfte aus der Wirtschaft – alles Männer – einlud, um die Erneuerung des Liberalismus zu diskutieren.[4] Im klassischen Liberalismus, dessen wichtigste Vertreter:innen unter anderem die Ökonomen Adam Smith und David Ricardo sind, wird ein sich selbst regulierender Markt propagiert. Der Staat soll im Liberalismus lediglich Eigentum und eine gewisse staatliche Ordnung sichern.[5] Im neuen Liberalismus, dem Neoliberalismus, wird dagegen ein starker Staat gefordert, der aktiv Märkte schafft und für Wettbewerb sorgt.[6]
Fast zehn Jahre später, 1947, diskutierten führende Intellektuelle, darunter viele Teilnehmer des Lippman Colloquiums, erneut die Zukunft des Liberalismus, dieses Mal auf Einladung des Ökonomen Friedrich August von Hayek in der Nähe des Schweizer Berges Mont-Pèlerin.[7] In Anbetracht eines immer stärker werdenden wirtschaftspolitischen Keynesianismus in Westeuropa und den USA sollte der Liberalismus aus seinem Nischendasein wieder ins Zentrum der Debatte gerückt werden.[8] Keynesianismus ist in erster Linie durch die Vorstellung geprägt, dass der Staat für Vollbeschäftigung sorgen und eine Wirtschaft durch hohen Konsum angekurbelt werden muss.[9] Allerdings war den Teilnehmer:innen bewusst: Um den Keynesianismus und sozialistisch-planwirtschaftliche Ideen einzudämmen, reichte es nicht, auf die liberalen Ideen von Adam Smith und David Ricardo zurückzugreifen. Es brauchte etwas Neues: Den Neoliberalismus.[10]
Hayek wurde zum ersten Vorsitzenden der neu gegründeten Mont-Pèlerin-Society (MPS) gewählt. Die MPS gilt als die entscheidende Institution, welche die neoliberale Idee in ihrer Entstehungsphase geprägt und verbreitet hat.[11] Auch wenn die Mitglieder der MPS gemeinsame Grundannahmen teilten und nach Mirowski alle als neoliberal bezeichnet werden können, ist es doch wichtig zu erwähnen, dass es auch innerhalb der MPS viele Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen gab. Mirowski beschreibt die MPS als einen Debattierclub, in dem sich gleichgesinnte Intellektuelle und Unternehmer:innen unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit “über die Konturen einer zukünftigen, vom klassischen Liberalismus abweichenden Bewegungen”[12] austauschen konnten. Die MPS unterhielt enge Verbindungen zu verschiedenen Universitäten, wie dem ökonomischen und juristischen Institut der University of Chicago, der London School of Economics oder der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Freiburg. Außerdem wurden von MPS-Mitgliedern verschiedene Stiftungen gegründet, wie der Volker Fund, die Earhart Foundation oder die Bradley Foundation. Neben Stiftungen wurden zusätzlich Think-Tanks geschaffen, um neoliberale Ideen global zu verbreiten.[13] Think-Tanks sind Denkfabriken, die versuchen, über Beratungen und Publikationen die Politik und öffentliche Meinung zu beeinflussen. Von besonderer Bedeutung war hier die Atlas Economic Research Foundation, die nach eigenen Angaben rund 500 marktliberale Think-Tanks weltweit unterstützt.[14] Die MPS besteht bis heute.
Anfangs bezeichneten sich viele Anhänger:innen der MPS noch selbst als Neoliberale, wie z.B. Milton Friedman und Alexander Rüstow.[15] Obwohl die Ideen der MPS einen signifikanten Einfluss auf das politische Geschehen hatten, vermeiden ihre Mitglieder seit den 1960ern den Begriff Neoliberalismus. Mirowski zufolge liegt dies zum Teil daran, dass es keine inhaltlich vorgegebene Programmatik gibt, sondern viele unterschiedliche Interpretationen des Begriffs. [16] Dies hat zur Folge, dass der Begriff in erster Linie von Kritiker:innen neoliberaler Politik genutzt und polemisch instrumentalisiert wird, woraus sich eine verschwommene und ungenaue Definition von Neoliberalismus ergibt. Zusätzlich wird eine klare Definition dadurch erschwert, dass es verschiedene Strömungen innerhalb des Neoliberalismus gibt. [17] Dazu gehören die Chicago School um Milton Friedman, die Freiburger Schule um Walter Eucken und die Geneva School.
Kernelemente neoliberalen Denkens
Neoliberalismus ist eine politische Idee, mit der eine auf Wettbewerb basierende Gesellschaftsordnung angestrebt wird.[18] Der Markt ist nach neoliberaler Vorstellung so komplex, dass ihn kein Mensch und erst recht nicht der Staat überblicken kann. Die Verteilung und Produktion von Gütern sowie die Festlegung von Preisen darf deshalb nicht durch den Staat beeinflusst werden. Ein gesellschaftlich optimales Ergebnis kann nach neoliberaler Vorstellung nur dann erreicht werden, wenn Preise sich durch Wettbewerb bilden. Hinsichtlich der Aufgabe des Staates war Hayek überzeugt, dass die Kombination aus Gesetzen und Preisen das Wirtschaftsgeschehen effizient bestimmen kann. “Wenn es einen adäquaten Gesetzesrahmen gibt, können wir den Markt effizient für uns denken lassen”[19], fasst Slobodian Hayeks Position zusammen. Statt also wie im Laissez-faire-Liberalismus dem Markt die gesellschaftliche Entwicklung zu überlassen, wird im Neoliberalismus ständige staatliche Intervention und Wachsamkeit gefordert, um einen institutionellen Rahmen zu schaffen, der einen freien Markt und Wettbewerb ermöglicht.[20] Menschen agieren dabei als Kund:innen und Unternehmer:innen, die sich zum einen den staatlichen Gesetzen und zum anderen den aus dem Wettbewerb resultierenden Preisen fügen müssen.
Der Staat spielt damit eine essenzielle Rolle im Neoliberalismus, auch wenn Planwirtschaft und ein starker Sozialstaat mit allen Mitteln verhindert werden sollen.[21] Zum Beispiel soll der Staat die Akzeptanz und Stabilität der Währung garantieren oder durch Gesetze Privateigentum sichern, zur Not mit Hilfe des Militärs und der Polizei. Darüber hinaus soll der Staat dort, wo noch keine Märkte existieren, welche schaffen. Boden, Bildung, Wasser- und Gesundheitsversorgung oder Sozialversicherung – all das soll mit Hilfe des Staates kommerzialisiert und damit einer Markt- und Profitlogik unterworfen werden. Aus einem einmal geschaffenen Markt soll sich der Staat dann aber heraushalten.[22] Die Privatisierung staatlicher Unternehmen und der Daseinsvorsorge ist also ein weiteres Kernelement neoliberaler Politik.[23] Der Wohlstand der Menschen wird dadurch gefördert, dass sie die ökonomische Freiheit besitzen, als Konsument:innen und Produzent:innen auf einem durch den Staat geschützten freien Markt zu agieren.[24] Ökonomische Ungleichheit ist nach neoliberaler Vorstellung eine Motivation, sich auf dem Markt zu beweisen und damit eine Triebkraft für Fortschritt.[25] Es wird deutlich: Neoliberale sind also ganz und gar nicht Befürworter:innen eines schwachen Staates, allerdings sehr wohl eines schwachen Wohlfahrtsstaates.[26]
Ein staatlicher Rahmen für Wettbewerb
Dem Historiker und Ökonomen Mirowski zufolge ist das Hauptziel des Neoliberalismus die Schaffung einer guten Gesellschaft (good society), in der Freiheit den höchsten Wert darstellt. Diese Freiheit drückt sich darin aus, dass Menschen durch die Teilnahme am Marktgeschehen ihr Potential voll ausschöpfen können.[27] Die Freiheit wird durch eine vom Staat konstruierte Wettbewerbsordnung sichergestellt. Diese Wettbewerbsordnung soll wirtschaftliche Stabilität sichern und Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung verhindern.[28] Allerdings ist das diffuse Ziel einer guten Gesellschaft im Neoliberalismus deutlich weniger präsent als der angestrebte Weg dahin. Die Schaffung eines staatlichen Rahmens, der Wettbewerb ermöglicht, steht im Vordergrund.
Gerade für den juristischen Kontext ist die Forderung nach starken Institutionen und Gesetzen, die Wettbewerb garantieren sollen, von Bedeutung.[29] Slobodian spricht von einer zunehmenden Verrechtlichung, oder auch “juridicization” des Welthandels.[30] Ein gutes Beispiel für diese Regulierung sind internationale Handelsabkommen wie CETA, das die Wettbewerbsregeln zwischen der Europäischen Union (EU) und Kanada auf ungefähr 1600 Seiten neu definiert und durch staatliche Aktivitäten einen großen transatlantischen Markt schafft. Das Funktionieren von Märkten wird so zur Maßgabe für die Gestaltung von Politikmaßnahmen. Zum anderen ist es für den politischen Diskurs wichtig zu verstehen, dass neoliberale Politik nicht dem Markt allein das Geschehen überlassen will. Besonders in Krisenzeiten, beispielsweise während der Finanzkrise 2008, forderten Neoliberale staatliche Eingriffe zur Erhaltung der Wirtschaftsstruktur, um nach der Krise wieder zu Unternehmertum und Wettbewerb zurückzukehren. Der Neoliberalismus benötigt damit einen starken Staat, um sich selbst zu erhalten.
Neoliberale Ideen sind so tief in das wirtschaftspolitische Bewusstsein eingesickert, dass ein Ende des Neoliberalismus kaum in Sicht ist. Das zeigt sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Zum einen geht auf akademischer Ebene die an den meisten Universitäten dominierende neoklassische Wirtschaftstheorie mit der politischen Idee des Neoliberalismus Hand in Hand.[31] Zwar sind die beiden Strömungen nicht deckungsgleich und das Verhältnis zueinander ist immer noch Gegenstand kontroverser Diskussionen, jedoch zeigen sich eine Reihe von Überschneidungen und gegenseitiger Prägung.[32] Da Wirtschaftswissenschaftler:innen aus dem ökonomischen Mainstream unter anderem als Expert:innen für die mediale Berichterstattung herangezogen werden, ist dies von besonderer Bedeutung.[33] Darüber hinaus prägen Think-Tanks die öffentliche Debatte. Prominente neoliberale Beispiele sind das Cato Institute (USA), das Institute for Economic Affairs (UK) und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (DE). Neben neoliberalen Ökonom:innen und Think-Tanks haben global agierende Organisationen, wie der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank (WB) und die Welthandelsorganisation (WTO) zur Etablierung eines neoliberalen Paradigmas beigetragen.[34] Auch wenn sich über einen langsamen Wandel dieser Institutionen durchaus diskutieren lässt, ist es beispielsweise weiterhin das erklärte Ziel der WTO, durch internationale Handelsbestimmungen freie Märkte zu schaffen,[35] auf denen Konsument:innen die Vorteile von Wettbewerb genießen können.[36]
Soziale Marktwirtschaft als deutscher Neoliberalismus
In Deutschland wird oft in die angelsächsische Welt geschaut, wenn es um Neoliberalismus geht. Speziell die Wahl von Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA wird als neoliberaler “Durchbruch” gesehen.[37] Doch auch Deutschland trug entscheidend zum Siegeszug des Neoliberalismus bei. Hier gibt es eine ganz eigene Spielart des Neoliberalismus – den Ordoliberalismus – der gedanklich bis in die 1920er Jahre zurückreicht.[38] Nach dem zweiten Weltkrieg bildete sich der Ordoliberalismus (ordo (lt.) = Ordnung) sowie das damit verbundene Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als wichtiges wirtschaftspolitisches Paradigma heraus.[39] Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Definition des Begriffs “Soziale Marktwirtschaft” stark gewandelt. Was ursprünglich mit dem Begriff gemeint war, wird besonders in einem Zitat von Ludwig Erhard, dem Wirtschaftsminister der Nachkriegsjahre sowie “Vater der sozialen Marktwirtschaft” und des “deutschen Wirtschaftswunders” deutlich. Dieser soll zu Hayek gesagt haben: “Ich hoffe, dass Sie mich nicht missverstehen, wenn ich von einer Sozialen Marktwirtschaft spreche. Ich meine damit, dass die Marktwirtschaft als solche sozial ist, nicht, dass sie sozial gemacht werden muss”[40]. Der ursprüngliche Anspruch der ordoliberalen Sozialen Marktwirtschaft ist damit nicht, die Nachteile von Wettbewerb, wie plötzliche Arbeitslosigkeit, durch staatliche Unterstützung aufzufangen oder gar für Umverteilung zu sorgen. Stattdessen wird angenommen, dass, wenn alle Menschen sich frei innerhalb eines auf Wettbewerb basierenden Marktes bewegen können, es zum sozial optimalen Ergebnis kommt. Der Staat hat also die Aufgabe, den Rahmen für Wettbewerb zu setzen, nicht aber direkt ins Wirtschaftsgeschehen einzugreifen[41] und nicht für sozialen Ausgleich zu sorgen, denn bei maximal möglicher Freiheit bringt das Gesamtsystem “automatisch soziale Resultate“[42] hervor.[43]
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Erhard in seiner Amtszeit von einem großen Netzwerk aus Großindustriellen und Intellektuellen profitierte, das er während der Zeit des Nationalsozialismus aufgebaut hatte.[44] Weiterhin muss bei dem Begriff des deutschen Wirtschaftswunders Vorsicht walten. Dabei handelt es sich weder um eine ausschließlich “deutsche” wirtschaftliche Entwicklung noch um ein “Wunder”. In vielen europäischen Ländern haben unabhängig von der vorherrschenden Wirtschaftspolitik zum selben Zeitpunkt ähnliche wirtschaftliche Entwicklungen stattgefunden. Die personellen und institutionellen Kontinuitäten aus dem Dritten Reich wurden durch die Soziale Marktwirtschaft und das mit ihr assoziierte Wirtschaftswunder in den Hintergrund gedrängt.[45]
In den 1960er Jahren gab es in Deutschland eine kurze Phase, in der nicht ordoliberale, sondern keynesianische Ideen dominant in der Wirtschaftspolitik waren und der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft weiter verwendet wurde. Plötzlich wurde also Keynesianismus, das Gegenteil von Ordo- und Neoliberalismus, mit Sozialer Marktwirtschaft verbunden, was bis heute zu begrifflichen Verwirrungen führt. Im Gegensatz zur heutigen ordoliberalen Sozialen Marktwirtschaft äußerte sich diese kurze keynesianische Epoche unter anderem durch den Aufbau eines umfangreichen Sozial- und Wohlfahrtsstaates sowie der vermehrten Einführung von Mitbestimmungsrechten für Arbeitnehmer:innen.[46] Dieses kurze wirtschaftspolitische Intermezzo bröckelte allerdings bereits in den 1970ern wieder.[47] Unter der Regierung von Helmut Kohl (1982-1998) gab es öffentlich bereits eine große Sympathie für ordoliberale Ideen, die unter der der folgenden rot-grünen Bundesregierung 1998-2005 zum erneuten Durchbruch gelangten.[48] 1999 erschien das Blair-Schröder-Papier, das eine starke ordoliberale Prägung aufweist. In dem Papier heißt es: “Rahmenbedingungen, unter denen ein einwandfreies Spiel der Marktkräfte möglich ist, [sind] entscheidend für wirtschaftlichen Erfolg und eine Vorbedingung für eine erfolgreichere Beschäftigungspolitik“[49]. Das bekannteste Beispiel für ordoliberale Reformen in Deutschland ist die Agenda 2010. Auch wenn der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft über die Zeit unterschiedlich definiert wurde, ist diese untrennbar mit ordoliberalen Ideen verflochten.
Kein Ende in Sicht
Inwiefern die Corona-Krise tatsächlich das Ende des Neoliberalismus einläutet, ist fraglich. Sicher ist nur, dass der Neoliberalismus in der Vergangenheit erstaunlich krisenfest war. Ursachen dafür sind, dass der Begriff sich schwer greifen lässt, Neoliberale sich kaum selbst als solche bezeichnen und es vielfältige Kontroversen innerhalb des neoliberalen Denkens gibt. So wird beispielsweise die EU von vielen Seiten als neoliberale Institution deklariert und gleichzeitig finden sich unter Neoliberalen auch Vorkämpfer des Brexit und national-konservative sowie rechtsextreme Positionen. Einige der Führungsmitglieder der AfD sind beispielsweise Mitglieder der Friedrich A. von Hayek Gesellschaft.[50] Somit zeigt sich, dass neben dem Staatsverständnis im Neoliberalismus noch viele weitere Bereiche existieren, die eine differenzierte Analyse erfordern. Dazu gehören unter anderem die Beziehung zwischen Neoliberalismus und Nationalismus, das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie und das Zusammenspiel von Wissenschaft und politischen Ideen.
Der Umstand, dass es besonders nach Krisen nicht zu einer Abkehr vom Neoliberalismus kommt, hängt laut Mirowski maßgeblich damit zusammen, dass ihn viele Kritiker:innen nicht richtig definieren.[51] In der Corona-Krise beispielsweise forderte die Lufthansa, mit öffentlichen Geldern gerettet zu werden, ohne dass der Staat direkt in das operative Geschäft eingreift. Passend dazu äußerte sich Wirtschaftsminister Peter Altmaier: “Der Staat sollte sich da raushalten, er ist kein guter Unternehmer. Das unternehmerische Risiko trägt nach wie vor die Lufthansa”.[52] Ein starker Staat hat nach neoliberaler Vorstellung die Aufgabe, in Zeiten der Krise private Unternehmen zu erhalten und eine Wettbewerbsordnung wiederherzustellen. Es soll aber keine staatliche Regulierung, Kontrolle, Mitspracherechte oder gar Verstaatlichung geben, denn der Staat ist nach neoliberaler Vorstellung kein guter Unternehmer. Die Forderung nach einer staatlichen Rettung ohne staatliche Kontrolle kann damit nicht als Scheitern des Neoliberalismus bezeichnet werden, sondern ist Teil der neoliberalen Idee.
Eine stabile Wettbewerbsordnung kann im Neoliberalismus nur durch Gesetze Bestand haben, die Eigentum und freie Märkte schützen. Damit fällt dem Rechtssystem eine essenzielle Rolle zu. Dies ist sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene von Bedeutung. Die Festlegung eines juristischen Rahmens für Wettbewerb zeigt sich sowohl in den Verträgen von Freihandelsabkommen als auch in global agierenden Institutionen wie der WTO. Für eine zielgenaue Kritik ist die Erkenntnis wichtig, dass die vermeintlich neoliberale Forderung nach einem schwachen Staat ein Mythos ist und der Neoliberalismus stattdessen auf einen starken staatlichen Rahmen und Institutionen angewiesen ist. Fest steht: Neoliberalismus ist nicht nur ein Kampfbegriff. Neoliberalismus ist eine Analysekategorie, die ermöglicht, historische und aktuelle Entwicklung differenziert einzuordnen. Im Zuge der Corona-Krise sollte also die Frage gestellt werden, ob es sich wirklich um den letzten Sargnagel des Neoliberalismus handelt oder der Neoliberalismus wie schon so oft gestärkt aus Krisenzeiten hervorgeht.
Literaturempfehlung
Philip Mirowski und Dieter Plehwe. The road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought
Collective. London: Harvard University Press, 2009.
Quinn Slobodian. Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism. Cambridge
Massachusetts: Harvard University Press, 2018.
Dieter Plehwe, Quinn Slobodian und Philip Mirowski. Nine lives of neoliberalism. Brooklyn, NY:
Verso, 2020.
[1] DPA, Corona-Krise ist letzter Sargnagel für den Neoliberalismus, FAZ, 30.04.2020 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diw-chef-fratzscher-corona-zeigt-staerke-des-staats-16748469.html (Stand aller Links: 14.06.2020).
[2] Quinn Slobodian, Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, Cambridge Massachusetts, Harvard University Press, 2018, 2.
[3] Philip Mirowski, Postface: Defining Neoliberalism, in: Philip Mirowski/
Dieter Plehwe, The road from Mont Pèlerin – The Making of the Neoliberal
Thought Collective, 2009, 434.
[4] Thomas Biebricher, Sovereignty, Norms, and exception in Neoliberalism., Qui Parle: Critical Humanities and Social Sciences, 2014, 23/1, 80.
[5] Manfred Steger und Ravi Roy, Neoliberalism: a very short introduction, 2010, 3.
[6] Walter Otto Ötsch/ Stephan Pühringer/ Katrin Hirte, Netzwerke des Marktes:
Ordoliberalismus als politische Ökonomie, 2018, 127.
[7] Quinn Slobodian (Fn. 2), 4.
[8] Thomas Biebricher (Fn. 4), 81.
[9] Harold James, International monetary cooperation since Bretton Woods, 1996, 31.
[10] Thomas Biebricher (Fn. 4), 81.
[11] Philip Mirowski und Dieter Plehwe.,The road from Mont Pèlerin – The Making of the Neoliberal Thought Collective, 2009, 4.
[12] Philip Mirowski, Untote leben länger – Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist, 2015, 49.
[13] ebd., 51.
[14] Atlas Network, 2020, https://www.atlasnetwork.org/about/our-story.
[15] Philip Mirowski (Fn. 12), 38.
[16] ebd., 244-245.
[17] Thomas Biebricher (Fn. 4), 77-79.
[18] Quinn Slobodian / Dieter Plehwe, Introduction, in: Dieter PlehweIn, Quinn Slobodian / Philip Mirowski, Nine Lives of Neoliberalism,
2020, 6.
[19] Quinn Slobodian, The Law of the Sea of Ignorance: F. A. Hayek, Fritz Machlup, and other Neoliberals Confront the Intellectual Property Problem, in: Dieter Plehwe/ Quinn Slobodian/ Philip Mirowski, Nine Lives of Neoliberalism, 2020, 76.
[20] Quinn Slobodian, (Fn. 2), 7.
[21] Philip Mirowski (Fn. 12), 54.
[22] Friedrich Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit – Band 3, 1981, 203.
[23] Manfred Steger (Fn. 5), 14.
[24] David Harvey (Fn. 22), 10.
[25] Philip Mirowski (Fn. 12), 53-54.
[26] Thomas Biebricher (Fn. 4), 78.
[27] Philip Mirowski (Fn. 12), 66-68.
[28] Quinn Slobodian (Fn. 19), 71.
[29] Quinn Slobodian / Dieter Plehwe (Fn. 18), 6.
[30] Quinn Slobodian (Fn. 2), 6.
[31] Philip Mirowski (Fn. 12), 20.
[32] Philip Mirowski (Fn. 12), Kap. 4 & 5.
[33] Maria Rieder/ Hendrik Theine, ‘Piketty Is a Genius, but … ’: An Analysis of Journalistic Delegitimation of Thomas Piketty’s Economic Policy Proposals, Critical Discourse Studies, 2019, 16/3, 260.
[34] Nitsan Chorev/ Sarah Babb, The Crisis of Neoliberalism and the Future of International Institutions – A Comparison of the IMF and the WTO, Theory and Society, 2009, 38/5, 459.
[35] WTO, Who we are, 202,. https://www.wto.org/english/thewto_e/whatis_e/who_we_are_e.htm.
[36] WTO, What we stand for, 2020, https://www.wto.org/english/thewto_e/whatis_e/what_stand_for_e.htm.
[37] Quinn Slobodian (Fn. 2), 8.
[38] Werner Bonefeld, Freedom and the Strong State – On German Ordoliberalism, New Political Economy, 2012, 17/5, 633.
[39] Brigitte Young, German Ordoliberalism as Agenda Setter for the Euro Crisis – Myth Trumps Reality, Journal of Contemporary European Studies, 2014, 22/3, 279.
[40] Ralf Ptak, Neoliberalism in Germany – Revisiting the Ordoliberal Foundations of the Social Market Economy, in: Philip Mirowski /Dieter Plehwe, The road from Mont Pèlerin – The Making of the Neoliberal Thought Collective, 2009 ,107. Eigene Übersetzung.
[41] Jeromin Zettelmeyer, German ordo and Eurozone reform – a view from the trenches, in: Thorsten Beck/ Hans-Helmut Kotz, Ordoliberalism – A German Oddity, 156.
[42] Oliver Nachtwey, Marktsozialdemokratie, Die Transformation von SPD und Labour Party – Wiesbaden, 2009, 131.
[43] Werner Bonefeld (Fn. 38), 646.
[44] Walter Otto Ötsch/ Stephan Pühringer/ Katrin Hirte (Fn. 6), 133.
[45] Ulrike Herrmann, Die soziale Marktwirtschaft war nie sozial, Gegenblende, 2019, https://gegenblende.dgb.de/artikel/++co++b1fa5370-f009-11e9-b91b-52540088cada.
[46] Walter Otto Ötsch/ Stephan Pühringer/ Katrin Hirte (Fn. 6), 180.
[47] ebd., 197.
[48] ebd., 230.
[49] Gerhard Schröder /Tony Blair. Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten, 1999, http://www.glasnost.de/pol/schroederblair.html.
[50] Quinn Slobodian /Dieter Plehwe (Fn. 18), 7-8.
[51] Philip Mirowski (Fn. 12), 23.
[52] Stephan Stuchlik, Lufthansa bekommt Milliardenhilfe, Tagesschau, 25.05.2020. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/lufthansa-rettungspaket-regierung-101.html.