In Chile wurde Wasser während der Diktatur von Augusto Pinochet fast vollständig privatisiert. Die Wasserreserven des Landes wurden vom Allgemeingut zur Ware und der Staat hat seitdem der massiven Übernutzung durch Rohstoffkonzerne nichts entgegen zu setzen. Weil Kleinbäuer*innen kaum noch ihre Felder bewässern können, nehmen Konflikte um Wasser zu. Die anstehende Abstimmung über eine neue chilenische Verfassung bietet die Chance, Wasser wieder der Verfügungsgewalt privatwirtschaftlicher Unternehmen zu entziehen und eine gerechte Verteilung der immer knapper werdenden Ressource sicherzustellen.
Chile hat eine lange Geschichte neoliberaler Privatisierung. Während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) wurde das Land zu einem Experimentierfeld für neoliberales Wirtschaften. Eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern, die an der Universität Chicago studiert hatten und daher als „Chicago Boys“ in die Geschichte eingegangen sind, stießen wirtschaftsliberale Reformen an. Das Bildungs- und Gesundheitssystem, Strom und Wasserversorgung wurden privatisiert und müssen seitdem teuer bezahlt werden. Aufgrund des repressiven Regimes konnte sich die Bevölkerung kaum gegen die radikale Umstrukturierung wehren. Die Folgen dieser Zeit sind bis heute deutlich zu spüren: Chile ist nach Kolumbien das OECD-Land mit der größten sozialen Ungleichheit. Ein Prozent der Bevölkerung kontrolliert ein Drittel des Reichtums, während 80 Prozent der über 18-Jährigen verschuldet sind.[1] Die extreme Ungleichheit ist Ausgangspunkt der Proteste, die im Oktober 2019 mit der Erhöhung der Ticketpreise für den öffentlichen Nahverkehr begannen. Schüler*innen und Studierende gingen auf die Straße, um ihren Unmut über die hohen Lebenshaltungskosten und das Bildungssystem auszudrücken. Aufgrund der Privatisierung ist Bildung in Chile ein Luxusgut: Nur 32 Prozent der Schüler*innen besuchen eine öffentliche Schule. Der Besuch einer Privatschule kostet bis zu 800 Euro im Monat – mehr als das monatliche Einkommen vieler Chilen*innen. Die Studiengebühren liegen bei 5.000 bis 10.000 Euro im Jahr und sind damit für die meisten Menschen in Chile nur durch Aufnahme von Schulden finanzierbar. [2] Die Schüler*innen-Proteste weiteten sich schnell zu einer landesweiten Massenbewegung aus. Aus den Forderungen nach öffentlicher und kostenloser Bildung, Zugang zum Gesundheitssystem, einem gerechteren Rentensystem und Geschlechtergerechtigkeit kristallisierte sich bald der lautstark vorgetragene Wunsch nach einem neuen sozial-ökologischen Gesellschaftsvertrag und der Abschaffung der noch aus der Pinochet-Zeit stammenden Verfassung heraus. Im Rahmen der Proteste kam es immer wieder zu Ausschreitungen, auf die Militär und Polizei mit massiver Gewalt reagierten. Um die Unruhen zu beenden, kündigte die chilenische Regierung Ende 2019 schließlich an, dass die Bürger*innen durch eine Volksabstimmung im April 2020 bestimmen können, ob sie eine neue Verfassung wollen und wie diese ausgearbeitet werden soll.[3]
Privates Wasser: vom Allgemeingut zur Ware
Chile ist das einzige Land der Welt, in dem die Wasserversorgung fast vollständig privatisiert ist. 1981 verabschiedete die chilenische Militärdiktatur das Wassergesetz – den Código de Aguas. Das Gesetz definiert Wasser zwar als ein „öffentlich genutztes nationales Gut“, doch es ermöglichte dem Staat die Vergabe von kostenlosen und auf unbegrenzte Dauer gewährten Nutzungsrechten an Dritte, unabhängig vom Recht am Boden. Private Unternehmen bekamen dadurch die Möglichkeit, Wasser-Konzessionen für von indigenen Gemeinschaften genutzte Ländereien zu beantragen und diese weiter zu veräußern.[4]
Wasser wurde damit vom Allgemeingut, auf dessen hinreichende und saubere Verfügbarkeit ein menschenrechtlicher Anspruch besteht, zur ausverkäuflichen Ware. Das Recht auf Wasser wird aus dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, das in Art. 11 Abs. 1 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verankert ist, abgeleitet. Chile hat den Pakt 1978 ratifiziert und sich damit zum Schutz der darin enthaltenen Rechte verpflichtet. Die Gewährung des Rechts auf Wasser ist in Chile jedoch kaum noch möglich. Indigene Gemeinschaften stehen im Wettbewerb mit finanzstarken Unternehmen um Wasserrechte und können diesen ungleichen Kampf um das Gut, von dem ihr Überleben abhängt, nur verlieren. Die Wasserrechte konzentrieren sich heutzutage in den Händen weniger Großunternehmen aus dem Agrar- und Rohstoffsektor, von denen die Nutzung kontrolliert wird. Der Klimawandel und die Übernutzung der Ressourcen durch die Industrie verschärfen die Situation zusätzlich. Chile befindet sich auf Platz 18 der Länder weltweit mit dem höchsten Wasserstress,[5] also einem weit verbreiteten Wassermangel. Deshalb boomt die Spekulation mit Wasser: Unternehmen kaufen Wasserrechte „auf Vorrat“ und in trockenen Gebieten wird Wasser unbezahlbar.[6]
Trotz der offensichtlichen Probleme dieses Ansatzes hoben internationale Finanzakteure wie die Weltbank das chilenische Modell als Vorbild für erfolgreiche Privatisierung im Wassersektor hervor und machten entsprechende Reformen zur Kondition für Kredite.[7]
Wasserverknappung durch den „Lithiumboom“
Wie in vielen Schwellenländern spielt auch in Chile die Generierung von Einnahmen aus dem Abbau und Export von Rohstoffen eine wichtige Rolle. Die Aussicht auf schnelle Gewinne wird dabei häufig über den Schutz von Umwelt und Menschen in den Abbaugebieten gestellt. Dies sieht man sehr deutlich an den Folgen des Lithiumbooms in Argentinien, Bolivien und Chile, wo mehr als 60 Prozent der weltweiten Lithiumvorkommen in Salzseen lagern.[8] Die rasant steigende Nachfrage durch den Ausbau von „grünen“ Zukunftstechnologien wie E-Autos hat in allen drei Ländern dazu geführt, dass massenhaft neue Abbaulizenzen vergeben und bestehende Fördermengen erheblich erhöht wurden. Die Abbaugebiete sind Heimat zahlreicher indigener Gemeinschaften, die dort seit Jahrhunderten im Einklang mit der Natur leben und Landwirtschaft, Viehzucht und Salzabbau betreiben. Die Lithiumförderung ist demgegenüber sehr invasiv: Dazu werden in den Salzseen riesige Betonbecken installiert, in die das lithiumhaltige Wasser gepumpt wird und verdunstet. Dieser Prozess und der Betrieb der Industrieanlagen verbraucht sehr viel Wasser. Die Verwendung von Chemikalien bei der Weiterverarbeitung ist ein zusätzliches Umweltrisiko. Weil die Langzeitfolgen des Abbaus und die Belastungsgrenzen der Ökosysteme bislang völlig unzureichend erforscht sind, befürchten indigene Gemeinschaften in der ganzen Region, dass ihre Lebensgrundlagen unwiederbringlich zerstört werden. Dass diese Befürchtungen ernst zu nehmen sind, zeigt sich in der Region um den Atacama-Salzsee in Chile, wo schon seit mehr als 30 Jahren Lithium gefördert wird. In der extrem trockenen Region macht der Bergbau (v.a. Lithium und Kupfer) 70 Prozent des gesamten Wasserverbrauchs aus. Durch die jahrelange Übernutzung der Wasservorkommen versiegen Flüsse und Feuchtgebiete, von denen die lokalen Kleinbäuer*innen ihre Tiere und Pflanzen versorgen müssen.
Konflikte um Wasser
Das Thema Wasser ist daher zunehmend Ursache für Konflikte. Während die Kleinbäuer*innen sich in Bewässerungsgemeinschaften organisieren und versuchen, das wenige Wasser gerecht zu verteilen, agiert der lokale Lithiumproduzent – das während der Militärdiktatur privatisierte Unternehmen Sociedad Quimica Minera de Chile (SQM), dessen Hauptanteilseigner der Schwiegersohn des Ex-Diktators ist – vollkommen rücksichtslos. Das Unternehmen hortet in Trockenzeiten Wasser, manipuliert bei der Messung von Wasserständen und verbraucht mehr Wasser, als seine Konzession erlaubt.[9] Obwohl die Vorwürfe der Wasserbehörde bekannt sind, unternimmt sie bislang nichts dagegen. Es gibt daher immer wieder Proteste und Straßenblockaden von Anwohner*innen gegen SQM, die aber sowohl vom Unternehmen als auch von Regierungsseite ignoriert werden.[10]
Um auch auf Ebene des Zentralstaats wahrgenommen zu werden, beteiligen sich Aktivist*innen aus San Pedro de Atacama an den Protesten der landesweiten Bewegung Movimiento de Defensa del Agua, la Tierra y la Protección del Medioambiente (Bewegung zur Verteidigung des Wassers, der Erde und dem Schutz der Umwelt), die sich mit Slogans wie „Wasser ist keine Ware“ dafür einsetzt, dass Wasser soweit wie möglich wieder der privaten Verfügungsgewalt entzogen wird.
Tropfen auf heißen Stein
Inwieweit sich die Folgen der jahrzehntelangen Misswirtschaft des Wassers überhaupt wieder rückgängig machen lassen würden, ist fraglich. Einmal versiegte Wasserquellen können schließlich nicht einfach wieder aufgefüllt werden. Der Klimawandel wird den Wasserstress und die damit verbundenen Konflikte in Chile weiter verschärfen.
In Bezug auf die wegen der Corona-Pandemie von April auf Oktober 2020 verschobene Abstimmung über das ob und wie einer neuen chilenischen Verfassung fordern Umweltorganisationen ein grundsätzliches Umsteuern hinsichtlich des extraktivistischen Wirtschaftsmodells, eine Absicherung des Rechts auf eine gesunde Umwelt und den Schutz von Gemeingütern, allen voran des Wassers. Dazu müsse sichergestellt werden, dass Unternehmen keine zeitlich unbegrenzten Wassernutzungsrechte mehr erhalten können und der Staat zum Schutz der Güter regulierend eingreifen kann. Zusätzlich wird von indigenen Völkern gefordert, dass ihr Recht auf Selbstverwaltung in der neuen Verfassung verankert wird.[11] Es bleibt zu hoffen, dass diese Stimmen bei den anstehenden Debatten hinreichend berücksichtigt werden. Bislang sieht es allerdings so aus, als würden indigene Gemeinschaften nur unzureichend beteiligt und die Regierung, statt das Problem an der Wurzel anzupacken und notwendige sozial-ökologische Reformen einzuleiten, lieber bei den Konsument*innen ansetzen: Die chilenische Umweltministerin Carolina Schmidt startete 2019 eine Kampagne zur Reduktion des Wasserverbrauchs, die sich v.a. auf eine Verkürzung der Duschzeit auf maximal drei Minuten konzentrierte.[12] In den Ohren vieler Chilen*innen muss sich das wie blanker Hohn anhören. So absurd die Kampagne klingt, ist sie doch typisch für eine Zeit, in der die Fehler neoliberaler Politiken gerne der Bevölkerung aufgebürdet werden. Statt Unternehmen mit strengen Vorgaben zum Menschenrechts- und Umweltschutz in ihre Schranken zu verweisen, sollen wir weniger duschen, fliegen, Auto fahren und mehr bio und fair trade konsumieren, um die Welt zu retten.
[1] Sophia Boddenberg, Chile – Aufstand im Labor des Neoliberalismus, Blätter 2019 (4).
[2] Sophia Boddenberg, Die Wut auf ein ungerechtes Bildungssystem, Deutschlandfunk 2020.
[3] Wehr, Der Kampf um eine neue Verfassung in Chile, Böll-Stiftung, 2019.
[4] Sophia Boddenberg, Der chilenische Wasser-Krieg, DW März 2020, https://ceoworld.biz/2019/08/08/most-water-stressed-countries-in-the-worldfor-2019/.
[5] Die Liste ist abrufbar unter: https://ceoworld.biz/2019/08/08/most-water-stressed-countries-in-the-world-for-2019/
[6] Boddenberg (Fn. 4).
[7] Danuta Sacher, Es geht nicht nur um die Dienstleistung, Das Lateinamerika-Magazin, 2004, 281.
[8] Brot für die Welt, Das weiße Gold: Umwelt- und Sozialkonflikte um den Zukunftsrohstoff Lithium, Oktober 2018.
[9] Ibid.
[10] Ibid.
[11] Wehr (Fn. 3).
[12] Malte Seiwerth, Ein Land ohne Wasser, ND Januar 2020.