Dem normativen Wert der Authentizität kann man in persönlichen Gesprächen, Online-Diskursen oder auch überall sonst begegnen. Authentisch-sein hört sich nach der Befreiung der Individualität von gesellschaftlichen Zwangsmechanismen und einem freien Ausleben der eigenen Überzeugungen und Eigenheiten an. Ob dies jedoch wirklich über eine Aufwertung des Authentischen gelingt, bleibt mehr als fraglich.
1 – Authentizität schlägt in einen Imperativ um
Authentisch ist, wer sich von anderen abhebt ohne zu künsteln, wer »echt« ist, souverän das tut, was er oder sie möchte und nicht auf andere hört – egal wie, »Hauptsache, man macht es allen r echt.« (Lucky Strike). Du musst dich trauen, das eigene Selbst zu zeigen, »weil du etwas ganz besonderes bist« (Werthers Original). Die Zeitschrift Brigitte fasst zusammen: »Authentische Menschen sind sie selbst. Für uns heißt authentisch sein also etwas anderes als für eine Pizza, und zwar: • wir selbst sein • zu uns und unserem Verhalten stehen • selbstbestimmt handeln • eigenständige Entscheidungen treffen • unseren Werten und Überzeugungen treu bleiben.«[1]
Wenn es nach dem Jargon von Werbung und Klatschpresse geht, ist die Forderung nach Authentizität also eine Forderung nach einer frei ausgelebten Individualität. Authentizität bedeutet, nicht angepasst zu sein und sich nicht dem kulturellen Sanktionsdruck zu ergeben. Auf den ersten Blick sieht das nach einer emanzipatorischen Forderung aus. Es scheint, als hätten sich Abwertungen einzelner Subjektpositionen durch gesellschaftliche Mechanismen wie Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Fat-Shaming, Slut-Shaming usw. erledigt, wenn Authentizität einen allgemeinen gesellschaftlichen Wert zugestanden bekommt. Wer nämlich authentisch ist, also zu den eigenen Werten und sich selbst steht, und dafür anerkannt wird, kann doch nicht gleichzeitig dafür abgewertet werden.
Offensichtlich doch. Was nämlich wie ein Freiheitsgewinn aussieht und sich für manche auch so anfühlt, entpuppt sich schnell als Zwang zur Authentizität. Authentizität ist eine Forderung an Individuen, nicht an die Gesellschaft. Nicht etwa sind plötzlich jegliche Subjektpositionen geduldet oder sogar gewünscht; vielmehr muss die Individualität ständig als authentische produziert und reproduziert werden. Es macht einen Unterschied, ob Menschen einfach Eigenheiten haben oder sie diese als authentisch rahmen. Dabei wird die Authentizität vor allem als formale Rahmung der eigenen Selbstdarstellung geschätzt; welche Charaktereigenschaften sich als authentisch zeigen, ist bei weitem nicht beliebig. Daher ist es auch kein Widerspruch, wenn bei Germany’s next Topmodel die Forderung nach Authentizität und Professionalität stets gleichzeitig an die Kandidatinnen herangetragen wird. Scham, Unsicherheit oder Schüchternheit gehören nicht zum authentischen Subjekt. Zwar soll sich die authentische Person zeigen, gleichzeitig bestehen jedoch klare Vorstellungen davon, wie eine authentische personality auszusehen hat. Schon Walter Benjamin bemerkte, wie die personality ihren fauligen Warencharakter durch den Zauber der Persönlichkeit zu verdecken sucht.[2] Was Benjamin an Hollywood-Stars beobachtet, ist heute ein beinahe allgegenwärtiges Phänomen, das sicherlich durch die Möglichkeiten von Online-Medien wie Instagram, YouTube oder Facebook befördert wird, welche die Grenze zwischen Produzierenden und Rezipierenden aufweicht. Das Authentische, das als Individualität den Subjekten zukommen und damit ihre Besonderheit markieren soll, entpuppt sich als »Persönlichkeit aus dem Supermarktregal« und damit als ihr genaues Gegenteil.
Die personality wird zu einem Ideal-Subjekt, zur durchschnittlichen Bürger*in, und eben nicht zur unangepassten Individualität, die sich gegen das Immergleiche der Gesellschaft stemmt. Das Althussersche »He, Sie da!«[3], mit dem die Polizei die gesellschaftlichen Subjekte anruft und sie damit gleichzeitig ideologisch subjektiviert, erhält eine Betonung des »Sie«. Der oder die Angesprochene soll sich nicht nur der Polizei zuwenden, sondern sich auch als individuelle Persönlichkeit zu erkennen geben. Die Polizei nimmt nicht nur die Personalien auf, sondern auch die personality. Diese soll sich authentisch zeigen, ist jedoch nicht dadurch automatisch akzeptiert, sondern weiteren Subjektivierungen ausgesetzt. Die Authentizität steht damit nicht im Widerspruch zu anderen neoliberalen Werten wie Kreativität und Flexibilität, sondern befeuert diese.
2 – Das authentische Subjekt ist neoliberal
Die Authentizität ist Teil eines neoliberalen Selbstregierungssystems, das häufig als fast gleichbedeutend mit der vorherrschenden Ideologie verstanden wird. Diese Verbindung von Authentizität und Neoliberalismus sehen bereits Boltanski und Chiapellos in ihrer Analyse des Neuen Geist des Kapitalismus. Demnach wird eine neue neoliberale Phase des Kapitalismus durch eine Forderung nach mehr Authentizität eingeleitet, die sich gegen die fordistische Massenproduktion richtete. Schnell wurde jedoch klar, dass die Forderung auf ein Recht nach authentischer, individueller Selbstverwirklichung in Zwang umschlug.[4] Der Freiheitszugewinn und die Sprengung des Kapitalismus blieben aus und das Authentische ist zu einem Verkaufsargument geworden.
Erst bezieht sich die Authentizitätsforderung auf die Produkte, die identisch und ersetzbar aus der Fließbandproduktion hervorgehen. Doch war diese Kritik auch mit einer daraus folgenden Kritik an der Vermassung der Menschen verknüpft, einer Gleichmachung der Persönlichkeit, die aus dem Konsum massengefertigter Güter folgt. Als Antwort darauf ist seit längerer Zeit zu sehen, wie die Authentizität zunehmend zum Verkaufsargument wird. Personalisierte Produkte, auf denen die häufigsten Vornamen aufgedruckt sind, erwecken den Schein, dass sie auf individuelle Menschen zugeschnitten seien. Möbel und Geschirr versuchen durch die Verwendung von Echtholz und kleinen Produktionsunebenheiten zu verschleiern, dass sie Massenprodukte sind. Konsument*innen können zwischen verschiedenen Anfertigungen eines Modells auswählen, um das Produkt zu finden, »das zu ihnen passt«.
Das Subjekt wird in der »Projektbasierten Polis«, in der Arbeiter*innen sich nicht in festen Anstellungsverhältnissen befinden, sondern sich stets von Projekt zu Projekt hangeln,[5] zum unternehmerischen Selbst und verkauft auf dem Arbeitsmarkt die authentische Persönlichkeit. Im organisierten »After-Work«-Chill-Out und mittagspäuslichen Tischtennis spielen sind die Kolleg*innen sind nicht bloß Kolleg*innen, sondern auch Freund*innen, die sich von ihrer privaten Seite zeigen – in der Authentizität verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Es ist nicht mehr bloß ein professionell auftretendes Arbeiter*innensubjekt gefordert, denn unter dem Imperativ der Authentizität darf dieses Subjekt auch mit dem Ende der Arbeitszeit nicht zusammen mit dem Business-Hemd an den Haken gehängt werden. In der projektbasierten Polis bilden die Netzwerke, welche Menschen knüpfen, indem sie ihre personality auf dem Sozialmarkt feilbieten, die Währung. Nicht länger tragen sie nur ihre Arbeitskraft zu Markte; schon längst werden Arbeitnehmer*innen als Zugangspunkt zu ihren Netzwerken verstanden. Das heißt, dass ihre Sozialbeziehungen – geschäftlich und privat sind hier nicht mehr trennbar – mit ihrer Anstellung für das Unternehmen zugänglich gemacht werden sollen. Persönlichkeitsentwicklung wird zur Unternehmensführung der eigenen Ich-AG.[6]
Mit dem Authentizitätsimperativ geht eine Individualisierung von Misserfolgen einher, was vielleicht das Kernproblem des Individuums im Neoliberalismus ist. Wie schon im neoliberalen Sinnbild »Vom Tellerwäscher zum Millionär« soll die authentische personality allen zugänglich sein. Wer nicht erfolgreich ist, hat selbst schuld und muss an sich arbeiten. Die Authentizität schreibt sich in den neoliberalen Kapitalismus ein, was zur Folge hat, dass die Forderung nach Authentizität und die damit verbundene Kritik nicht länger wirksam ist. Das scheinbare Eingehen auf Forderungen macht es für kommende soziale Bewegungen schwieriger, sich zu formieren. Die gesellschaftlichen Verhältnisse versiegeln sich gegen Kritik und die für sich genommen richtige und emanzipatorische Forderung nach der Befreiung des Subjekts von Bevormundung und Zwang schlägt fehl, weil sie nicht an die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern an die in ihnen lebenden Individuen gerichtet wird.
3 – Authentizität zielt darauf, ihre eigene Produktion zu verschleiern
Hinter dem Schein der Authentizität werden gesellschaftliche Zwangsmechanismen so stark internalisiert, dass sie nicht länger gespielt oder gekünstelt werden müssen, sondern als wirklich auftreten. Das authentische Selbst ist demnach der Teil des Ichs, der genau so ist, dass er die Ansprüche und Zuschreibungen, die von Außen an es herangetragen werden erfüllt; der Widerwille dagegen wird zum »inneren Schweinehund« (Yellow Strom) oder zur »Diva« (Snickers). Flexibilität und Kreativität erscheinen so als das eigentliche Wesen des Menschen, wodurch allen, die sich überwinden und authentisch sind, diese Eigenschaften zugeschrieben werden können. Diejenigen, die unflexibel und nicht kreativ sind, verzweifeln an inneren Schranken. Ihnen fehlt die Fähigkeit, über den eigenen Schatten zu springen.
Das authentische Ich ist demnach nicht einfach da, es wird nicht bloß vorgefunden, sondern muss ständig hergestellt und nach außen gekehrt werden. Es bildet sich eine Ästhetik des Authentischen heraus, welche Verfahrensweisen zur Verschleierung ihrer Künstlichkeit kennt. Die Produktion des Authentischen muss sich stets unsichtbar machen, weil sie ja gerade vorgibt das nicht Produzierte zu sein. Das Rezept oder die Methode, also die gelernte und erprobte Weise ein Ziel zu erreichen, wird als Gegenbegriff zum Authentischen inszeniert. Die Ästhetik des Authentischen ist ein »trope of no trope«[7]; sie gibt vor, das Innere des Menschen ohne Vermittlung darzustellen.
Die Kategorie des Authentischen wiederholt die uralte und nicht haltbare Dichotomisierung von Natur und Kultur, idealisiert Natur und setzt sie mit Wahrheit gleich. Das Natürliche oder Authentische wird als ursprüngliche, eigentliche Daseinsform des menschlichen Lebens ausgewiesen; die Kultur als Verzerrung und Abkehr von der Welt, wie sie eigentlich ist. Damit sei sie das entfremdende Übel, das der natürlichen Einheit des Subjekts entgegenstünde. Natürlichkeit und Authentizität seien dagegen unveränderliche Grundbestimmungen oder Essenzen, welche noch hinter der Kultur liegen. Ihre kulturelle Produktion verbleibt im Verborgenen und sie werden als schlichtweg vorhandene Wahrheit hinter der Wahrheit aufgefasst, die es durch eine Reinigung von der kulturellen Verzerrung hervorzuwaschen gilt.
4 – Die parlamentarische Demokratie beruft sich auf authentische Subjekte
Der Vorwurf, nicht authentisch zu sein, kann besonders Politiker*innen das Genick brechen. Von ihnen wird in derzeitigen parlamentarischen Demokratien erwartet, »wirklich« für etwas zu stehen, authentisch politische Werte zu vertreten. Die Frage der Regierungsfähigkeit wird zur Frage nach der Glaubwürdigkeit und bedeutet, dass die Bürger*innen erwarten können, dass die Versprechen, welche im Wahlkampf gegeben werden, auch umgesetzt werden – oder dies zumindest versucht wird. Die authentischen Werte, welche die Politiker*innen verkörpern, sollen das Material für eine Reihe von Entscheidungen bilden, die nach dem Prinzip des Sachzwangs organisiert sind. Sich umzuentscheiden, ist nahezu unmöglich. »Authentisch« bedeutet auch hier unveränderlich. Weil die Werte als unveränderlich gelten, darf sich eine Veränderung in den Zielen der Politiker*innen nur durch eine Veränderung der Sachlage ergeben. Alles andere würde bedeuten, dass entweder der verkörperte Wert nicht aus Überzeugung, also nicht authentisch vertreten wurde, oder, dass die Politiker*innen nun, wo sie in eine Machtposition gelangt sind, ihre eigenen Werte verraten. Sich politisch überzeugen zu lassen, bedeutet also Inauthentizität, wodurch die politische Debatte sich inhaltlich entleert.
Spiegelbildlich dazu legitimieren parlamentarische Demokratien ihre Regierungsgewalt durch die authentische Zustimmung ihrer Bürger*innen. Die Durchführung als geheime Wahl, die gewährleisten soll, dass die Bürger*innen nur nach eigenem Ermessen und Gewissen abstimmen, verweist auf die Authentizität der Zustimmung. Daraus folgt auch die Abwertung der »taktischen Wahl«, die als fahrlässig und demokratiezersetzend gilt, eben weil sie nicht die »inneren Überzeugungen« der Wähler*in repräsentiert: »Das Herzblut wird verdünnt. Man spielt mit dem irgendwie aufregenden Gedanken, fremd zu gehen und sich doch treu zu bleiben.«[8] Das politische Herzblut funktioniert hier als Inneres, das durch den demokratischen Prozess freigelegt werden soll. Ähnliches geschieht in der Wahrnehmung einer Wahlentscheidung als Protest und der Vorstellung, dass sogenannte Protestwähler*innen nicht ernstgenommen werden müssten, weil sie nicht »wirklich« von ihrer Wahl überzeugt sind. All dies zeigt, dass die Wahlentscheidung nicht instrumentell sondern authentisch sein muss. Die Bürger*innen müssen selbstbestimmt eigene Entscheidungen treffen und zu ihren Werten stehen. Eine authentische politische Entscheidung ist eine Entscheidung, die nicht bloß persönliche Interessen verfolgt, sondern eine allgemeine Vorstellung des Guten und Richtigen widerspiegelt.
Wie der Rawlssche »Schleier des Nichtwissens«[9], einem Gedankenexperiment, in dem Menschen sich auf gesellschaftliche Regeln einigen, während dieser Schleier dafür sorgt, dass sie nichts über ihre eigene gesellschaftliche Position wissen, ist die parlamentarische Wahl darauf ausgelegt, die normativen Werte hinter der Alltäglichkeit der Interessen freizulegen. Die Gleichsetzung gesellschaftlicher Interessen mit dem authentischen Willen der Bürger*innen übersieht die Regierungsmechanismen, die eine Theorie der Ideologie zu klären hätte.[10] Nur durch die Leugnung einer ideologische Vergesellschaftung und der Weise, wie dadurch die Mitglieder der Gesellschaft darauf angewiesen sind, die Interessen ihrer unmittelbaren Lebensrealität zu vertreten, kann behauptet werden, dass sich hier wirkliche, individuelle Werte als authentisch zeigen.
Auch die politische Authentizität spielt demnach mit einer Rechtfertigung durch Natürlichkeit. Es ist die Vorstellung, dass wenn problematische Einflüsse (emotionale Affekte, Zwang, usw.) abgezogen werden, sich ein authentischer Wille zeigt, der von sich aus gut ist, weil er nicht beeinflusst ist. Die Authentizität hat eine normative Kraft, welche sich durch parlamentarische Wahlen hervorkehren soll und damit als Legitimation fungiert. Wiederum wird ihre Produktion dabei ausgeklammert und als bloßes Abziehen negativer Faktoren inszeniert.
5 – Authentizität erhält eine rechtspopulistische Wende
Rechtspopulistische Diskurse inszenieren sich als Stimme des Echten, des »echten Volkes« und (in Deutschland) der »echten Deutschen«. Der etablierten Medien- und Politiklandschaft wird gegenüber dieser »natürlichen und eigentlichen Wahrheit« die Rolle einer kulturellen Verblendungsmaschine zugeordnet. Dabei wird weniger auf eine Kritik der bestehenden Diskurse abgezielt, sondern versucht, durch eine Reinigung vom Kulturellen, das dahinterliegende, authentische Subjekt zu erreichen. Dieses Subjekt wird als nicht-produziertes inszeniert, als das dem ideologischen Zusammenhang entronnene. Zwar ist die Forderung nach Authentizität vor allem in den 70er-Jahren eine Forderung von Links; die rechte Opposition verfährt jedoch nicht in einer Ablehnung der Authentizität, sondern eignet sie sich an. Damit ist die Beziehung zwischen Rechtspopulismus und Neoliberalismus komplexer als die häufig wahrgenommene Opposition von zwei schlechten Alternativen, die als doppelte Front der emanzipatorischen Praxis entgegensteht.
Aus der Kritik an der Entfremdung wurde die Aufrichtung eines Ideal-Subjekts, das es gegen die Angriffe der Postmoderne zu verteidigen gilt. Die Theoretiker*innen der Postmoderne stellten das Subjekt als fragmentiertes und produziertes dar und griffen den »Essenzialismus« als die Vorstellung eines hintergründigen, natürlichen und authentischen Selbst an. Der Rechtspopulismus stellt die angeblichen Sehnsüchte des »Volks« nach nationaler Identität, autoritärer Organisation usw. dagegen. Durch die Beschwörung eines linken »Establishments«, welche die Differenz zwischen Neoliberalismus und emanzipatorischen Freiheitsforderungen einebnet, eignet sich die Rechte Nonkonformismus und Authentizität an.
Linke Identitätspolitik, die versucht die Stimme der Unterdrückten zu hören und zu stärken, ohne dabei theoretisch-normativ voreingenommen zu sein, sieht sich also mit einer Frontstellung gegen die Vereinnahmung durch die Authentizität des Neoliberalismus und des Rechtskonservatismus konfrontiert. Was diese beiden Spielarten des Authentischen vereinigt, ist, dass die negative emanzipatorische Kritik an Entfremdung und Verdeckung von Subjektpositionen in ein positives Ideal-Subjekt umgemünzt wird. Der Streit, welches nun das authentische Subjekt sei, führt in eine Sackgasse. Das Ziel der Identitätspolitik, eine Pluralität der Anerkennung verschiedener Identitäten, wird mit der Forderung der Authentizität als individueller Imperativ jedenfalls nicht erreicht, sondern rückt eher in die Ferne, weil die Fixierung des Ideal-Subjekts neue gesellschaftliche Ausschlussmechanismen erzeugt.
Authentisch sein ist nicht das bloße Herauslassen eines »echten« Inneren, sondern wird stets produziert und verschleiert damit gleichzeitig die Kontingenz dessen, was sich als authentisch zeigt. Mit diesem Hinterfragen der Authentizität soll nicht umgekehrt gesagt sein, es sei geboten, sich zu verstellen, um gesellschaftlichen Anforderungen zu genügen. Auch ist nicht jedes Aufkommen der Authentizität gleich problematisch und sie ist auch sicherlich nicht das größte Übel, das die Menschheit je gesehen hat. Das Problem besteht eher darin, dass die Authentizität in ihrer virulenten Form nicht hält, was sie verspricht. Die Befreiung von inneren und äußeren Zwängen gestaltet sich deutlich schwieriger, als die Anforderung der Authentizität vorgibt, die eher von diesem Ziel entfernt als ihm näher zu bringen. Die Bewegung vom Aufkommen zur derzeitigen Konjunktur der Authentizität zeigt abermals, wie schwierig es ist, wirksame gesellschaftliche Kritik zu üben.
Authentizität ist die Schein-Herstellung einer Letztbegründung, die sich durch das Entbergen einer angeblich inneren Wahrheit zu rechtfertigen versucht. Was in Gesprächen im Freund*innenkreis, aber auch in hippen Start-Ups bereits zum guten Ton gehört und wie eine Anerkennung des eigenen Selbst und einer Gleichberechtigung mithilfe flacher Hierarchien wirkt, ist nur eine weitere Form der Forderung eines bestimmten Ideal-Subjekts, das gesellschaftlich und auf dem Arbeitsmarkt gewünscht ist. Im Gegensatz zu Selbstoptimierungsforderungen scheint die Authentizität erst einmal kein Problem darzustellen, weil sich ja bloß zeigen soll, was ohnehin schon immer da ist. Im Gepäck trägt die Authentizität jedoch ebenjene individualisierte Optimierung, nämlich ein Ideal-Subjekt, dem sich angenähert werden soll und eine Abwertung »introvertierter« Charaktereigenschaften, von Scham, Unsicherheit und distanzierter Zurückhaltung. Auch dies zeigt einmal mehr die subjektivierende Wirkung von Authentizität, welche die Distanz zu gesellschaftlichen Praktiken grundsätzlich verdächtig erscheinen lässt; denn wer authentisch ist, macht mit.
[1] Susanne Schumann, Authentisch sein: Was es heißt, was es bringt und wie’s geht, www.brigitte.de/academy/karriere/authentisch-sein-was-es-heisst-und-wie-s-geht-11267904 (Stand: 23.4.2020).
[2] Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 2010, 45.
[3] Vgl. Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate 2016, 89.
[4] Vgl. Luc Boltanski / Ëve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus 2003, 462.
[5] Vgl. Ebenda, 161f.
[6] Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst 2016, 66.
[7] Vgl. Donna Harraway, Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan©_Meets_OncoMouse™ 1997, 138.
[8] Dieter Thomä, Wer taktisch wählt, handelt unverantwortlich, www.deutschlandfunkkultur.de/philosoph-zur-bundestagswahl-wer-taktisch-waehlt-handelt.996.de.html?dram:article_id=396515 (Stand: 20.6.2020).
[9] Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit 1979, 29.
[10] Vgl. Gayatri Chakravorti Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Patrick Williams / Laura Chrisman (Hrsg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. A Reader 1994, 66 (69).