Der französische Philosoph Grégoire Chamayou stellt in seinem Buch “Die unregierbare Gesellschaft — Eine Genealogie des autoritären Liberalismus” eine historisch-politische Entwicklung des Neoliberalismus vor. Eine Rezension mit einem juristischen Schwerpunkt, die sich insbesondere um das Arbeits- und Verfassungsrecht dreht.
Es ist unschwer zu erkennen, dass die Bezeichnung des “autoritären Liberalismus” eine Chiffre für den Neoliberalismus ist. Chamayou hat sich zum Ziel gesetzt, den Neoliberalismus zu sezieren und eine historische Aufarbeitung zu leisten. Der Autor, der in Lyon forscht, beginnt dabei mit der Epoche des Wohlfahrtsstaates, der in Kontrast zum Neoliberalismus stand und bald in einigen Ländern vollkommen demontiert werden sollte. Fundamental ist die Definition der “Regierbarkeit”, die zu Beginn (S. 8) thematisiert wird. Sie stellt für Chamayou “ein komplexes Vermögen, das zwar auf Seiten des Objekts eine Bereitschaft voraussetzt, sich regieren zu lassen, aber auch auf der anderen, der Seite des Subjekts, eine Fähigkeit zu regieren” dar.
Der Nachkriegskonsens
Das Buch ist unterteilt in sechs Teile und 26 Kapitel, wobei der sechste Teil sicherlich am spannendsten zu lesen und daher auch hier vorrangig zu besprechen ist. Der erste Teil blickt zurück auf die “aufsässigen” Arbeiter*innen, die für die Durchsetzung neoliberaler Reformen wohl als größtes Hindernis angesehen wurden. Teil II und III legen den Schwerpunkt auf die unternehmerische Seite und durchleuchten die Debatten innerhalb des Kapitallagers, wie mit der Krise der späten 60er-Jahre umzugehen sei. Teil IV zeigt bereits erste Gegenmaßnahmen, die entwickelt wurden, um etwa die Macht der Gewerkschaften zu brechen, während Teil V mit der “Kritik der politischen Ökologie” aufzeigt, wie diametral die neoliberalen und ökologischen Interessen entgegenstehen.
Im sechsten Teil “Der unregierbare Staat” analysiert der Autor nicht nur die theoretischen Ursprünge des Neoliberalismus, sondern zeigt den Weg zur neoliberalen Hegemonie. Chamayou stellt fest, dass der Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen kapitalistischen Länder eine Konjunktur hatte und neoliberale Theoretiker wie Friedrich von Hayek, Josef Schumpeter oder Ludwig von Mises in der akademischen Welt eher Außenseiter denn Tonangeber waren. Gleichwohl wurde der Wohlfahrtsstaat bis zum Zeitpunkt der aufkommenden 68er-Bewegung nicht in Frage gestellt.
Die neuen sozialen Bewegungen forderten im Zuge der 68er-Generation nicht nur weitere soziale Maßnahmen, sondern auch ihre demokratischen Rechte ein. Beispielhaft für diese neuen Bewegungen steht die Frauenbewegung sowie das Civil Rights Movement in den USA. Die neoliberalen Prediger wie Hayek oder sein Mentor von Mises kritisierten in diesem Zuge den “totalitären Charakter” der Demokratie, der ein effizientes Regierungshandeln erschweren bis verunmöglichen würde. “Die Demokratie”, so Hayek, “kann sich nur als beschränkte Demokratie erhalten. Eine unbeschränkte Demokratie zerstört sich notwendig von selbst.”[1]
Die Erschütterung des Fordismus
Zahlreiche Bewegungen und Revolutionen wie der Pariser Mai 68, die Unidad Popular unter Salvador Allende oder auch die Portugiesische Nelkenrevolution 1974 erschütterten tatsächlich nicht nur die kapitalistische Vorherrschaft, sondern warfen die Frage einer Regierbarkeit der populären Klassen auf. Der Begriff der “populären Klassen” ist dabei der französischen Soziologie entnommen, wo die “classe populaire” die “unteren” Klassen der Arbeiter*innenschaft, derArbeitslosen und der Kleinbourgeoisie bezeichnen.
Entwicklungen wie die oben genannten Bewegungen, Revolten und Revolutionen waren es, welche die Trilaterale Kommission (eine neoliberale Denkfabrik, die auch neokonservative Denker*innen wie Samuel Huntington versammelt) 1975 dazu veranlassten, einen Text herauszugeben, der für Aufregung sorgen sollte. Der Titel lautete: “Die Krise der Demokratie. Bericht über die Regierbarkeit der Demokratien.”
Der Tenor lautete, dass die sozialen und demokratischen Rechte zu weit ausgedehnt worden waren und seitens der Regierungen zu viele Zugeständnisse an die Arbeiter*innen gemacht wurden. Dabei ist wichtig zu betonen, dass keine Seite zufrieden mit dem status quo des Wohlfahrtsstaates war: weder die Unternehmen, noch die Lohnbeschäftigten. Chamayou zitiert den französischen Soziologen André Gorz: “Anders als die Begründer des Wohlfahrtsstaates annahmen, hatten die Sozialleistungen die Bevölkerung [nicht] mit der kapitalistischen Gesellschaft versöhnt. […] Die ‘Krise der Regierbarkeit’ auf der Ebene der Gesellschaften [Gorz meint die populären Klassen] wie auf der der Unternehmen machte die Hinfälligkeit eines Modells sichtbar.”[2]
Der Fordismus war in eine Sackgasse geraten. Es zeichnete sich zwar einerseits durch einen materiellen Zuwachs an Konsumgütern und Arbeitsrechten aus. Andererseits wurden aber die Arbeiter*innen in riesige Arbeitshallen gedrängt, wo sich nicht selten in Akkord und Fließbandarbeit übermäßig arbeiten mussten. Ende der 1970er-Jahre waren sich daher viele einig, dass es auf eine “offene Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie” (Gorz) oder zur “Überlastung des Systems”, zu dessen “Polarisierung und Zusammenbruch” (Huntington) führen würde.
Die Regierbarkeitskrise der Demokratien
Chamayou konstatiert in diesem Zusammenhang, dass der Widerspruch des Kapitalismus ist, dass er “weder mit dem Sozialstaat koexistieren noch ohne ihn fortbestehen kann”[3]. Zwar waren die Sozialausgaben auch dazu da, die “aufsässigen Arbeiter” zu besänftigen, aus Sicht der Neoliberalen jedoch zu einem viel zu hohen Preis.
Vor diesem Hintergrund zeichnet Chamayou sehr gekonnt nach, wie es zur neoliberalen “Lösung” kommen sollte, wobei ein wesentlicher Aspekt auf der Verfassungspolitik liegt. Sicher, in der ersten neoliberalen Machteroberung wie im Chile des Militärdiktators Augusto Pinochet war es reine Gewalt und ein Militärregime, das nicht einmal den Anspruch einer liberalen Demokratie hatte — Hayek sagte nicht umsonst, dass er einen “liberalen Diktator” einer “demokratischen Regierung ohne Liberalismus” vorziehen würde, und meinte damit allen Ernstes Pinochet (S. 286).
Zentrales Element für diese Umwälzung war demnach besonders in Ländern wie Portugal, Chile oder Großbritannien die Verfassung. Hayek sandte nicht umsonst dem portugiesischen Diktator Salazar einen Verfassungsentwurf zu oder besuchte die argentinische Militärdiktatur, um sie zu beraten (S. 306)[4]. Allgemein sollte auf verfassungsrechtlicher Ebene vor allem das Privateigentum an den Produktionsmitteln garantiert werden sowie ein ausgeglichener Haushalt, wobei das Ziel hinter Letzterem die Reduzierung der Staatsausgaben sei — in erster Linie natürlich der Sozialausgaben. Hayek spricht es offen aus: “Eine Verfassung wie die hier vorgeschlagene würde natürlich alle sozialistischen Maßnahmen für eine Umverteilung unmöglich machen.”[5].
Dabei ist zu beachten, dass mit den “sozialistischen Maßnahmen für eine Umverteilung” (Hayek) auch eine Vermögenssteuer gemeint ist, die in Deutschland seit 1997 nicht mehr erhoben wird. Die wichtigsten Gesetzesänderungen vollzogen sich außerdem auf der Ebene des Arbeitsrechts, wo die Agenda 2010 ohne großen Widerstand vollzogen wurde. Während die Streichung der Vermögenssteuer ein hervorragendes Beispiel für eine neoliberale Steuerpolitik ist,[6] ist die Lockerung des Kündigungsschutzes im Arbeitsrecht ein weiterer wesentlicher Bestandteil. Generell werden alle Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung unter Beschuss gestellt. In Deutschland kann als weiteres Beispiel die gewollte, aber missglückte Abschaffung der vollen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall dienen. Diese Auseinandersetzung wurde 1996 von der Kohl-Regierung forciert, sodass es zu einer Gesetzesänderung kam: Die Lohnfortzahlung betrug nicht mehr 100, sondern nur noch 80 Prozent des Nettolohns. Zwei Jahre später wurde diese Änderung durch die Schröder-Regierung rückgängig gemacht.
Die unregierbare Gesellschaft
Die neoliberale Umwälzung der Gesellschaft geht weiter und in Frankreich waren es letzten Winter die Renten, um die gestritten wurde. Die Rentenreform zielt im Grund darauf ab, mehr zu arbeiten (das Renteneintrittsalter wurde de facto auf 64 erhöht) und die private Altersvorsorge zu stärken; sie hatte laut Umfragen zu keiner Zeit eine Mehrheit in der Bevölkerung. Nach wochenlangen Streiks wurde die Reform nicht im Parlament abgestimmt, sondern per Dekret durchgesetzt. Dieser Rückgriff auf exekutive Verordnungen ist kennzeichnend für autoritäre Regierungsformen, da eine parlamentarische Debatte vermieden werden soll.
Ein Regieren per Dekret ist in neoliberalen Politiken nicht untypisch und hat zuletzt in Frankreich zu zahlreichen Protesten geführt. Édouard Louis, ein französischer Schriftsteller, der sich mit der Gelbwestenbewegung solidarisierte, bezeichnete die neoliberale französische Gesellschaft als „unregierbar“. Sie zeichne sich eben dadurch aus, dass die Regierung keinen politischen Rückhalt in der Bevölkerung genieße, die Demokratie eben dadurch in eine Krise geraten sei. Gramsci bezeichnete dieses demokratische Defizit, das Auseinanderfallen der Interessen Regierter und Regierender bekanntermaßen als „Zeit der Monster,” als eine Zeit des Umbruchs, in der die “alte Welt im Sterben liege, die neue jedoch noch nicht geboren ist.“[7]
Chamayous Leistung liegt darin begründet, dass er die Ursachen und Hintergründe für diesen unregierbaren Zustand durchleuchtet. Weit mehr als in dieser Rezension kann der*die Leser*in anhand des Buches die immanenten Logiken des autoritären Liberalismus nachvollziehen.
Grégoire Chamayou, Die unregierbare Gesellschaft — Eine Genealogie des autoritären Liberalismus, 2019, 32,00 € bei Suhrkamp/ Insel.
[1] Friedrich Hayek, Die Entthronung der Politik, in Daniel Frei (Hg.), Überforderte Demokratie?, 1978, 30.
[2] André Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, 1994, 263-264.
[3] Hier paraphrasiert Chamayou aus Claus Offes Zu einigen Widersprüchen des modernen Sozialstaats, 1984, 330.
[4] Auch dem chilenischen Diktator Pinochet sollte Hayek einen Verfassungsentwurf schicken, wobei die Einsetzung eines Ausnahmezustands eine besondere Rolle spielte (285).
[5] Friedrich Hayek; Recht, Gesetzgebung und Freiheit; Band 3, 1981, 203.
[6] Auch Macron strich ersatzlos die Vermögenssteuer.
[7] Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Heft 3, 1992, 354 f.