„§ 125 war seit jeher ein repressives Instrument des Staates gegen opponierende Kräfte […].“[1] Diesen Hintergrund des Tatbestands des Landfriedensbruchs sollte sich jeder bewusst machen, der über ihn schreibt und erst recht jeder, der auf seiner Grundlage Urteile fällt.
Mit dem 3. Strafrechtsreformgesetz von 1970 hatte der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des Landfriedensbruchs entscheidend eingeschränkt: nicht mehr die bloße Anwesenheit in einer unfriedlichen Menge sollte genügen, um den Tatbestand zu erfüllen. Fortan sollte nur noch bestraft werden, wer entweder selbst Gewalttätigkeiten verübt oder auf die Menge einwirkt, um sie zu solchen zu animieren. Konservative Kritiker dieser Reform haben dereinst in ihrer Kritik des Gesetzes klar erkannt, was das für die Rechtsprechung heißt: „Das bedeutet, daß alle sympathisierenden Mitläufer straflos bleiben, die durch ihre bloße Anwesenheit den Anonymitäts- und Solidarisierungseffekt der Menschenansammlung steigern.“[2] Das ist richtig und eben deshalb eine Stärkung rechtsstaatlich verfahrender Justiz. In einem Rechtsstaat gilt das Schuldprinzip: Kollektivschuld für die Taten Einzelner darf es nicht geben, auch wenn Personen sich nicht explizit von diesen distanzieren. Strafbar kann es allenfalls sein, aktive Unterstützung zu strafbaren Handlungen zu leisten.
Vor diesem Hintergrund ist es kaum nachvollziehbar, was das Hamburger Landgericht (LG) am 10.7.2020 im sogenannten „Elbchaussee-Prozess“ als Urteil (das aktuell noch nicht veröffentlicht wurde) verkündet hat. Vor Gericht standen fünf junge Männer, denen vorgeworfen wurde, sich an einer in Gewalt umgeschlagenen Versammlung im Rahmen der Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg am 7.7.2017 beteiligt zu haben. Einem Bericht des Neuen Deutschlands vom 11.07.2020 zufolge wurde den dort angeklagten Männern Landfriedensbruch und Beihilfe zur Brandstiftung vorgeworfen. Gegen zwei nach Jugendstrafrecht behandelte Angeklagte wurden 20 Arbeitsstunden verhängt und zwei weitere Männer wurden zu Haftstrafen von einem Jahr und drei Monaten sowie einem Jahr und fünf Monaten verurteilt, die jeweils zur Bewährung ausgesetzt wurden. Der fünfte Angeklagte, dem noch weitere Straftaten zur Last gelegt wurden, wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Jedenfalls den erstgenannten vier Angeklagten konnte keine Beteiligung an einer Gewalttat nachgewiesen werden. Sie betonten zudem in der Verhandlung, dass der Verlauf der Versammlung nicht ihre Intention gewesen sei und bedauerten diesen explizit. Nach Aussage ihrer Verteidigerin Gabriele Heinecke im NDR Hamburg Journal vom 10.7.2020 hätten sie sich zudem entfernt, als die Situation eskalierte, um sich zu distanzieren. Zum Verhängnis wurde ihnen die falsche Kleidungswahl: weil sie schwarz gekleidet und vermummt gewesen seien, hätten sie sich mit den verübten Gewalttaten solidarisiert.
Wer glaubt, dass die linke Vermummungsfolklore notwendig das Gutheißen von konkreten Straftaten bedeutet, ignoriert, dass es gerade solche Entscheidungen wie die hier besprochene sind, die Linke dazu bringen, sich auf Versammlungen zu vermummen. Wer bei der Teilnahme einer aus dem Ruder laufenden Versammlung ohne eine eigene Beteiligung an den verübten Straftaten damit rechnen muss, mit Haftstrafen zur Verantwortung gezogen zu werden, der wird sich aus Selbstschutz auch vermummen. Die permanente Angst, zum Opfer staatlicher Verfolgung zu werden, ist für Personen der bürgerlichen Mitte nur schwer nachzuvollziehen. Überraschend ist diese Angst jedoch kaum. Fast jeder in einem linksradikalen Umfeld kann von Erfahrungen mit polizeilicher Gewalt berichten und mittlerweile wird beinahe jede Versammlung mit Wanderkesseln und einer Armada an Videokameras begleitet. Der radikalen Linken ist zudem aufgrund schmerzlicher, historischer Erfahrungen sehr bewusst, wie schnell sich die politischen Verhältnisse von einer Demokratie zum Faschismus ändern können. Wie kann es da überraschen, dass man sich den Trägern des staatlichen Gewaltmonopols nicht offen zu erkennen geben möchte? Wer mag sich darauf verlassen, dass die AfD nicht in zwanzig Jahren in Regierungsverantwortung ist und mithilfe der staatlichen Repressionsapparate und ihrer Datenschätze Rache an ihren politischen Gegnern nimmt? Die Motivation für das Anlegen einer Vermummung kann vielfältig sein; dass sie dazu dienen soll, andere zur Begehung von Straftaten zu motivieren, ist dabei nicht die naheliegendste Option. Exemplarisch schreibt deshalb auch bereits 1984 der BGH: „Wenn sie [die Vorinstanz, ED] bei der Wertung der Bekleidung des Angekl. die Möglichkeit nicht ausschließen konnte, sie könne von ihm (allein) deshalb gewählt worden sein, um unerkannt zu bleiben, so ist dagegen von Rechts wegen nichts zu erinnern.“[3]
Es bleibt zu hoffen, dass das Urteil des LG in der Folgeinstanz aufgehoben wird. Alles andere würde das häufig versammlungsfeindliche Auftreten der Polizei weiter legitimieren. Wer Angst haben muss, bei Versammlungen verhaftet und zu Haftstrafen verurteilt zu werden, obwohl er sich nachweislich nicht an Gewalttaten beteiligt hat, geht irgendwann überhaupt nicht mehr demonstrieren. Die Versammlungsfreiheit politisch inopportuner Personen wäre dann erfolgreich zu einem von der Obrigkeit gewährten Privileg verkürzt.
[1] Heribert Ostendorf, in: Kindhäuser/Neumann/Päffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 125, Rn. 1.
[2] Ludwig Martin, Wie steht es um unseren Staatsschutz?, in: JuristenZeitung 1975, 315.
[3] BGH, Urt. v. 8.8.1984 – 3 StR 320/84 = NStZ 1984, 549.