Der 17. November 2018 war der Startschuss für die Bewegung der Gelbwesten, der Gilets Jaunes, als mehr als 500.000 Menschen an den landesweiten Aktionen teilnahmen und in ganz Frankreich in gelben Westen demonstrierten.
Der 8. Dezember 2018 ist ein Samstag und damit ein weiterer Protesttag jener Menschen, die sich drei Wochen zuvor auf den Verkehrskreiseln quer über die Republik getroffen haben, um ursprünglich gegen die geplante Erhöhung einer Kraftstoffsteuer zu protestieren. Die gelbe Weste im Auto mitzuführen ist in Frankreich Pflicht. Es ist ein Protest von Menschen, die am Ende des Monats kaum noch Geld zum (Über-)Leben haben, und weil das Auto besonders in den semiurbanen Peripherien existenziell ist, trifft gerade diese Menschen die geplante Steuererhöhung hart — dementsprechend stark ist der Protest auf dem Land, selbst in Kleinstädten, die nie zuvor solche Proteste gesehen haben.
Für Antoine Boudinet scheint sich der Kreis nun geschlossen zu haben. Der erst 27-jährige Boudinet wurde in diesem Sommer bei den französischen Kommunalwahlen in den Stadtrat von Bordeaux gewählt. Er ist einer der drei Abgeordneten der antikapitalistischen Liste “Bordeaux en Luttes” (Bordeaux im Kampf), neben dem mittlerweile entlassenen Fordarbeiter Phillippe Poutou und der Transportarbeiterin Evelyne Cervantes. Boudinets Einzug in den Stadtrat ist nicht nur deswegen so besonders, weil er auf einer kleinen linksradikalen Liste gewählt wurde und zum ersten Mal für ein öffentliches Amt antrat. Es ist das Kleidungsstück, mit dem Boudinet in den Stadtrat einzog und das viel über seine persönliche wie die politische Geschichte des Landes aussagt: eine gelbe Weste.
Allerdings ist das Tragen einer gelben Weste nicht immer erwünscht, besonders nicht als politisches Symbol auf einer Versammlung. Am 12. September 2020 wurde sogar eine Person aufgrund des Tragens einer solchen Weste verhaftet, weil sie damit auf den Champs-Élysées demonstrieren wollte, was von der Polizeipräfektur (die dem Innenministerium untersteht) verboten wurde. An diesem Tag kam es seit Beginn der Covid-19-Pandemie wieder zu Mobilisierungen, aber sie waren längst nicht mehr so impulsiv und dynamisch wie noch knapp zwei Jahre zuvor.
Der Donnerschlag gegen Jupiter
Als Antoine Boudinet in Bordeaux an jenem 8. Dezember 2018 an den Protesten teilnimmt, befindet sich die Bewegung auf dem Höhepunkt: Das ganze Land ist wie elektrisiert von der Militanz der Proteste, überall sind die Verkehrsinseln besetzt, auf dem Champs-Élysées in Paris finden seit drei Wochen heftige Straßenschlachten zwischen Gelbwesten und der Polizei statt. Besonders das letzte Wochenende war von einer nie zuvor gesehenen Gewalt gekennzeichnet. Über 10.000 Tränengasgranten wurden von der Polizei eingesetzt, um die sehr kämpferischen Proteste in den Griff zu bekommen. Vergebens, denn teilweise hatte die Polizei tatsächlich die Kontrolle über Teile der Hauptstadt verloren. Die Bilder von den Kämpfen am Triumphbogen sollten um die Welt gehen. Nicht nur marxistische Intellektuelle wie Juan Chingo sprachen von “Elementen einer vorrevolutionären Situation”[1], selbst die konservative Tageszeitung Die Welt[2] sagte Staatspräsident Emmanuel Macron angesichts “allgemeiner Kapitalismuskritik und vorrevolutionärer Stimmung” ein Scheitern voraus.
Dabei sind die Gelbwesten-Proteste gerade am Anfang sehr heterogen und werden selbst von der rechtsextremen Marine Le Pen und faschistischen Gruppen unterstützt. Diese sehen die Bewegung als Sprungbrett an, schaffen es aber nicht, sie für sich zu vereinnahmen und so erklärt Le Pen schon Anfang Dezember, dass die Demonstrationen aufgrund der Gefahr für den französischen Staat aufhören müssten. Linken, antifaschistischen Kräften gelingt es im Laufe der Bewegung immer mehr, zusammen mit klassenkämpferischen Arbeiter*innen und dem antirassistischen Komitee für Adama Traoré (er wurde mit 24 Jahren am 19. Juli 2016 in einem Pariser Vorort von der Polizei ermordet), die Rechten aus der Bewegung zu verdrängen und die sozialen Forderungen in den Vordergrund zu rücken. Die Gewerkschaften selbst zeigen sich zu Beginn der Proteste distanziert und werden erst nach einigen Wochen erstmalig am 5. Februar 2019 zusammen mit den Gelbwesten zu einem von ihnen schwach organisierten und nur eintägigen Generalstreik aufrufen.
Den Scheitelpunkt der Bewegung stellt gleichzeitig die juristische wie politische Intensivierung der Repression dar: Konnten die Gilets Jaunes in den Samstagen zuvor trotz eines Verbotes die Champs-Élysées als Demostrecke nutzen, so ist das VIII. Arrondissement (einer der reichsten Pariser Bezirke) nun zu einer Festung ausgebaut, die niemand mehr betreten darf. Die Staatsgewalt greift durch und sie lässt es die Gelbwesten spüren: 1082 Verhaftungen gab es alleine in Paris, die meisten davon geschahen präventiv aufgrund einer vermeintlichen “Passivbewaffnung”, deren rechtliche Ausgestaltung der deutschen ähnelt[3]. Das Symbol im Kampf gegen die Repression stellten die 147 verhafteten Schüler*innen in Mantes-la-Jolie dar, die mit den Händen auf dem Kopf und kniend rund zwei Stunden von der Polizei festgehalten wurden. Diese Geste sollte schnell von den Gelbwesten übernommen werden.
Alle im Land verfügbaren Polizeikräfte waren an diesem Tag mobilisiert, ganze 89.000! Während der französische Staat Emmanuel Macron für den Fall der Fälle einen Hubschrauber im Élysées-Palast bereitstellte, konnte er am Ende des Tages ein wenig aufatmen, da die Lage in Paris selbst vergleichsweise ruhig blieb. In Städten wie Toulouse oder Bordeaux dagegen gab es heftige Straßenkämpfe, in der die Polizei auch verstärkt Gummigeschosse und Sprenggranaten mit 25 g TNT einsetzte. In Bordeaux sollte einer dieser Granaten den damals 25-jährigen Antoine Boudinet treffen und seine rechte Hand komplett wegsprengen.
Juristische Eskalation
Fortan sollte die Repression auf den Demonstrationen der Gelbwesten eine große Rolle spielen. Die angesprochene “Passivbewaffnung” ist in Frankreich besonders heikel, da die Polizei bei nahezu jeder Demonstration Tränengas einsetzt und selbst eine Taucherbrille oder eine Atemmaske zum Schutz nun ein Grund für eine in der Regel 48-stündige Gewahrsamnahme sein kann. Die Teilnahme an der Demonstration, die immer samstags stattfindet, wird dadurch unmöglich gemacht. Der “schönste Boulevard der Welt”, die Champs-Élysées, wurde zur Sperrzone erklärt, auf dem alle Demonstrationen bis heute verboten sind — nur einmal konnten die Gilets Jaunes dieses Verbot durchbrechen: Am 16. März 2019 kam es zur letzten großen Auseinandersetzung mit der Polizei, die über mehrere Stunden ging und die zur Folge hatte, dass beim nächsten Mal selbst das Militär zum Schutz öffentlicher Gebäude eingesetzt wurde.
Wer fortan noch auf der mit Luxusboutiquen überfüllten Paradestraße demonstrieren wollte, machte sich strafbar und wurde verhaftet. Besonders bekannte öffentliche Figuren wie Jerome Rodrigues oder Eric Drouet wurden immer wieder als “Rädelsführer” und “Organisatoren einer nicht erklärten Demonstration” festgenommen. Ähnlich wie in Deutschland müssen nun alle Versammlungen bei der Polizeipräfektur (und nicht wie hier bei der Versammlungsbehörde) angemeldet werden, die darüber entscheidet, ob und wie sie stattfinden dürfen. Das französische Versammlungsrecht ist aber im Vergleich nun nicht nur restriktiver, sondern wird auch härter umgesetzt, indem zum Beispiel gewünschte Demo-Routen viel einfacher untersagt werden können.
Eine verheerende Bilanz
Der Einsatz von Sondereinheiten wie der BAC (Brigade Anti-Criminalité) oder der neu geschaffenen Motorradstaffel BRAV (Brigades de répression de l’action violente motorisées) sollte nun zur Gewohnheit werden, wobei die Sprenggranaten zusammen mit den Gummigeschossen die gefährlichsten sogenannten nicht-letalen Waffen darstellen. Die BAC wurde zu Beginn der 90er-Jahre kreiert und wird vor allem in den Banlieues gegen die migrantischen Jugendlichen eingesetzt. Sie sind zumeist in Zivil unterwegs und gehören zu den härtesten Einheiten. Obwohl sie nicht für Demonstrationszwecke geschult sind, kommen sie regelmäßig wie Schocktruppen zum Einsatz und sind für einen überwiegenden Teil der Verletzungen verantwortlich, weil sie extensiv die Gummigeschosse einsetzen.
Während die Polizei geradezu Straffreiheit genießt, ist die Bilanz der Repression gegen die Gelbwesten hart: Rund 400 Gilets Jaunes sind ein Jahr nach Beginn der Proteste nach einem Gerichtsurteil in Haft, in 600 Fällen liegt eine Verurteilung, aber noch kein Einweisungsbefehl vor, 1.236 Menschen wurden auf Bewährung, 919 zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Insgesamt gab es also über 3000 Verurteilungen und rund 12.100 Verhaftungen[4]. Eine Person ist aufgrund einer Tränengasgranate gestorben, weitere elf Menschen im Zuge von Verkehrsunfällen bei den Straßenblockaden. Mehr als 4.900 Verletzte sind zu beklagen, wobei die Dunkelziffer sicherlich viel höher liegt[5]. Die interne Dienstaufsicht IGPN, die auch die “Polizei der Polizei” genannt, eröffnete hingegen nur 212 Verfahren, von denen rund drei Viertel schon wieder eingestellt wurden. Nur zwei Polizisten wurden verurteilt.
Anhaltende Repression
Spätestens als nach den Unruhen am 16. März der Pariser Polizeipräfekt entlassen und durch den Hardliner Didier Lallement ersetzt wurde, ist jede Demonstration in Frankreich eine potenzielle Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der Teilnehmenden. Nicht nur der Tränengaseinsatz ist üblich geworden, sondern auch die Einkesselung der Demonstrationen. Selbst die angemeldeten routinistischen Demonstrationen der Gewerkschaften sind Ziel der Angriffe, die am 1. Mai 2019 sogar den CGT-Vorsitzenden Phillippe Martinez trafen, was unerhört war, weil die CGT (Confédération générale du travail) mit ihrem Sicherheitsdienst für die Demos gewöhnlich mit der Polizei (selbst gegen den autonomen Black Block) kooperiert. Während die Autonomen zum Beispiel versuchen, von der (immer wieder gleichen) Demo-Route abzuweichen, pochen die Gewerkschaften auf die Einhaltungen aller Auflagen, was zu einem angespannten Verhältnis zwischen den beiden geführt hat.
Auch Demonstrationen werden immer öfter auf Grund von Sicherheitsbedenken verboten, so Mitte Juli dieses Jahres in Rennes, obwohl die Zahl der Gelbwesten stark gesunken ist. Die Präfekturen führen dabei immer wieder an, dass aus den Versammlungen heraus Straftaten zu erwarten seien. Auf der anderen Seite ist eine beispiellose Heuchelei seitens der Polizeipräfekturen zu sehen, da die Versammlungen der Polizist*innen selbst unbehelligt bleiben und das, obwohl die Policiers en colère, die “wütenden Polizisten”, wie die demonstrierenden Einsatzkräfte genannt werden, offensichtlich rechtswidrig handeln, weil es ihnen untersagt ist, bewaffnet und in Uniform zu demonstrieren. Der Grund für die Demonstration ist, dass die Polizei auch weiterhin Methoden der Strangulierung bei der Verhaftung verwenden möchte, obwohl nach dem Mord an George Floyd überlegt wurde, diese Methode zu verbieten.
Druck von rechts
Die rechtsextreme Polizei”gewerkschaft” Alliance organisiert immer wieder unangemeldete Demos, bei denen die Polizist*innen in Uniform und Streifenwagen protestieren, obwohl dies in Frankreich verboten ist. Ende Mai sorgte eine Kundgebung dieser Polizist*innen für einen handfesten Skandal, als bewaffnete Polizist*innen sogar eine Radiostation blockierten — freilich, ohne dass es dafür Konsequenzen gab, weil “die Organisatoren dieser unangemeldeten Demo nicht aufgefunden werden konnten”, so die bizarre Begründung von Didier Lallement.
Ähnlich wie die Gewerkschaft der Polizei (GdP – Mitglied im Deutschen Gewerkschaftsbund) oder die DPolG (Deutsche Polizeigewerkschaft – Mitglied im DBB Beamtenbund und Tarifunion) verstehen sich die Polizeigewerkschaften als rechte Hardliner, die mehr Mittel und bessere Bezahlung für die Einsatzkräfte fordern. In ihrem Ton gibt es allerdings Unterschiede: Während die rechtsextreme Alliance Police National sehr militant und hetzerisch auftritt, ist der Ton der Polizeigewerkschaften innerhalb der großen Gewerkschaften CGT und FO gemäßigter. Diese Sektionen der CGT und FO marschieren auch bei den großen Demonstrationen gegen die Rentenreform mit, während Alliance eigenständige Demos organisiert. Allen diesen “Gewerkschaften” zu eigen ist die Tatsache, dass der dauerhafte Einsatz der Polizei gegen soziale Bewegung zu einem enormen Verschleiß geführt hat, sodass sich die Suizide unter den Polizist*innen erhöht haben. Die Rate pro 100.000 Einwohner*innen ist unter ihnen rund doppelt so hoch. Im Jahr 2019 gab es 54 Suizidfälle, während in der Bevölkerung etwa 14 Suizidfälle pro 100.000 Einwohner*innen existieren.[6]
Die Macron-Regierung stellt zwar immer mehr Personal und Mittel zur Verfügung, vermag aber das strukturelle Problem nicht zu lösen. Umso mehr versucht sie die Polizei auf ihre Seite zu ziehen, indem sie den Polizeigewerkschaften Narrenfreiheit gewährt. Selbst auf den Champs-Élysées durfte die Polizei als einzige Gruppe demonstrieren, aber auch hier blieben sie unbehelligt, während die Proteste der Gelbwesten mit Sicherheit im Nebel des Tränengases untergegangen wären. Antoine Boudinet jedenfalls will die Forderungen der Gelbwesten im Stadtrat von Bordeaux stark machen und demonstriert auch weiterhin an der Seite der Gilets Jaunes. Vielleicht bleibt es also wie bei einem französischen Sprichwort, wenn wir auf die Gilets Jaunes zurückblicken:
Rien n’a changé et pourtant tout n’est plus pareil — Nichts hat sich geändert und trotzdem ist nichts mehr, wie es war.
Literaturempfehlungen:
Guillaume Paoli, Soziale Gelbsucht, 2019.
Peter Wahl (Hg.), Gilets Jaunes: Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung, 2019.
Luisa Michel, Wir sollten uns vertrauen. Der Aufstand in gelben Westen, 2019.
[1] Juan Chingo, Gilets Jaunes — Le Soulévement, 2019, S. 67.
[2] Martina Meister, Wie Macron Frankreich retten will – und warum er scheitern wird, https://www.welt.de/politik/ausland/article187064224/Gelbwesten-in-Frankreich-Warum-Macron-scheitern-wird.html (Stand aller Links: 16.11.2020).
[3] Laura Herbster, Vom Verbot, sich zu schützen, Forum Recht 2020, https://www.forum-recht-online.de/wp/?p=1858#.
[4] Valentine Arama, Un an de Gilets jaunes : l’heure du bilan judiciaire, Le Point 2019, https://www.lepoint.fr/justice/un-an-de-gilets-jaunes-l-heure-du-bilan-judiciaire-14-11-2019-2347359_2386.php#.
[5] Siehe Peter Wahl (Hg.), Gilets Jaunes — Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung, 2019, S. 52.
[6] Siehe Fabien Leboucq, Combien de policiers et de gendarmes se sont suicidés au cours des dernières années?, Liberation 2019 (Stand 08.11.2020).