Bei der letzten Landtagswahl haben 27,5% der sächsischen Wähler*innen (fast 600.000 Menschen) für die rechtsradikale AfD gestimmt. 32,1% haben sich für eine CDU entschieden, die vor Ort in der Tradition eines Kurt Biedenkopf steht, der die Sächs*innen laut einer Aussage aus dem Jahr 2000 für “immun gegen Rechtsextremismus” hielt. Exemplarisch weigerte sich Michael Kretschmer, der heutige CDU-Ministerpräsident des Freistaats, angesichts eines Angriffs einer Gruppe Nazihools auf zwei Afghanen und ihre Begleiterin bei einer Demo in Chemnitz von einem “Mob” oder einer “Hetzjagd” zu reden.[1] (Als sei der Begriff hierbei die entscheidende Information.)
Dagegen zeigt man sich in Sachsen beim Vorgehen gegen Linke ausgesprochen motiviert. Im November letzten Jahres wurde gar eine eigene Sonderkommission mit dem vielsagenden Namen “SoKo LinX” ins Leben gerufen, die exklusiv Straftaten mit linker Motivation ermitteln soll. Mit geballter Ermittlungskompetenz hat diese jedoch wenig zu tun, wie einige Beispiele zeigen.
Nach einer Reihe von Brandanschlägen in Leipzig und einem Angriff auf eine Immobilienmaklerin, hatte die Arbeit der SoKo vor einigen Monaten zur Festnahme von zwei Tatverdächtigen geführt. Die Beweislage ist aber, wie die taz berichtet, bestenfalls dünn. Einer der beiden Männer habe sich im Internet kritisch über eine der angegriffenen Baufirmen geäußert, deren Inhaber mit AfD-Parteispenden in Verbindung gebracht wird. Das hat scheinbar für eine Hausdurchsuchung bei ihm und seinem Mitbewohner genügt. Bei dieser sollen zwei Polizeihunde – zehn Monate nach der Tat – den Geruch eines verwendeten Brandsatzes erschnuppert haben. Beide Männer wurden in Untersuchungshaft genommen. Mittlerweile wurden die Haftbefehle wieder aufgehoben; die Beweislage war zu dünn. In einem anderen Verfahren wegen eines Angriffs auf mehrere Neonazis hatte die SoKo neun Wohnungen durchsuchen lassen, ebenfalls auf einer ausgesprochen dünnen Indizienlage. Zwei der Durchsuchungen wurden mittlerweile vom Landgericht Leipzig für rechtswidrig erklärt.
Ebenfalls die SoKo LinX war es, die einen öffentlichen Fahndungsaufruf gegen Gegner*innen der Leipziger Querdenker-Demo am 7. Juli 2020 gestartet hatte. Dabei geht es um verschiedene Tatgeschehen: ein angezündetes Auto, einen mit Flaschen und Steinen beworfenen Polizeiposten, ein angemaltes Wohnhaus und einen ebenfalls mit Steinen und Flaschen beworfenen Bus, der auf dem Rückweg von der Demo war – zweifellos schwere Tatvorwürfe. Bezeichnend ist jedoch, dass es gleichzeitig keinerlei Fahndungsaufrufe gegen die Coronaleugner*innen gab, die am selben Tag in Leipzig demonstriert und dabei kräftig über die Stränge geschlagen hatten. Vielmehr wurde das Verhalten der „Querdenker“, in deren Reihen Rechtsradikale jedenfalls eine wesentliche Rolle spielen, nachträglich politisch relativiert.
Anders als angekündigt kamen nicht 16000 Teilnehmer*innen nach Leipzig, sondern laut dem Twitter-Account der Forschungsgruppe “Durchgezählt” an der Uni Leipzig 45000, ein großer Teil davon ohne Masken und ohne den Mindestabstand einzuhalten. Auf verschiedenen Videos in den sozialen Medien ließ sich beobachten, wie militante Neonazis und aufgebrachte Bürger*innen in trauter Einigkeit Polizeiketten durchbrachen, Polizeibeamte mit Pyrotechnik beschossen und Journalist*innen verprügelten. In einer Pressemitteilung vom 8.11. bilanziert die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (DJU), dass mindestens 38 Kolleg*innen an der Arbeit gehindert wurden, neun davon durch die Polizei selbst.
Die Reaktionen auf den Tag schwankten zwischen Leugnen und gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Polizei, Politik und Justiz. Die dabei kommunizierte Botschaft lautet zusammengefasst, keiner habe mit so einer Entwicklung rechnen können und die Polizei sei von der Situation völlig überrascht worden. Der sächsische Innenminister verstieg sich auf einer Pressekonferenz gar zu der Aussage, die Anwendung von unmittelbarem Zwang sei nicht angebracht gewesen, denn es habe sich um eine friedliche Versammlung gehandelt. Die Absurdität dieser Einschätzung zeigt sich anhand der Bilder von physischen Angriffen auf Polizeibeamt*innen und Journalist*innen und dem massenhaften Bruch von Regelungen, die Leib und Leben der Bevölkerung schützen sollen. Weniger Skrupel beim Einsatz von Gewalt hatte man wenige Stunden später, als die Polizei mit mehreren Wasserwerfern und ausreichenden Einsatzkräften in den linken Stadtteil Connewitz einrückte, um die Straße von Linken freizukärchern.
Dass sich in Sachsen derart stark auf linke Straftaten konzentriert wird und rechte Umtriebe konsequent geleugnet oder heruntergespielt werden, ist angesichts der politischen Zustände dort erschreckend und folgerichtig zugleich. Wer aber glaubt, dass Doppelstandards im Umgang mit Links und Rechts ein exklusiv sächsisches Problem seien, irrt. Das Missverhältnis erscheint zwar dort angesichts einer starken gesellschaftlichen Rechten, die längst die politische Mitte verschoben hat und in Behörden und Justiz eingesickert ist, besonders groß. Doch auch anderswo besteht ein verzerrtes Bild hinsichtlich der Gefahren, die von Links- und Rechtsradikalen ausgehen. Sachsen liefert uns lediglich ein besonders anschauliches Beispiel, wo es hinführt, wenn man über Jahrzehnte die Gefahren ignoriert, die von einer erstarkenden radikalen Rechten ausgehen.
[1] Heike Kleffner, Straflos in Chemnitz, in: Austermann/Fischer-Lescano/Kaleck u.a, Recht gegen Rechts Report 2020, 295-303, 295 f.