Am 4. Oktober 2020 wurde ein 26-jähriger Jude vor einer Hamburger Synagoge mit einem Klappspaten angegriffen, als dieser die Synagoge verließ. Der Angreifer trug bei der Tat Militärkleidung und führte in seiner Hosentasche einen Zettel mit einem gezeichneten Hakenkreuz bei sich. Dennoch geht die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft bei der Tat nicht von einem antisemitischen Motiv aus, weil der Täter psychisch krank sei.
Damit reiht sich der Fall in ein fragwürdiges Narrativ ein, das psychische Krankheit und antisemitische und rechtsradikale Einstellungen als Gegensatz zu konstruieren versucht. Auch die Täter von München, Hanau und Halle wurden vielfach als psychisch krank bezeichnet, woraus oft abgeleitet wurde, ihre Taten seien nicht politische, sondern ihrem persönlichen Wahn geschuldet.
Hierin liegt jedoch ein Fehlschluss: psychische Krankheit und rechtsradikale Motive schließen sich keineswegs aus. Gerade beim Antisemitismus ist eine solche Annahme fragwürdig. Die ohnehin fragile Gegenüberstellung von Pathologie und Normalität versagt bei irrationalen Projektionen wie dem Antisemitismus, die an latente Ressentimentstrukturen in der Gesellschaft anknüpfen und diese radikalisieren. Die psychischen Dispositionen wahnhafter Antisemit*innen entstehen nicht im luftleeren Raum: “Der explizit wahnhafte Charakter des Ressentiments kommt einerseits da ‚lärmend‘ zum Vorschein, wo sich Einzelne mit einer imaginären Massenbewegung identifizieren, sich als deren Vorhut sehen und im Namen der schweigenden oder noch kommenden Masse Gewalt in Wort und Tat ausüben. Diese Einzelkämpfer und Kleingruppen, die sich durchaus auf latente Tendenzen in der Mehrheitsgesellschaft berufen können, werden aber von dieser als Einzelphänomen abgetan und pathologisiert.”[1]
Antisemitismus und psychische Krankheit als Gegensatz zu behandeln, personalisiert und entpolitisiert den kollektiven Wahn des Antisemitismus.
[1] Markus Brunner, Vom Ressentiment zum Massenwahn. Eine Einführung in die Sozialpsychologie des Antisemitismus und die Grenzen psychoanalytischer Erkenntnis, in: Busch/Gehrlein/Uhlig (Hg.): Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus, 2016, 32 f.